Temu: Das ist der neueste Herausforderer von Shein und Amazon – und er wächst schnell

Der chinesische Marktplatz ist aktuell die am häufigsten heruntergeladene Shopping App in den USA

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Kaufen wir in China hergestellte Produkte künftig immer seltener unter dem Label hiesiger Marken bei lokalen Händler*innen oder auf westlichen Online-Marktplätzen, sondern bekommen sie von chinesischen Unternehmen direkt aus dem Reich der Mitte geliefert? Der Erfolg des chinesischen Ultra-Fast-Fashion Anbieters Shein lässt offenbar viele andere chinesische Unternehmen genau von einer solchen Entwicklung träumen. Nun schickt sich mit Temu ein weiterer Ultra-Billig-Anbieter an, die westliche Welt zu erobern. Neue Nutzer*innen lockt er mit Geschenken und sogar Bargeld. OMR hat hinter die Kulissen geblickt.

Kabellose Ohrhörer von Lenovo für 8,50 US-Dollar. Eine dunkelgrüne Thermoskanne für 2,80 US-Dollar, die an die von Stanley erinnert (deren Preis eher im Bereich von 40 US-Dollar liegt). Eine Digitalkamera für Kinder für knapp 14 US-Dollar. Und natürlich Bekleidung: Eine Skinny-Jeans für 14,50 US-Dollar. Ein Jogginghosen-Kapuzenpulli-Set für knapp 16 US-Dollar. Sneaker, deren Design offensichtlich von einem 180-US-Dollar-Modell von Kanye Wests auslaufender Marke Yeezy abgekupftert ist, für nicht einmal 12 US-Dollar. – Das sind aktuell die Bestseller auf dem aus China stammenden und in die USA liefernden Online-Marktplatz Temu.

Die aktuell angeblich meistverkauften Produkte auf Temu.com (Screenshot)

Die aktuell angeblich meistverkauften Produkte auf Temu.com (Screenshot)

Der Mutterkonzern ist 114 Milliarden US-Dollar schwer

Hinter Temu steht der 2015 gegründete chinesische E-Commerce-Konzern Pinduoduo (hier im Porträt bei OMR). Der ist mit so genannten Gruppenverkäufen groß geworden. Dabei werden Produkte zu zwei Preisen angeboten: einem Einzelverkaufspreis und einem niedrigeren Preis, der freigeschaltet wird, wenn sich eine bestimmte Zahl an Käufer*innen zusammengefunden hat. Auf diese Weise soll Pinduoduo auch stark über den Messenger Wechat gewachsen sein, weil die Nutzer*innen über Nachrichten an ihren Freundeskreis versucht haben, weitere Käufer*innen zu gewinnen, um weniger zahlen zu müssen. Hinzu kommen weitere Gamification-Elemente, Gutscheine und Casual Games, die die Nutzer*innen zurück in die App führen und zum Kaufen verleiten sollen.

900 Millionen Nutzer*innen verzeichnete Pinduoduo nach eigenen Angaben zuletzt, denen die Produkte von mehr als elf Millionen Händler*innen und Marken gegenüberstehen. Im Jahr 2021 erwirtschaftete das Unternehmen 14,7 Milliarden US-Dollar Umsatz und 2,2 Milliarden US-Dollar Gewinn. An der Börse ist Pinduoduo aktuell mit 114 Milliarden US-Dollar bewertet.

Preiskampf und hohe Investitionen ins Marketing

Seit wenigen Monaten versucht sich Pinduoduo nun an der Internationalisierung. Mit der Schwestermarke Temu ist der Konzern im September in den USA gestartet. Dabei sucht er offenbar den offenen Preiskampf. Beobachtungen des chinesischen Tech-Blogs 36KR zufolge (hier die Übersetzung mit Google Translate) sollen Temus Preise beim diesjährigen Black Friday bei zehn bis 20 Prozent der Preise von Amazon sowie bei 30 bis 60 Prozent der Preise vom chinesischen Fast-Fashion-Anbieter Shein gelegen haben. Ein iPhone-Hülle, die bei Amazon für knapp 17 US-Dollar verkauften worden sein soll, soll so bei Temu für nicht einmal zwei US-Dollar erhältlich gewesen sein.

Doch nicht über die niedrigen Preise versucht Temu Kund*innen zu gewinnen; der Marktplatz investiert offenbar auch in großem Stil ins Marketing. Zum einen ins Influencer Marketing: So lassen sich auf Tiktok unter dem Hashtag #temu diverse „Haul-Videos“ finden, von denen einige sechs- bis siebenstellige Plays verzeichnen (und die auch Konkurrent Shein erfolgreich und in einem noch viel größeren Maßstab einsetzt). Zum anderen ist Temu auch im Performance Marketing aktiv: Laut dem App-Statistik-Tool Appfigures soll Temu in den USA in Apples App Store zu mehr als 1.700 Keywords Suchanzeigen gebucht haben.

„Verkauf mir Deine Freunde gegen Geld“

Der vielleicht größte Hebel dürfte jedoch ein Referral-Programm sein, in dessen Rahmen die Teilnehmer*innen kostenlose Produkte oder sogar Bargeld erhalten, wenn sie neue Temu-Nutzer*innen gewinnen. Zumindest am Anfang hat der Marktplatz offenbar Bargeld ausgelobt: Wer eine bestimmte Anzahl von Bekannten zu Temu eingeladen hat, hat 20 US-Dollar erhalten (die Freunde haben dabei auch jeweils einen Coupon im Wert von fünf US-Dollar erhalten). Auf Youtube und Tiktok lassen sich diverse Videos von Nutzer*innen finden, die damit prahlen, dass sie auf diese Weise drei- bis vierstellige Beträge generiert hätten. Die Videos dienen vermutlich auch dazu, Aufmerksamkeit und neue Referrals für die Ersteller der Videos zu generieren. Denn wenn die Zuschauenden mittels deren persönlichen Nummer zu dem Belohnungsprogramm stoßen (in der Hoffnung, ebenfalls Geld verdienen zu können), erhalten sie ebenfalls eine Vergütung.

Mit der Zeit hat Temu das Programm offenbar um Gamification-Elemente erweitert. Zeitweise gehörten dazu beispielsweise virtuelle Münzen und ein Glücksrad, über das bestimmt wurde, wie viele virtuelle Münzen die Teilnehmer*innen für neu akquirierte Nutzer*innen erhalten, wie diverse Videos belegen. Aktuell führt der Marktplatz offenbar ein Spiel um einen virtuellen Fisch in einem Aquarium durch, bei dem die Teilnehmer*innen eine tägliche Aufgabe erledigen und drei neue Nutzer*innen einladen müssen, um den Fisch „füttern“ zu können.

Kommt man so an die Schnäppchenjäger heran?

Diese Programme sind nicht über die reguläre Benutzeroberfläche der Temu-App auffindbar, sondern erst nach Eingabe entsprechender Suchbegriffe (wie „fishland“) oder über Referral-Links oder -Nummern. Ein offenes Programm ist jedoch über das Profil der Nutzer*innen erreichbar: Bei diesem müssen die Teilnehmer*innen vorab ein kostenloses Geschenk auswählen und werden dann darüber informiert, wie viele Nutzer*innen sie einladen müssen, um den Artikel gratis zu erhalten. Laut einem Bericht des chinesischsprachigen Mediums Cailan Press (hier eine englischsprachige Zusammenfassung von „Technode“) von Anfang November erwägt Pinduoduo außerdem, das Prinzip der „Incentivized Referrals“ („Schick eine Nachricht an Deine Freunde und der Preis sinkt“) auch auf Temu zu übertragen (das deutet auch der Zusatz „Team up, price down“ auf der App-Store-Seite an).

Wie nachhaltig solche Methoden zur Gewinnung von wirklich kaufwilligen Nutzer*innen sind, wird sich erst über einen längeren Zeitraum hinweg zeigen müssen. Schließlich dürften darüber zunächst einmal viele Menschen bei Temu landen, die nicht Produkte kaufen, sondern Geld verdienen wollen. Immerhin dürfte die Schnittmenge zwischen jenen, die es für vergleichsweise wenig Geld in Kauf nehmen, ihre Freunde und Bekannten zu nerven, und jenen, die beim Kaufen besonders preissensibel sind, relativ groß sein.

Eine halbe Milliarde GMV in vier Monaten?

Dass die Methode zumindest kurzfristig quantitativ funktioniert, belegen Temus App Chart Rankings und Download-Zahlen. Der Marktplatz ist erst Anfang September in den USA gestartet. Am 1. November war die App erstmals auf Platz 1 der Shopping Apps im App Store, knapp zwei Wochen später war sie sogar kategorieübergreifend die am häufigsten heruntergeladene App. Aktuell liegt sie übergreifend und im Shopping-Bereich jeweils auf dem zweiten Rang. 14,3 Millionen Downloads sollen die iOS- und Android-Version laut dem App-Statistik-Tool Appfigures in Summe bislang verzeichnen.

Die Entwicklung der iOS-Download-Zahlen von Temu seit dem Start

Pinduoduo sei in Sachen Internationalisierung noch in einem „frühen Forschungsstadium“, antwortete CEO Chen Lei wenig auskunftsfreudig beim jüngsten Earnings Call (hier ein Transkript) auf die Frage einer Analystin. Das muss nicht heißen, dass die Ambitionen des Konzerns nicht groß sind. Laut der chinesischsprachigen Late Post (Google Translate) will Temu demnächst nach Kanada und Spanien expandieren.

Shein soll bereits 100 Milliarden US-Dollar wert sein

Noch bemerkenswerter: Der chinesische Tech-Blog 36KR (Google Translate) will von mehreren unabhängigen Quellen erfahren haben, dass Pinduoduo für Temu ein Marktplatzvolumen zwischen 300 und 500 Millionen US-Dollar im Jahr 2022 angepeilt habe. Im kommenden Jahr soll das Volumen auf drei Milliarden US-Dollar und innerhalb der kommenden fünf Jahre auf 30 Milliarden US-Dollar gesteigert werden. Das wäre so viel, wie der Konkurrent Shein in diesem Jahr angeblich an Außenumsatz generiert.

Shein hat laut einem Bericht des Wall Street Journal im April eine erneute Funding-Runde abgeschlossen, in deren Rahmen das Unternehmen mit 100 Milliarden US-Dollar bewertet worden sein soll. Damit wäre der Konzern mehr wert, als die Fast-Fashion-Konkurrenten Inditex (u.a. Zara) und H&M in Summe. Shein ist damit erfolgreich geworden, Modetrends und gefragte Stücke schnell zu identifizieren und zu kopieren (hier die OMR-Analyse aus dem Juni 2021). Die Produktion findet dabei „datenbasiert“ statt: Das Unternehmen bringt angeblich täglich 700 bis 1.000 neue Produkte in den eigenen Shop und testet mit kleinen Stückzahlen, wie gut sich diese verkaufen. Erfolgreiche Stücke werden dann in China Masse produziert. Hinzu kommen hohe Investitionen ins Influencer Marketing. Zuletzt war aus dem Unternehmen von Plänen für einen Marktplatz (bisher verkauft das Unternehmen selbst) zu hören.

Wish als warnendes Beispiel

Shein dürfte damit die erfolgreichste chinesische E-Commerce-Firma in der westlichen Welt sein. Zuvor hatte das US-Unternehmen Contextlogic mit dem Marktplatz Wish versucht, eine Art Benutzeroberfläche für chinesische Händler und „die Werkbank der westlichen Welt“ zu schaffen. Weil das Unternehmen Logistikprobleme und vor allem die Qualitätskontrolle nie in den Griff bekommen hat, ist es zum Meme geworden und an der Börse abgestürzt. Aktuell beträgt die Marktkapitalisierung 440 Millionen US-Dollar, nachdem das Unternehmen von der Börse einmal mit mehr als 18 Milliarden US-Dollar bewertet worden ist.

Auf Amazons Marktplatz ist in den vergangenen Jahren der Anteil an chinesischen Verkäufer*innen immer weiter gestiegen, bis der Konzern im Herbst 2021 angeblich 600 chinesische Marken und 3.000 Händler*innen-Konten wegen gefälschten Bewertungen gesperrt hat. Das Vorgehen soll Medienberichten zufolge viele weitere chinesische Händler*innen dazu veranlasst haben, Amazons Plattform zu verlassen. Das Marktplatz-Analyse-Tool Marketplace Pulse behauptet jedoch, dass (zumindest anhand der Zahl der Bewertungen gemessen) die Zahl der chinesischen Händler*innen auf Amazon nach wie vor wachse.

Tiktok, Alibaba und Cider wollen ein Stück vom Shein-Kuchen

Unbestritten ist, dass Sheins Erfolg diverse Nachahmer auf den Flur gerufen hat, die das Modell kopieren wollen. Zuletzt war auch von der aus China stammenden Plattform Tiktok Gerüchte zu hören, laut denen diese in den USA einen eigenen E-Commerce-Marktplatz aufbauen wolle. In den vergangenen zwei Jahren waren andere E-Commerce-Projekte von Tiktok jedoch immer wieder ins Stocken geraten. Beim Aufstieg von Shein war die Haul-Videos auf Tiktok einer der entscheidenden Faktoren.

In Europa expandiert unterdes der türkischstämmige Marktplatz Trendyol und kopiert dabei das Marketing-Playbook von Shein. Seit 2018 ist Trendyol mehrheitlich im Besitz der chinesischen Alibaba Group. Die hat vor wenigen Tagen in Spanien auch die E-Commerce-Plattform Miravia gelauncht, deren Konzept ebenfalls an Shein erinnert. Ein weiterer Shein-Herausforderer ist das Hong Konger Unternehmen Cider, in das einige der renommiertesten US-VC-Firmen investiert haben (die Bewertung soll schon bei über einer Milliarde US-Dollar liegen), und das schon mehrere Millionen Downloads verzeichnet (hier das OMR-Porträt).

Wie nachhaltig kann Ultra Fast Fashion sein?

Falls sie weiter wachsen, müssen sich vermutlich auch die Herausforderer jenen Fragen stellen, die sich Shein schon zunehmend stellen muss. Beispielsweise: Wie nachhaltig und umweltverträglich kann es sein, Kleidung zu noch günstigeren Preisen als H&M und Zara zu verkaufen – Kleidung, die auch aus mangelnder Qualität vermutlich nach kurzer Zeit weggeworfen wird. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace erklärte gerade in Shein-Kleidungsstücken Chemikalien gefunden zu haben, die zum Teil die erlaubte Menge überschritten haben. Der britische TV-Sender Channel 4 berichtete außerdem von menschenunwürdigen Arbeitbedingungen: So sollen in zwei Fabriken von Shein-Zulieferern Angestellte in 18-Stunden-Schichten schuften und dabei weniger als vier Cent pro fertiggestelltem Kleidungsstück erhalten.

Abseits des nahezu unlösbar erscheinenden Konflikts zwischen Hyperkonsum und Nachhaltigkeit scheint Shein das Problem mit Qualitätskontrolle und der (im Vergleich mit hiesigen Marktplätzen) längeren (und nicht immer verlässlichen) Lieferzeiten, zumindest einigermaßen in den Griff bekommen zu haben. Herausforderer Temu scheint hier noch Luft nach oben zu haben: Auf dem Bewertungsprofil vom Temu bei Trustpilot haben mehr als ein Drittel der Bewertenden nur einen Stern vergeben; einige Kund*innen berichten von langen Lieferzeiten, ausbleibenden Bestellungen oder schlechtem Service.

Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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