Poparazzi: Mit Testflight, Tiktok und Pre-Orders „aus dem Nichts“ zur nächsten Hype App

500.000 User hatten die App vorinstalliert, nun soll sie schon 135 Millionen US-Dollar wert sein

Das Grundprinzip von Poparazzi
So erklären die Poparazzi-Macher auf ihrer Website das Prinzip der App (GIF: OMR)

Eine neue Social Media App schießt einen Tag nach Veröffentlichung in 22 Ländern auf Platz 1 von Apples App Store (in Deutschland, wegen der hohen Download-Zahlen der Luca App, auf Platz zwei): Poparazzi ist gerade die „App du jour“ unter digitalaffinen Mitgliedern der Gen Z. Aber kommt dieser Erfolg wirklich so aus dem Nichts? OMR erklärt das Funktionsprinzip von Poparazzi und zeigt, wie die Macher u.a. etablierte Mechanismen aus der Musikindustrie genutzt haben, um ihre App schon vor dem Launch auf Hit zu programmieren.

Der „Anti Selfie Selfie Club“ – so bezeichnen die Macher von Poparazzi ihre App selbst. Poparazzi ist eine App zum Fotos schießen und mit anderen Nutzenden teilen (und bislang nur für iOS verfügbar). Der Twist: Auf ihrem eigenen Profil können Nutzende keine Selfies teilen, sondern nur jeweils andere können Fotos des jeweiligen Nutzers oder der Nutzerin auf deren Profil posten (die sie wie ein „Paparazzi“ von ihnen geschossen haben). Auf diese Weise soll der Druck von den Usern genommen werden, nur „perfekte Momente“ mit den Followern zu teilen. Sollte die Inhaberin oder der Inhaber eines Accounts mit einem Foto unglücklich sein, kann er oder sie dieses auch löschen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, das eigene Konto auf privat zu stellen, so dass nur bestimmte Leute dort Fotos posten können.

Eine Mischung aus Facebook und Dispo

Poparazzi mischt damit mehrere Social-App-Konzepte durcheinander, mit denen andere Plattformen schon einmal erfolgreich gewesen waren. Fotos sowie vor allem die Möglichkeit, andere Nutzende in diesen zu markieren, waren für Facebook vor einigen Jahren ein sehr wichtiger Wachstums- und Nutzungstreiber. Schon seit 2013 gibt es auf der Plattform außerdem „Shared Photo Albums“.

Poparazzi wandelt aber auch auf ähnlichen Pfaden wie die App Dispo (von „Disposable Camera“, zu deutsch Einwegkamera), die im Februar 2021 in vielen Ländern in die Top 10 der App Charts vorgedrungen war. Die Dispo-Macher wollen das Erlebnis digitalisieren, das Wegwerfkameras auf Parties bieten: Alle Gäste knipsen über den Abend verteilt mit mehreren Kameras Fotos von allen Anwesenden; das Ergebnis ist dann erst mit Verzögerung erhältlich. Hinter der App stand bis vor Kurzem u.a. David Dobrik, einer bekanntesten und reichweitenstärksten Creator der USA. Seitdem Dobrik in einen Vergewaltigungsskandal rund um ein Mitglied seiner „Vlog Squad“ verwickelt ist, nimmt er nicht nur eine Social-Media-Pause, sondern hat auch das Betreiberunternehmen von Dispo verlassen. Die App ist seitdem in den App Store Rankings wieder abgestürzt.

B-Promis der US-Tech-Szene investieren in Poparazzi

Nun versuchen die Macher von Poparazzi ihr Glück mit einer Photo Sharing App: Die Brüder Alex und Austen Ma (beide etwa Mitte 20) hatten 2019 bereits die App TTYL (für „Talk to you later“; wir hatten damals auch über die App geschrieben) in den App Store gebracht. Mit dem auf Sprache basierenden Social Network (quasi die Digitalisierung des Funkgerätes) sammelten sie zwei Millionen US-Dollar ein (u.a. vom VC Floodgate, der bislang u.a. an Twitter, Twitch und Lyft beteiligt war). TTYL war noch vor der ersten größeren Social-Audio-Welle unterwegs, schaffte aber nie den ganz großen Durchbruch.

Für den Launch von Poparazzi hat nun offenbar der Weekend Fund des Producthunt-Gründers Ryan Hoover Geld gegeben, (der auch an Dispo beteiligt ist. Tweets von Nikita Bier, Mitgründer der 2017 von Facebook übernommenen Viral App tbh (für „to be honest“) erwecken außerdem den Eindruck, dass dieser in irgendeiner Weise an Poparazzi beteiligt ist – sei es als Investor und/oder als Berater. Möglicherweise hat Bier ja bei der Launch-Kampagne geholfen. Denn die war strategisch offenbar sehr durchdacht.

Erfolgsfaktor 1: Testflight als alternativer App Store

Testflight ist eigentlich eine App, mit der Entwickler:innen ihre App (oder deren neueste Version) in (mehr oder minder) freier Wildbahn testen können, ohne sie zu diesem Zweck gleich für alle Nutzenden über den App Store herunterladbar machen zu müssen. Über Testflight können sie ihre App mittels Einladungs-Codes für ausgewählte Nutzende verfügbar machen. Seit Apple 2014 den Testflight-Betreiber Burstly übernommen hat, ist die App Teil der offiziellen Services, die Apple gegenüber Entwickler:innen bietet.

Testflight ist vor allem dafür gedacht, zu prüfen, ob eine App so funktioniert wie sie soll, und wie Nutzende mit der App interagieren. Im Jahr 2017 hat Apple deswegen die Zahl der User, die eine App im Rahmen solcher Beta Tests über Testflight onboarden kann, von 2.000 auf 10.000 erhöht. Seitdem hat sich Testflight als eine Art alternativer App Store etabliert, wie in einem Artikel des US-Mediums Protocol von 2020 geschildert wird. Dieser wird von Entwicklern und Entwicklerinnen genutzt, deren Apps nicht zwangsläufig auf ein großes Publikum angelegt sind – oder die vor einem offiziellen Launch Buzz und erste virale Effekte generieren wollen. Letzteres trifft offenbar auf Poparazzi zu.

Erfolgsfaktor 2: Tiktok Influencer als Brandbeschleuniger

Um Nutzerinnen und Nutzer für den ersten größeren Beta-Test zu gewinnen, haben die Poparazzi-Macher offenbar vor allen Dingen auf Tiktok gesetzt. Über den Account poparazziapp haben sie im Februar dieses Jahres insgesamt elf Videos gepostet, die insgesamt 1,44 Millionen Views angesammelt haben; das erfolgreichste Video davon ist mit 1,1 Millionen Views viral gegangen. Die Clips sollen offenbar ganz gezielt die Gen Z ansprechen: In ihnen erklärt ein namentlich nicht genannter weiblicher Teenager, warum Poparazzi die nächste große Social Media App ist, wegen der bald viele Instagram von ihrem Handy löschen werden.

Außerdem hat das Poparazzi-Team offenbar mehrere Tiktok Creator engagiert (darauf lässt auch ein Instagram-Account für Partner Influencer von Poparazzi schließen), damit diese über ihre Accounts für die App trommeln. Tiktok weist für Videos mit dem Hashtag #poparazziapp derzeit 10,3 Millionen Views aus. Durchforstet man die Clips, die mit diesem Hashtag versehen sind, stößt man auf diverse, in denen Influencer die App beworben und damit sechsstellige Abrufzahlen generiert haben: 537.000 Views, 527.000 Views, 366.000 Views (und als eines von wenigen ebenfalls mit dem Hashtag #ad versehen) und 210.000 Views, beispielsweise.

Einer der Accounts wirkt wie alleine für die Kampagne aufgesetzt, hat nur zwei Videos hochgeladen und verlinkt in seiner Profil-Bio auf ein Typeform-Formular, über das man sich für die Poparazzi-Beta anmelden konnte. Nachdem der Zugang zum Beta-Test (vermutlich wegen des Limits von 10.000 Usern) geschlossen wurde, konnten Nutzende ihre Handy-Nummer hinterlassen, um sich informieren zu lassen, sobald die App für die Allgemeinheit verfügbar wurde. Außerdem riefen die Poparazzi-Macher dazu auf, ihre App zu „pre-downloaden“.

Poparazzi Beta Signup Formular

Über Tiktok-Videos generierten die Poparazzi-Macher Klicks auf ein Anmeldeformular für den Beta-Test der App. Nachdem die maximale Zahl an Testerinnen und Testern erreicht war, riefen die Macher zum „Pre-Download“ der App auf.

Erfolgsfaktor 3: Der Pre-Order-Trick

Schon weit vor einem Release so viel als möglich Rummel zu machen, ist eine Strategie, die sich innerhalb der Musikindustrie innerhalb der vergangenen Jahre etabliert hat – und dort vor allen Dingen im Hip Hop. Zuerst begannen Rapper:innen und Label-Macher vor der Veröffentlichung eines Albums „Limited Edition Boxen“ mit zusätzlichem Merchandise zur Vorbestellung anzubieten. Das Ziel: Vorab so viele Verkäufe generieren, dass das Album gleich zur Veröffentlichung möglichst hoch in die Charts einsteigt (denn alle Vorverkäufe werden auf die erste Veröffentlichungswoche angerechnet).

Innerhalb der vergangenen zwei Jahre kam eine neue Methode hinzu: Rapper:innen veröffentlichen bereits vor der offiziellen Veröffentlichung eines Tracks Schnipsel des Stücks über Social Media. Mit diesen generieren sie im Idealfall Aufmerksamkeit, Spannung und eine Erwartung, die sich dann am Veröffentlichungstag entlädt. Wenn der Song rauskommt, ist er bereits ein Hit. Mero und Loredana haben mit dieser Methode eine enorme Bekanntheit aufgebaut. Mittlerweile bieten Musik-Streaming-Plattformen auch so genannte „Pre Saves“ an, mit denen Fans einen Release vorab speichern können.

In Apples App Store können Entwicklerinnen und Entwickler ihre Apps schon seit einigen Jahren als Pre-Order anbieten. Bei all jenen Nutzenden, die eine App pre-ordern, wird diese am Veröffentlichungstag automatisch aufs iPhone heruntergeladen; zudem werden sie über den Download benachrichtigt. Seit einiger Zeit wird dieses Mittel offenbar auch als Marketinghebel immer beliebter. Die Macher von Poparazzi erklären in ihrem Blog-Artikel zum offiziellen Launch der App, dass sie zuvor mehr als 500.000 Pre-Installs generiert hatten.

Erfolgsfaktor 4: Eingebaute Netzwerk-Effekte

Die Poparazzi-Macher drängen die Nutzenden im Onboarding-Prozess mehrfach dazu, ihre Kontakte freizugeben und Freunde einzuladen

Die Poparazzi-Macher drängen die Nutzenden im Onboarding-Prozess mehrfach dazu, ihre Kontakte freizugeben und Freunde einzuladen

Diese dürften ab jenem Zeitpunkt, an dem die App allgemein verfügbar war, endgültig eine virale Welle losgeschlagen haben. Denn so wie man es von vielen anderen Social-Media-Hype-Apps kennt, sind in Poparazzi Netzwerk-Effekte nicht nur quasi eingebaut; das Team hat einige der Prinzipien, mit denen solche Effekte generiert werden können, auf die Spitze getrieben.

Nicht nur, dass die App bei der Neuanmeldung (der Onboarding-Prozess wirkt durch-designt und -optimiert) das gesamte Telefonbuch der Nutzenden auslesen will (dies lässt sich zwar vermeiden, ist aber auf den ersten Blick nicht zu erkennen) und allen Kontakten, die Poparazzi bereits nutzen, automatisiert folgt. Die App kann quasi nur funktionieren, wenn man sie gemeinsam mit Freunden nutzt. Genau dies teilt einem Poparazzi auch mittels Pop-Up mit, sollte man den Vorschlag, weitere Freunde einzuladen, skippen wollen.

Noch dazu ist Poparazzi an Snap angebunden: Über eine Schaltfläche können die Poparazzi-User zu Snap wechseln und Fotos aus Snap in Poparazzi posten. Wie Snap-Gründer Evan Spiegel in der vergangenen Woche beim Snap Summit erklärte, erreiche Snapchat aktuell 90 Prozent der 13- bis 24-Jährigen in den USA, Australien, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden.

Siebenstellige Downloads in weniger als einer Woche

Die Summe all dieser Hebel zeigte jedenfalls Wirkung: Bereits vier Tage nach dem Launch hat Poparazzi laut App Annie in 53 Ländern die Top 10 (darunter Deutschland, Australien, Frankreich und Großbritannien) und in 24 (darunter USA, Kanada, Spanien, Italien, Niederlande und Belgien) den ersten Platz erreicht. Das App-Statistik-Tool Airnow Data schätzt die Zahl der weltweiten Downloads der App aktuell auf 1,3 Millionen. Einem Tweet von Ryan Hoover zufolge soll die App zeitweise 2.000 Mal in der Sekunde heruntergeladen worden sein.

Ob Poparazzi langfristig erfolgreich sein kann – oder dasselbe Schicksal erleidet wie viele andere Social-Hype-Apps zuvor, die nach einem kurzen Strohfeuer wieder erloschen sind? Dies hängt wie bei allen vorherigen Anwärtern davon ab, wie schnell die App weiter wachsen und ihre User halten kann. Josh Constine, ehemals Redakteur bei der Startup-Bibel Techcrunch und jetzt  als VC tätig, sieht in Poparazzi den Vorboten der „Multiplayer-Zukunft“ von Social Media.

Benchmark investiert 20 Millionen US-Dollar

Ed Zitron, PR-Berater im Silicon Valley, stellt die App demgegenüber in einem unterhaltsamen Rant als künstlich hochgehypten Trend dar, und schreibt: „Es ist ein klassischer Fall von Leuten in ihren 20ern und 30ern, die von Leuten in den 30ern, 40ern und 50ern finanziert werden und versuchen, Produkte für Menschen zwischen 12 und 17 Jahre zu machen, das gleichzeitig auch die Menschen zwischen 30 und 50 ansprechen soll, die wirklich über Geld verfügen.“

Nun soll Poparazzi, weniger als eine Woche nach dem Launch, bereits mehr als 100 Millionen US-Dollar wert sein. Wie US-Journalist Eric Newcomer als erster berichtete, soll der renommierte US-VC-Fonds Benchmark Capital (u.a. früh in Instagram, Twitter und Snapchat investiert) 20 Millionen US-Dollar in Poparazzi investiert haben. Laut Forbes soll sich die Bewertung des Unternehmens hinter der App damit auf 135 Millionen US-Dollar belaufen.

Dank an Ravi Deient für den Hinweis auf das Thema!

Update, 28. Mai, 10 Uhr: Wir haben den Artikel um Informationen über das Funding von Poparazzi ergänzt.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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