Mit Memes zum globalen Nr. 1 Hit: Wie ein 19-Jähriger „Old Town Road“ zum Erfolg pushte

Lil Nas X hat verstanden, wie die Aufmerksamkeitsökonomie im Netz funktioniert – und ist jetzt ein Star

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Inhalt
  1. War Lil Nas X ein „Tweetdecker“?
  2. Emotionale Trigger und kreativer Content
  3. Im Netz gemacht, über das Netz weiter verbreitet
  4. Erster Erfolg durch Song zu einem Marvel-Charakter
  5. „Das wird die Zeile, die zum Meme wird“
  6. „Ich habe das hart gepusht“
  7. „Der Typ hat die Memes einfach selbst gepostet“
  8. TikTok verhilft zum finalen Durchbruch
  9. Am Ziel
  10. Es wird fast absurd
  11. Eigene Memes auf Giphy

Fast 500 Millionen Streams in Summe auf Spotify, rund 450 Millionen Views auf Youtube, Platz 1 der Charts in 13 Ländern (darunter USA, Großbritannien und Deutschland): der Song „Old Town Road“ von Lil Nas X ist mittlerweile ein globales Phänomen. Das ist umso erstaunlicher, weil hinter dem Erfolg (zumindest anfänglich) keine Plattenfirma inklusive der entsprechenden Musikmarketing-Power steckt – sondern ein einzelner 19-jähriger Schulabbrecher, der einen Humor-Account auf Twitter betreibt. OMR zeigt, wie Lil Nas X durch Meme Marketing, das Anknüpfen an Internet-Kultur und dem Bedienen von Reichweitenmechaniken seinen Song zum Hit machte.

Noch vor etwa einem Dreivierteljahr war Montero Hill, so der bürgerliche Name von Lil Nas X, nach eigener Darstellung an einem Tiefpunkt angelangt. Der damals 19-Jährige aus Atlanta hatte die Schule abgebrochen – um Musik zu machen. „Alles war sehr aufreibend“, so Hill vor Kurzem gegenüber Time. „Ich habe zu dieser Zeit nachts drei Stunden geschlafen, weil ich im Haus meiner Schwester lange wach blieb, um meine Musik im Internet zu promoten. Ich habe bei ihr auf dem Fußboden geschlafen – ich wollte nicht nach Hause gehen, weil ich wusste, dass meine Eltern sauer auf mich sein würden. Durch den Schlafentzug hatte ich fast jeden Tag Kopfweh. Und ich wurde nur runtergemacht, weil ich die Schule verlassen hatte.“

War Lil Nas X ein „Tweetdecker“?

Hill gehört jener Altersschicht an, die gemeinhin „Gen Z“ genannt wird – eine Generation, die kein Leben ohne Internet kennt. „Das Internet ist ein bisschen wie meine Eltern für mich“, so der heute 20-Jährige vor Kurzem gegenüber der New York Times. „Ich bin darin aufgewachsen, habe darin manches Zeug kennengelernt und dann gelernt, es auf meine eigene Art zu nutzen.“ Er habe zuerst auf Facebook Comedy Videos eingestellt, sei dann zu Instagram gewechselt und dann zu Twitter, so Hill gegenüber dem Rolling Stone Anfang April. „Auf Twitter bin ich erst zum Meister geworden. Das war die erste Plattform, auf der es mir gelang, viral zu gehen.“

Wie das New York Magazine herausgefunden hat, war Hill vor seinem Durchbruch als Rapper offenbar Betreiber des Twitter-Accounts „Nas Maraj“, der mittlerweile von Twitter gesperrt wurde. Der junge Mann sei ein „Tweetdecker“ gewesen, so das New York Magazine. Das sind in der Regel junge Twitter-Nutzer, die Netzwerke aus mehreren Accounts („Decks“) betreiben, die sich jeweils gegenseitig retweeten und promoten. Tweetdeckern wird zum einen vorgeworfen, mit dieser Methode ihre Reichweite künstlich aufzublasen, um diese dann durch den Verkauf von Retweets monetarisieren und damit potenziell mehrere Tausend US-Dollar im Monat verdienen zu können. Zum anderen klauen viele der Tweetdecker offenbar darüber hinaus auch virale Tweets von kleineren Accounts. Im Januar 2018 hatte Buzzfeed ausführlicher über das Phänomen berichtet. Twitter gehe mittels Account-Sperrungen aktiv gegen das Phänomen vor, heißt es im damaligen Artikel.

Emotionale Trigger und kreativer Content

Vor der Sperrung habe Hill mit seinem „Nas Maraj“-Account eine sechsstellige Anzahl an Twitter-Followern ansammeln können, schreibt das New York Magazine. Geholfen hat ihm dabei offenbar ein gutes Gespür dafür, wie sich mittels Setzen von emotionalen Triggern (wie beispielsweise Empörung oder Mitleid) Engagement generieren lässt. Hill soll beispielsweise ein Video einer Seniorin gepostet haben, die in einem öffentlichen Bus schikaniert wurde, versehen mit dem Text „Wer macht so etwas?“. Das Ergebnis: jeweils fünfstellige Retweet- und Like-Zahlen. Er postete ebenfalls triste Fotos einer angeblichen (und offenbar erfundenen) Geburtstagsparty seines Hundes, zu der trotz Einladung keine anderen Vierbeiner erschienen. Die Geschichte sorgte für so viel Wirbel, dass sie sogar von Buzzfeed aufgegriffen wurde.

Abseits dieser wohl relativ kühl kalkulierten Inhalte ist Hill gleichzeitig durchaus sehr kreativ. So gilt er als Erfinder der „Scenario Threads“: Dabei erzählt er ähnlich wie bei den in den 80er und 90er Jahren populären Spielbüchern über diverse Tweets hinweg eine Geschichte, deren Verlauf der Leser selbst beeinflussen kann. Je nachdem, wie sich der Protagonist verhalten soll, muss der Leser einen anderen Tweet anklicken, um zum jeweiligen Erzählstrang zu gelangen. Beispiele finden sich auf Twitter unter dem Account „DecideYouStory„. Hills „Scenario Threads“ sind heute offline, der Youtuber S2W hat sie in einigen Videos konserviert.

Im Netz gemacht, über das Netz weiter verbreitet

Nachdem der Account „Nas Maraj“ gesperrt wurde, habe Hill für kurze Zeit unter dem Twitter-Handle Nas Marai gepostet, so das New York Magazine. Erneut habe er in relativ kurzer Zeit hohes Engagement generieren können, inklusive teilweise hoch fünfstelliger Retweet-Zahlen. Irgendwann sei er dann zum Twitter-Handle LilNasX gewechselt. Unter diesem Namen ist er auch heute noch bei Twitter aktiv – und treibt dort seine Musiker-Karriere voran.

Der älteste Song, der heute noch auf dem Soundcloud-Account von Lil Nas X abrufbar ist, stammt aus dem Mai 2018. Die Backing Tracks, also jene Musik und Beats, über die er seinen Gesang und seine Raps aufnimmt, findet er im Netz. Und über das Netz versucht er ebenfalls, mit jenen Mitteln, die er kennt und gelernt hat, für die Tracks Aufmerksamkeit zu generieren. Über seinen Twitter-Account setzt er zwar auch weiterhin Tweets ab, die nichts mit seiner Musik zu tun haben, promotet dazwischen aber immer wieder seine Songs.

Erster Erfolg durch Song zu einem Marvel-Charakter

Dafür unterlegt Hill immer wieder mehr oder minder unterhaltsame Kurzvideos mit seinen Liedern und versucht damit, als Trittbrettfahrer bei aktuell aufmerksamkeitsstarken Phänomenen und beliebten Memes zu agieren. Memes haben innerhalb des vergangenen Jahrzehnts einen immer größeren Anteil an der Internet-Kultur eingenommen und sind damit auch zu einem der größten Traffic-Treiber im Netz geworden. So wird bei Google häufiger nach Memes gesucht als nach dem Keyword „Jesus“.

Im Juni 2018 veröffentlicht Hill einen Song über „Thanos“, einen Charakter aus dem Superhelden Kinofilm „Marvel Avengers: Infinity War“, der bereits nach Erscheinen des Filmtrailers Gegenstand mehrerer Memes geworden war. Offenbar gelingt es Hill in diesem Fall, auf der dadurch entstandenen Aufmerksamkeitswelle mitzusurfen. Das Youtube-Video des Songs verzeichnet bis heute 2,2 Millionen Views, der Song auf Soundcloud 277.000 Plays.

„Das wird die Zeile, die zum Meme wird“

Im Oktober stößt Hill im Netz auf einen Instrumental-Track von YoungKio, einem niederländischen Teenager, der Songs produziert, diese über seinen Youtube-Kanal bewirbt und über die Plattform „Beatstars“ zum „Leasen“ anbietet. Das günstigste Angebot: Für 40 Euro kann der Musiker den Track übernehmen, Vocals aufnehmen, ein Musikvideo produzieren und vertreiben, den Song bis zu 2.000 Mal verkaufen und bis zu einer halbe Million Mal streamen. Der Background Track zu dem Song, aus dem „Old Town Road“ werden wird, besteht aus einem Beat sowie einem Banjo-Sample, das einem Instrumental-Song der Band „Nine Inch Nails“ entstammt.

Hill kauft die Lizenz und schreibt dazu seiner damaligen Gemütslage entsprechend eine moderne Version eines „Einsamer Cowboy“-Songs. Schon beim Verfassen des Tracks überlegt er, welche Zeilen sich als Meme eignen könnten, und baut Teile ein, von denen er weiß, dass sie seine Zielgruppe triggern. „Ich weiß, was bei meiner Zielgruppe funktioniert. Deswegen habe ich ein paar lustige Zeilen reingepackt“, so Hill in einem sehenswerten Video-Interview mit der New York Times (s. oben). Über die erste Zeile der Strophe („I got the horses in the back“) schreibt er auf der Lyrics-Plattform Genius, dass ihm von Anfang klar gewesen sei: „Das wird die Zeile sein, die einschlägt, und die Leute wiederholen wird.“ Er platziert diese vermutlich bewusst strategisch genau an jener Stelle, an der der Beat des Lieds einsetzt, weil er weiß, dass es potenziell diese wenigen Sekunden sind, die sich später als Meme im Netz fortpflanzen.

„Ich habe das hart gepusht“

Am 2. Dezember stellt Lil Nas X auf Twitter ein Video mit einem Teaser des Songs ein und veröffentlicht „Old Town Road“ gleichzeitig auf Soundcloud und auf Youtube in voller Länge. Das Youtube-Video unterlegt er mit Szenen aus „Red Dead Redemption 2“ – wohl das erfolgreichste und aufmerksamkeitsstärkste Videospiel, das im Jahr 2018 erschienen war. Weil das Spiel im Wilden Westen angesiedelt ist, passt es gut zum „Country Trap“-Style des Songs. Eine Woche später ist der Song auf den gängigen Streaming-Plattformen verfübar.

„Vom ersten Moment an, als ich den Song auf Twitter gepostet habe, habe ich gemerkt: Da bewegt sich was“, so Hill gegenüber der New York Times. Trotzdem ist es zunächst vor allem er selbst, der den Song verbreitet, mal unterhaltsame, mal erschreckende Videos damit unterlegt, oder sich an andere Memes anhängt. „Der Plan war, den Song unter so viele Memes zu packen wie möglich, bis er sich von selbst fortpflanzt“, so Hill im April gegenüber dem Rolling Stone. „Ich weiß, manche Leute sagen, das ist einfach ein junger Typ, der Glück gehabt hat. Aber das ist alles kein Zufall… ich habe das hart gepusht“, erklärt er gegenüber der New York Times.

„Der Typ hat die Memes einfach selbst gepostet“

Sucht man heute auf Twitter danach, welche anderen User außer Lil Nas X selbst in diesem Zeitraum zu „Old Town Road“ oder „I got the horses in the back“ getwittert haben, stößt man lediglich auf Accounts mit maximal dreistelligen Follower-Zahlen. Teilweise verzeichnen deren Posts zum Song jedoch dreistellige Retweet- und vierstellige Like-Zahlen. Eine der Betroffenen wundert sich gar öffentlich darüber, wie das geschehen konnte. Ob Hill hier selbst mit einem „Tweetdeck“ nachgeholfen hat, ist von außen nicht zu rekonstruieren. Bemerkenswert jedoch: Im Januar postet er ein Video, in dem der gesamte Text von „Old Town Roads“ über mehrere Twitter-Profile verteilt zu lesen ist.

Im Januar stellt er auf Youtube ein Compilation-Video von bisherigen „Old Town Road“-Memes ein. Einer der meist gelikten Kommentare darunter: „This dude posted the memes himself lol. LEGEND.“ Trotzdem ist es Hill offenbar gelungen, im übertragenen Sinne einen Schneeball loszutreten, der nach und nach immer größer wird. Einen Tag, nachdem er die Meme-Compilation auf Youtube eingestellt hat, vermeldet er auf Twitter: „Old Town Road hat gerade eine Million Streams insgesamt erreicht! Die Kraft von Twitter ist unschlagbar!“

TikTok verhilft zum finalen Durchbruch

Sein Glück: Der Cowboy- und Country- und Western-Look erlebt zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Monaten eine Renaissance in der US-Popkultur, insbesondere unter Afro-Amerikanern. Auf Netzkultur-Websites wird das Phänomen gemeinhin als „Yeehaw Agenda“ bezeichnet. „Old Town Road“ gelingt der Durchbruch offenbar zu jenem Zeitpunkt, an der die „Yeehaw“-Welle auf ihrem Höhepunkt ist.

Vielleicht ist es dieser Trend, der dazu beiträgt, dass der „Old Town Road“-Schneeball endgültig zur Lawine erwächst. Denn ebenfalls im Januar postet der TikTok-Nutzer (hier ein OMR-Porträt der App) Nicemichael ein 15-Sekunden-Video auf der Plattform, indem er nach einer Drehung um sich selbst plötzlich im Western-Look mit Karo-Hemd vor der Kamera steht und daraufhin im Rodeo-Stil zu „Old Town Road“ tanzt. Diverse andere TikTok-Nutzer greifen seine Idee auf – und sie geht viral. „Es war absolut verrückt“, so „Nicemichael“ gegenüber der New York Times.

Am Ziel

Bald stellen Dritte auf Youtube Compilation-Videos mit TikTok-Clips zu „Old Town Road“ ein. Sie wirken ein wenig wie das Lagerfeuer des digitalen Zeitalters: Das, was vor 25, 30 Jahren noch „Wetten, dass…?“ war, ist heute vielleicht etwas wie „Old Town Road“ – ein Phänomen, dass viele auf sich vereinigen kann. Montero Hill hat sein Ziel erreicht: Sein Song hat sich verselbstständigt.

Dank TikTok kommt „Old Town Road“ in den USA endgültig im Mainstream an. Von nun an überschlagen sich die Ereignisse: Ende Februar erreicht der Song Platz 1 der US Viral 50 Playlist auf Spotify. Mitte März vermeldet Billboard, dass Columbia Records Lil Nas X nach einem Bietwettstreit unter Vertrag nehmen konnte. Kurz danach steigt „Old Town Road“ in mehrere Billboard Top 100 Charts ein – wird jedoch am Ende des Monats aus den „Hot Country Charts“ ausgeschlossen, weil der Song „nicht genügend Country-Elemente aufweise“. Das sorgt für breite Diskussionen darüber, ob bei dieser Maßnahme in Wahrheit eher rassistische Gründe eine Rolle gespielt haben könnten – schließlich ist Country-Musik historisch „weiße“ Musik. Dem Erfolg des Songs schadet die zusätzliche Publicity in jedem Fall nicht.

Es wird fast absurd

Mitte April schließlich veröffentlicht Columbia Records einen Remix von „Old Town Road“. Mit dabei: Billy Ray Cyrus, einer der größten Stars der US-Country-Szene und Vater von Miley Cyrus. Jener Billy Ray Cyrus, über den Lil Nas X Anfang Dezember noch vermeintlich größenwahnsinnig getweetet hatte: „Twitter, helft mir dabei, Billy Ray Cyrus mit an Bord zu bekommen!“ Der Remix erreicht Platz 1 der Billboard Charts, bricht u.a. den Streaming-Rekord von Über-Rap-Star Drake und erhält schließlich einen fünfminütigen Kurzfilm im Stil zwischen Wes Anderson und Coen Brothers, in dem Entertainment Stars wie Chris Rock mitspielen.

Eigene Memes auf Giphy

Dank des Kurzfilms hat Montero Hill endgültig die höchsten Weihen der Internet-Kultur erfahren: Er ist selbst zum Meme geworden. Nun gut, das Profil mit GIFs aus dem Remix-Kurzfilm auf der Plattform Giphy hat er selbst erstellt. Immerhin, das Interesse ist da: Mehr als 51 Millionen Mal wurden die GIFs laut Giphy bereits abgerufen – innerhalb von lediglich vier Tagen.

Meme MarketingMusik-MarketingViral Marketing
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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