Kommentar-Marketing: Wie Marken & Creator unter viralen Posts gratis Reichweite abgreifen

Marketing mittels Social-Media-Kommentaren ist zum Trend geworden – und könnte noch wichtiger werden

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(Bild: Dall-E)

Der Kampf um die Aufmerksamkeit auf den sozialen Plattformen ist hart; Millionen von Unternehmen ringen im Wettbewerb mit Creator*innen und Privatnutzer*innen darum, ihre Posts in die Feeds zu bekommen – idealerweise, ohne dafür zahlen zu müssen. Dabei gibt es abseits eigener Beiträge eine immer noch recht wenig beachtete Möglichkeit, über die Plattformen Sichtbarkeit zu generieren und eine Reichweite aufzubauen: mit Kommentaren unter den Posts anderer Accounts. OMR-Chefredakteur Roland Eisenbrand zeigt Beispiele auf Tiktok, Instagram, Youtube und Twitter und erklärt, warum er glaubt, dass die Relevanz von „Kommentar Marketing“ noch weiter zunehmen wird.

550 Millionen. Mehr als eine halbe Milliarde. So hoch ist angeblich der Zahl der Abrufe, die innerhalb eines halben Jahres Videos generiert haben sollen, in denen Tiktok-Nutzer*innen die US-Snack-Marke Slim Jim (in etwa vergleichbar mit Bifi in Deutschland) dazu aufgerufen haben, einen Kommentar auf ihrem Account oder unter einem bestimmten Video eines anderen Accounts zu hinterlassen.

Mehr Abos als Nike und McDonalds

Slim Jim hat sich von Anfang auf der Plattform im passenden Gen-Z-Slang als „CEO of Verified Comments“ positioniert: „Wir wollten der Creator sein, der dafür bekannt ist, dass wenn Du klingelst, er kommt und da ist [und kommentiert] – egal, was passiert. Und so etwas testen die Menschen natürlich bis an die Grenze aus“, so Evan Weissbrot von der verantwortlichen Agentur 180. Das Ergebnis: rund drei Millionen Videos mit der erwähnten halben Milliarde Abrufe.

Aber nicht nur das: Seit dem Start des eigenen Accounts im Februar 2022 hat Slim Jim auf Tiktok 4,3 Millionen Follower gewonnen – mehr als beispielsweise Nike (3,8 Millionen) oder McDonalds (3,1 Millionen). Für Videos mit dem Hashtag #slimjim weist Tiktok mittlerweile sogar 1,6 Milliarden Views aus. Damit ist die Marke zum einen wohl eines der erfolgreichsten Beispiele für Kommentar-Marketing auf Tiktok, zum anderen eines mit einer relativ einzigartigen Strategie.

Trittbrettfahren bei Viralvideos

Denn in der Regel kommentieren Marken einfach unter Videos, die auf Tiktok zum jeweiligen Zeitpunkt auf der „For You Page“ ausgespielt werden. Dabei spekulieren sie darauf, mit lustigen und schlagfertigen Kommentare so viele Likes anzusammeln, dass diese weit oben angezeigt werden und beim Öffnen der Kommentare gleich sichtbar sind. Wenn bei einem Video mit zweistelligen Millionenabrufen nur jede*r zweite oder dritte Zuschauer*in den Kommentarbereich schaut, erreicht die jeweilige Marke damit immer noch kostenlos ein Millionenpublikum.

Im November 2021 hatten wir mit OMR bereits über diese Entwicklung berichtet. Damals stammte beispielsweise der Großteil der Top-Kommentare (auf Tiktok können Kommentare geliket werden; die meist gelikten werden weiter oben angezeigt) zu einem Tiktok-Video von Taylor Swift, das bislang 26 Millionen Mal abgerufen wurde, von Marken.

Unpünktlich, aber witzig

In Deutschland hat zuletzt die Deutsche Bahn das „Tiktok Kommentar Game“ auf die Spitze getrieben. Der Konzern setzte in diesem Fall nicht auf Kommentare unter den Videos anderer Accounts, sondern hat andere Marken explizit dazu animiert, sich in den Kommentaren der eigenen Videos einen verbalen Schlagabtausch zu liefern. Viele Unternehmen folgten dem Aufruf, von Edeka über Lidl bis zu Mymüsli.

Die unterhaltsamsten Wortwechsel bereitete die Bahn dann nochmals in eigenen Videos auf Tiktok sowie in Screenshots auf Facebook und Twitter auf, die dort ebenfalls ansehnliches Engagement und damit zusätzliche Reichweite generierten. Hinzu kam sogar vereinzelte Presse-Berichterstattung. Im Januar erzielte die Bahn auf diese Weise so viele Likes auf Tiktok wie keine andere deutsche Marke.

Einmal direkt unter Trumps Tweet auftauchen…

Die Praxis, über Kommentare Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu generieren, hat zwar auf Tiktok eine neue Qualität gewonnen, ist aber kein ganz neues Phänomen. Auf Twitter hat diese Entwicklung bereits davor stattgefunden. Auf der Plattform gibt es zwar keine Kommentarsektion im eigentlichen Sinne. Aber dort kann jeder Antworten auf Tweets verfassen, die dann unter dem Ursprungs-Tweet angezeigt werden.

In den vergangenen Jahren hat sich auf Twitter so eine eher wenig geachtete Spezies von Nutzer*innen herausgebildet, die auf alle Tweets eines Accounts antworten und „Reply Guys“ (es sind in der Regel Männer) genannt werden. Manche hoffen damit offenbar, die Aufmerksamkeit des oder der „Original-Tweeter*in“ zu erregen. Andere verwenden dieses Mittel mit einem anderen strategischen Ziel, indem sie auf die Tweets von Accounts antworten, die viele Follower*innen verzeichnen und eine enorme Aufmerksamkeit generieren – in der Hoffnung, etwas davon für sich abzwacken zu können.

Von Trump- zu Musk-„Reply Guys“

Besonders extrem ausgeprägt war dieses Phänomen während der US-Präsidentschaft von Donald Trump. Jedesmal, wenn Trump etwas tweetete (Twitter bietet die Möglichkeit, sich per Push-Nachricht über neue Tweets eines Accounts informieren zu lassen) strömte eine Armada anderer Nutzer*innen auf die Plattform, um etwas auf den Tweet zu entgegnen. Wegen der enormen Aufmerksamkeit, die Trumps Tweets zuteil wurde, bezeichnete Buzzfeed damals den Bereich unter seinen Beiträgen als „wertvollstes ‚Stück Land‘ des Internets“.

Zu den größten Profiteuren gehörten damals die Trump-Gegner Ed und Brian Krassenstein – bevor ihre Konten wegen des angeblichen Betreibens von Fake Accounts für mehrere Jahre gesperrt wurden. Nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk wurden die Konten wieder entsperrt und aktuell verzeichnen die beiden 844.000 bzw. 616.000 Follower*innen. Mittlerweile arbeiten sich die Zwillingsbrüder an Elon Musk ab, der aktuell wohl auf der Plattform die meiste Aufmerksamkeit generieren dürfte.

Youtube-Kommentare als Werbefläche für Rapper-Outfits

Auch auf Youtube haben bauernschlaue Marketing-Macher*innen immer wieder versucht, über Kommentare unter besonders erfolgreichen Videos Aufmerksamkeit zu generieren. Besonders Musikvideos (die ja, wenn der jeweilige Song zum Hit wird, innerhalb kürzester Zeit Millionenabrufe ansammeln können) sind dabei offenbar eine dankbare Zielscheibe. Seit 2018 suchen die Betreiber von „Immerfresh“ Kleidungsstücke, die Rapper in Musikvideos tragen, heraus, bewerben diese per Affiliate-Link und trommeln für ihre Website in den Youtube-Kommentaren.

Im Jahr 2020 setzten offenbar Fans des Satire-Rappers MC Smook auf eher humorvolle Weise Youtube-Kommentare unter weltweiten Hits ein, um Views für dessen Videos zu generieren. Andere eher dubiose Vertreter*innen der Branche versuchten an selber Stelle, Besucher für ihre Websites zu generieren, auf denen sie Unbedarften Handy-Abos andrehten.

Mit geklauten Kommentaren in Cristianos „Viewport“

Auf Instagram ist es demgegenüber offenbar deutlich schwieriger, in den Kommentaren unter Posts von Accounts mit vielen Abos Sichtbarkeit zu generieren. Im Feed sind zwar teilweise bis zu zwei der Kommentare direkt sichtbar. Doch offenbar haben viele Digital-Prominente den Wert dieses „Real Estates“ erkannt. Demzufolge finden sich dort häufig Kommentare ihrer eigenen Marken. Bei Popstar und Schauspielerin Selena Gomez tauchen hier beispielsweise häufig Kommentare ihre Kosmetikmarke Rare Beauty oder ihrer Eismarke Serendipity auf.

Trotzdem gelingt es aber auch auf Instagram einigen gewissenlosen Glücksrittern offenbar, mittels Kommentaren bei anderen Accounts Aufmerksamkeit und Reichweite aufzubauen. So hat der Account „Rich Kids London“ (der Name ist Programm) offenbar unter den Posts von Dritt-Accounts gezielt jene Kommentare anderer Nutzer*innen kopiert, die schnell viele Likes auf sich gezogen haben. Diese hat „Rich Kids London“-Betreiber James Ison dann entweder unter denselben Posts oder anderen, ähnlichen Posts anderer Accounts, als „eigenen“ Kommentar abgesetzt.

Setzt sich die „For You Page“-Revolution fort?

Der Gegen-Account „richkidslondonstoleyourcomment“ hat diese Praxis eine Zeit lang dokumentiert. „Rich Kids London“ scheint dieses fragwürdige Vorgehen nicht geschadet zu haben. Aktuell verzeichnet der Account 1,9 Millionen Follower. Und wer durch die jüngsten Posts von Fußball-Superstar Cristian Ronaldo auf dessen Account scrollt, stößt dort bei den wenigen unter den Posts direkt sichtbaren Kommentaren immer wieder auf solche von „Rich Kids London“.

Das Reichweitenpotenzial von Kommentaren auf den großen Plattformen könnte in Zukunft noch wachsen werden. Denn nach dem Vorbild Tiktoks (wo die „For You Page“ nicht mehr auf dem „Social Graph“, also den Kontakten der Nutzer*innen, basiert, sondern in erster Linie auf dessen Nutzungsverhalten), stellen auch die anderen Plattformen immer mehr auf algorithmische Empfehlungen um – zuletzt Twitter mit einem eigenen „For You“-Feed. Durch diese Entwicklung sind zum einen die Reichweitenspitzen von viralen Posts noch extremer (Videos, die bei Tiktok viral gehen, können innerhalb weniger Tage Abrufe im zweistelligen Millionenbereich ansammeln). Zum anderen ist die Chance, mit einem Kommentar unter solch einem viralen Post ein komplett neues Publikum zu erreichen, nochmals größer.

Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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