“Google hat aufgegeben”: Diverse Publisher verabschieden sich von AMP

Geht der Standard seinem Ende entgegen?

AMP

Mit den 2015 eingeführten „Accelerated Mobile Pages“ (AMP) wollte Google Publisher dazu bringen, ihre Seiten für Smartphone-Surfer schneller zu machen – im Gegenzug sollten diese von Google mehr Traffic bekommen. Doch im vergangenen Jahr haben sich nicht nur große US-Digital-Publisher, sondern auch namhafte deutschsprachige Publisher wieder davon gelöst. OMR zeichnet die Entwicklung des einstigen Standards nach, führt Beispiele von Seiten an, die AMP abgeschaltet haben, und zeigt, wie tief der Graben zwischen Google und Online-Publishern mittlerweile ist.

Das vergangene Jahrzehnt steht wie kein anderes im Zeichen des Smartphones. Über 1,2 Milliarden davon wurden in 2020 verkauft – zehn Jahre zuvor waren es gerade einmal rund 300 Millionen. Entsprechend stieg die Zahl der mobilen Internetzugriffe enorm: Ging 2011 noch jede fünfte Person mit dem Smartphone ins Internet, waren es zur Mitte des Jahrzehnts schon zwei Drittel.

2015 reagierte Google auf diesen anhaltenden Trend, in dem es einen neuen Standard für mobile Internetseiten einführt,  „Accelerated Mobile Pages“ (zu deutsch: beschleunigte Mobilseiten). Die Idee: Mit dem Code auf HTML-Basis sollen die mobilen Webseiten schneller laden, weniger Datenvolumen verbrauchen und allgemein eine verbesserte User Experience bieten, was zu einer geringeren Absprungrate führen soll, so die Argumentation von Google.

Reichweitenbooster Google News

Mit AMP nahm Google allen voran Online-Publisher in den Fokus. Jene, die mit dem neuen Standard arbeiten, erhalten meist ein kleines Blitzsymbol in den Suchergebnissen neben der URL angezeigt. Dieser Blitz bietet den Publishern weit mehr als nur eine verbesserte User Experience: Er verspricht ihnen Vorteil bei der Listung innerhalb von Google News, der von Google betriebenen Nachrichtensuchmaschine. Denn nur wer AMP-Webseiten verwendet, kommt für eine Listung im News Karussell ganz oben auf der Suchergebnisseite oder in der News Box in Frage.

Die Google Newsbox bei der Suche nach dem Sichwort „Olaf Scholz“. Eine begehrte Platzierung für Publisher, denn hier greifen sie Millionenreichweiten ab. Screenshot: OMR/Florian Heide

In der Verlagswelt ist Google News ein unangefochtener Reichweiten-Booster. Eine Listung in einem der Widgets auf der ersten Seite der Suchergebnisse verspricht Autor:innen Millionen Leser:innen für ihre Artikel und Verlagen den so dringend benötigten Webseiten-Traffic, der sich mit Werbeanzeigen monetarisieren lässt.

Sinkende Werbeeinnahmen statt besserer UX

Auf Leser:innen-Seite ist das Format offenbar nicht bei allen beliebt: In Apples App Store gibt es eine offenbar durchaus erfolgreiche drei US-Dollar bzw. zwei Euro teure App, mit der Nutzer:innen AMP-Seiten loswerden können, indem sie automatisch auf die regulären Seiten weitergeleitet werden. Und auch auf Publisher-Seite gibt es Kritik, beispielsweise an den eingeschränkten technischen Möglichkeiten, die der neue Standard mit sich bringt: Das Seitenlayout kann kaum geändert werden, teilweise sind einfache Funktionen wie der Teilen-Button oder Kommentarfelder in der AMP-optimierten Version nicht verfügbar.

Und vor allem: Statt den wie erhofft steigenden Werbeeinnahmen, sehen sich Verlage sinkenden Werbeeinnahmen ausgesetzt. Denn ein zuverlässiges Tracking der User ist nun schwieriger als zuvor, außerdem lassen sich auf der mit AMP vereinfachten Webseite weniger Anzeigenformate einbinden als in der vorherigen Version. Damit verschlechtert sich das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen zwischen Publishern und Suchmaschinen weiter. Verlage werfen seit jeher dem Unternehmen vor ihre Nachrichteninhalte zu verwenden, ohne sie dafür zu bezahlen. Google wehrt sich die längste Zeit gegen ein gemeinsames Abkommen und argumentiert, man würde diesen überhaupt erst ihre hohe Reichweite verschaffen.

Gerichtsklage gegen Google

Hinzu kommt, dass auch hier Google die eigene Marktmacht auszunutzen scheint. Mehrere US-Bundesstaaten werfen im Dezember 2020 Google unter anderem vor, Webseiten die kein AMP benutzen, absichtlich zu drosseln, um ihr Produkt besser auf dem Markt zu positionieren. Google bleibt dabei: Es gehe um die Verbesserung der Ladezeit. Das sieht auch Johannes Beus kritisch, Gründer der SEO-Plattform Sistrix. „Im Kern ging es immer darum, dass Google versucht, das Internet mehr zu beherrschen“, sagt er.

Wer Google nutzt, lande meist auf einer Webseite, die nicht von Google betrieben wird, also ausserhalb deren Ökosystems liegt. „Dort hinterlassen User aber keine Klicks, keine Daten und keine Werbeeinnahmen.“ AMP habe das verhindern sollen, denn die AMP-optimierten Seiten liefert Google selbst aus. „Wer auf einer AMP-Seite surft, der bleibt auf einem Google-Server“, sagt Beus. Das käme dem Unternehmen zu Gute. Denn dort könne das Unternehmen genau nachvollziehen, wie sich User im Internet verhalten. Und herausfinden, wie das Verhalten zu monetarisieren ist.

Ohne Priorisierung weiterlaufen lassen

Nach weitreichender Kritik macht Google im April 2021 einen ersten Schritt zurück: In einem „Update zur Nutzerfreundlichkeit der Seiten“ verkündet das Unternehmen, eine AMP-Mobile-Optimierung sei künftig nicht mehr nötig, damit Artikel in der News Box angezeigt werden. Stattdessen müssen sich Seitenbetreibende nun an den „Core Web Vitals“ orientieren, einem neuen Kriterienkatalog, der die sogenannte „Page Experience“ von Mobile und Desktop-Seiten misst. AMP wurde plötzlich irrelevant. Und Google, das über Jahre hinweg AMP als einzigen Standard für Mobile Pages zu etablieren bestrebte und sogar eigens eine Abteilung dafür gebaut hat, versetzt dem Projekt selbst damit den vorläufigen Todesstoß.

Das AMP-Logo von Google: Ein weißer Blitz auf blauem Kreis

Bald darauf kündigen eine ganze Reihe von Digital-Publishern eine Abkehr von AMP an. Die Washington Post gibt das Format noch im selben Sommer auf. Der Kurznachrichtendienst Twitter ebenfalls. Das britische Medienunternehmen Future plc, das über 200 Magazine verlegt, die Verlage hinter den Medienseiten Buzzfeed, The Verge und dem New York Magazine, sie alle kündigen denselben Schritt an.

30 Prozent mehr Webseiten-Traffic ohne AMP

In Deutschland zählt die Rezeptseite Chefkoch zu den ersten Unternehmen, die von AMP abrücken. Fast 600.000 AMP-URLs habe das Unternehmen abgeschaltet, schreibt Chefkoch-SEO-Manager Hanns Kronenberg in einem Linkedin-Beitrag vor sechs Monaten. Die Furcht vor einem Sichtbarkeitseinbruch, die er darin erwähnt und viele Publisher begleitet, stellt sich in seinem Fall als unbegründet heraus. Auch nach über einem Monat seien „keine negativen Entwicklungen in der Sichtbarkeit bei Google zu beobachten“, schreibt er in einem weiteren Post.

Tobias Willmann, der bei der Schweizer Nachrichtenseite Blick.ch für SEO zuständig ist, bestätigt im Seopresso-Podcast vor rund zwei Monaten ebenfalls AMP abgestellt zu haben und auch Johannes Nareyek von Bild.de bestätigt auf Nachfrage gegenüber OMR, man habe sich „schon lange von AMP verabschiedet“.

Gibt es schon einen neuen Standard?

Der Konsens, AMP zu verlassen scheint also auch in Deutschland schon zu existieren. So schnell wie bei Chefkoch gehe das jedoch nicht bei allen Publishern. „Das sind langjährige Prozesse, verbunden mit Website-Relaunches. Es wird viele Jahre dauern, bis Publisher wie BILD oder der Spiegel AMP komplett abgeschalten haben“, sagt Beus gegenüber OMR. Wie sich der Wechsel weg von AMP langfristig auswirkt, darüber gibt es noch keine genauen Auskünftie. Ein Publisher, der OMR bekannt ist, berichtet, dass die Werbeerlöse auf den AMP-Webseiten höher gewesen sein. Andere, wie Future plc, berichten allerdings von bis zu 30 Prozent mehr Webseiten-Traffic seit der Abkehr von AMP – und hoffen deshalb nachträglich auf höhere Werbeeinnahmen.

Seitens Google gibt es bisher noch keine offizielle Bestästigung, dass AMP eingestellt wird. Der Chef-Entwickler von AMP, Malte Ubl, hat das Unternehmen allerdings vor drei Monaten verlassen. „Lasst uns einfach sagen, ich habe viel daraus gelernt“, schreibt er noch am selben Tag auf seinem persönlichen Blog. Auch SEO-Experte Johannes Beus hat den Eindruck: „Google hat aufgegeben.“ Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis das auch offiziell ist. Und möglicherweise gibt es ja schon einen neuen Standard, den Google mit aller Macht pushen will, nämlich Stories im Stile von Snapchat und Instagram. Im Februar titelte das „Search Engine Journal“ bereits: „Sind Web Stories das neue AMP?“

AMPGoogle AdsPublishing
Florian Heide
Autor*In
Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

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