Das steckt hinter dem viralen KI-Girl, das wirklich für alles werben kann
Wie UCG-Creatorin Ariel M. zu unerwarteten Fame als Feuchttuch-Testimonial kam
- "Das war schon ein bisschen schräg"
- "Teil der Revolution? Klar sage ich ja"
- "Top-AI-Model in der App"
- "Es hat mich 100 Dollar gekostet"
- "Schockiert, dass ich ein echter Mensch bin"
Ist sie echt oder nicht? Vor wenigen Tagen ging ein Clip bei X viral, in dem eine junge Frau für Feuchttücher warb und der eine Debatte entfachte, ob das Video durch künstliche Intelligenz generiert worden ist. Es zeigte sich: Wie so oft im Leben, liegt auch bei KI-generierten Inhalten die Wahrheit manchmal in der Mitte. Die Frau aus dem Clip gibt es wirklich. Die Worte allerdings, die sie in dem Clip spricht, wurden ihr von einem KI-Tool in den Mund gelegt. OMR hat die Hintergründe und sprach mit der vom Web-Fame überraschten Creatorin aus dem Clip.
"Es ist schrecklich, aber ich finde es immer noch toll, dass das alles mit KI möglich ist. Stell dir vor, was in sechs Monaten sein wird …" Mit diesen Worten kommentierte Becky Litvinchouk bei X das kurze Video, in dem eine junge Frau mit großem Enthusiasmus ihr Produkt anpreist. Die New Yorkerin ist Gründerin von Get Dirty, einer D2C-Brand und selbsterklärter "Nummer 1 unter den Feuchttüchern für vor und nach dem Sex, auf Reisen, bei Partys oder wo auch immer dein abenteuerlicher Lebensstil dich hinführt." Bis heute hat der Clip 1,4 Millionen Views auf X erzielt.
"Das war schon ein bisschen schräg"
Ariel M. erfährt von ihrem überraschenden Fame in der KI-Marketing-Bubble durch ihren Freund. Dem hatte ein Bekannter den Clip gezeigt: "Hier, schau mal, ein Video deiner Freundin. Jemand behauptet, sie wäre von einer KI generiert." Dann schaut sie es sich selbst an. "Das war schon ein bisschen schräg", räumt Ariel im Zoom-Call mit OMR ein. Denn sie hatte keine Ahnung, dass sie Werbung für After-Sex-Feuchttücher macht. Zudem hatten längst Andere herausgefunden, dass die Creatorin aus dem Clip auf Fiverr ist, und dass der Feuchttuch-Clip mit dem Tool Arcads.ai erstellt wurde.
So gibt es jetzt unter anderem ein Video, in dem Ariel allerlei wirres Zeug sagt, behauptet, in Wahrheit der Bitcoin-Erfinder Satoshi Nakamoto zu sein und Meme-Kundige mit einem Pinky-Doll-Zitat erfreut und einem Rick-Astley-Zitat verabschiedet. Und vermutlich wären es noch mehr geworden, wenn der plötzliche Hype nicht die Server von Arcads.ai gecrasht hätte. OMR hat versucht, ein Statement von den Gründern zu bekommen. Die bitten jedoch um etwas Geduld. Zunächst müsse man das Tool wieder zum Laufen bringen. Wie es aussieht, ist das auch eine Woche nach dem Crash noch nicht ganz gelungen. Die Startseite ist zwar live, im Anmeldeprozess ist jedoch schnell Schluss: "Arcads is currently broken."
Was also steckt dahinter? Ariel kann es erklären. Vor bald anderthalb Jahren ist sie von New Jersey nach Los Angeles gezogen – ohne wirklichen Plan. Ihr Freund habe ihr dann vorgeschlagen, doch was auf Fiverr zu machen. Auf der Gig-Economy-Plattform bieten Menschen allerlei kreative Dienstleistungen an. So wurde Ariel "UGC Creator". Gegen Bezahlung produziert sie kurze Werbevideos für ihre Auftraggeber. Diese schätzen den "user-generated content" (daher die Abkürzung), weil die vermeintlichen Testimonials darin so authentisch wirken.
"Teil der Revolution? Klar sage ich ja"
Erst lief es schleppend, erzählt Ariel. Ab Mitte 2023 werden die Aufträge zahlreicher, sie sammelt positive Bewertungen ihrer Auftraggeber. Ende des Jahres habe sich dann einer der Gründer von Arcads.ai bei ihr gemeldet. Er pitcht ihr das neue Tool. Dessen Kunden können echte Videos mit eigenem Text versehen, der in der Stimme der Creator*in vorgetragen wird. Die KI passt zudem die Vorlage lippen- und gestensynchron den neuen Text an. Ohne dieses Wissen dürften die meisten Betrachter*innen die manipulierten Videos für echt halten.
"Wenn jemand kommt und mir erklärt, ich kann Teil einer revolutionären Technologie sein – klar sage ich ja", sagt Ariel. Sie könne es kaum erwarten, was der technologische Fortschritt als nächstes bringt. Die Arcads.ai-Gründer, die übrigens aus Frankreich stammen, sichern ihr zu, dass Nutzer*innen ihrer App Ariels Gesicht und ihre Stimme nicht für die Bewerbung unsittlicher Produkte werden nutzen können. Also los.
"Top-AI-Model in der App"
Wie viel Arcads.ai ihr bezahlt, darüber darf Ariel nicht sprechen. Sie sei aber sehr zufrieden. Bislang hat sie fünf Vorlagen-Videos erstellt. Wie viele Clips die Kund*innen von Arcads.ai daraus erstellt haben, weiß sie nicht. Ebenfalls nicht, für welche Zwecke. Sie hatte ja auch keinen Schimmer von ihrem Auftritt in der Get-Dirty-Kampagne. Immerhin hätten die Betreiber der App ihr verraten, sie sei "das Top-AI-Model innerhalb der App".
Ariel weiß den Buzz um ihre Person zu nutzen. Bereits ehe sie von der Diskussion um den Get-Dirty-Clip mitbekommen hatte, bemerkte sie spürbar mehr Anfragen in ihrer Inbox, berichtet sie. Inzwischen hat die 24-Jährige gemeinsam mit Fiverr ein Video gepostet: Sie sei das "ai girl", von dem niemand sicher sagen könne, ob sie echt ist oder nicht. Sie sei aber echt und bietet allen ihre Dienste als UGC Creator an.
"Es hat mich 100 Dollar gekostet"
Dank ihrer Experimentierfreude hat Ariel wohl ein kleines Plätzchen in der AI Hall of Fame sicher: Sie wurde zum ersten KI-Model auf Fiverr und Gesicht einer Entwicklung, der den Beginn einer Explosion von – vermeintlichem – UGC markiert. Arcads.ai wirbt zumindest auf seiner Website damit, die Technologie ermögliche die Erstellung von hoch individuellen Clips, in denen die Creator beispielsweise den Wohnort des Betrachtenden erwähnen.
Für die Werbetreibenden ist das Angebot von Arcads.ai auf jeden Fall ein guter Deal. Becky Litvinchouk schrieb bei X, das Video habe sie 100 Dollar gekostet. Das sei bei einem Clip dieser Länge tatsächlich weniger, als sie selbst für einen Auftrag über Fiverr berechnet hätte, bestätigt Ariel gegenüber OMR. Tatsächlich sind die Botschaften von den KI-Models sogar noch günstiger. Vor dem Zusammenbruch der Website bot Arcards.ai den Service im Abo an. Für 100 Euro im Monat ließen sich bis zu zehn Clips erstellen.
"Schockiert, dass ich ein echter Mensch bin"
Get-Dirty-Gründerin Litvinchouk war über X auf Arcads.ai gestoßen, nachdem sie dort einen anderen Clip entdeckt hatte und ihn für komplett KI-generiert hielt. 100 Dollar passten zum Budget ihres erst wenige Wochen alten Startups, also probierte sie es aus. Der Videomoment ihres Marketing-Experiments steigerte die Aufrufe ihrer Website um 800 Prozent, so Litvinchouk gegenüber OMR. Kurzfristig stiegen auch die Verkäufe.
Nachdem Ariel herausgefunden hatte, welche Firma hinter dem viralen Video steht, schrieb sie Betty Litvinchouk über Instagram an. Die reagierte zunächst ungläubig und postete Ariels Mail bei X, glaubte an eine Trittbrettfahrerin. Die beiden Frauen verabredeten sich dennoch zu einem Google Meet Call. "Sie war schockiert, dass ich ein echter Mensch bin", sagt Ariel. Und dann habe Litvinchouk ihr einen Job als Testimonial angeboten – also ganz klassisch und ohne KI.
Matti Yahav, der CMO von Fiverr, wird am 8. Mai beim OMR Festival auf der Blue Stage sprechen. Der Titel des Talks könnte kaum passender sein: "How AI (won't) Take Your Job".