Gas: Die neue US-Hype-App, von der Ihr noch nie gehört habt (und ihre deutsche Copy Cat)

Torben Lux18.10.2022

Das steckt hinter dem jüngsten App-Store-Chartstürmer

Gas App Titel Social

Erinnert Ihr Euch noch an BeReal, die App der Stunde in der Gen Z? Während sich das französische Unternehmen hinter der Anwendung bemüht, die Aufmerksamkeit zu nutzen, global weiter User*innen zu akquirieren und ein Geschäftsmodell zu entwickeln, hat bereits die nächste App ein riesiges Momentum: Gas. Erst seit August dieses Jahres ist die unter anderem von Ex-Facebookler Nikita Bier gegründete Anwendung live. In den USA steht sie bereits an der Spitze der App Charts, pro Stunde soll sie aktuell 20.000 neue User*innen generieren. OMR erklärt die Funktionsweise, den Ursprung des Hypes – und stellt eine deutsche Copy Cat vor.

Sie hat Tiktok hinter sich gelassen, BeReal ebenfalls. Gas ist der neue Trend an amerikanischen Highschools und hat in Rekordtempo die US-App-Charts übernommen. Dabei war die App während der ersten Wochen nur in wenigen Bundesstaaten der USA verfügbar; seit vergangenem Wochenende sollen immerhin 80 Prozent abgedeckt sein. Was hat dieses explosionsartige Wachstum ausgelöst? Und was sind überhaupt die Funktionen von Gas?

Auch wenn es zur weltpolitischen Lage passen würde: Nein, Gas hat nichts mit der Entwicklung von Benzinpreisen zu tun und User erhalten mit der App auch keinerlei Rabatte beim nächsten Tankstellenbesuch. Gas ist eine Art Social Network, stark begrenzt auf sehr wenige Funktionen. User*innen sollen sich vor allem gegenseitig aufmuntern. Im Urban Dictionary, einem Online-Wörterbuch für Jugendsprache, Memes & Co., heißt es im Eintrag zu „Gas Up“: Das Ego von jemandem durch Komplimente, Lob oder Handlungen aufblasen.

Positive Umfragen und Anonymität

Komplimente lassen sich bei Gas ausschließlich per Umfragen verteilen. Im Multiple-Choice-Verfahren beantworten User*innen Fragen wie „Wen bewunderst Du insgeheim?“, „Ihr Lachen lässt mein Herz schmelzen“ oder „Sollte auf jeder Party DJ sein“. Vier Namen aus der eigenen Highschool, die neue User*innen im Anmeldeprozess angeben müssen, stehen jeweils zur Auswahl. Eine Chatfunktion gibt es nicht, Kontaktanfragen müssen beidseitig erfolgen. Haben zwei Schüler*innen sich nicht gegenseitig angefragt, tauchen ihre Namen nicht in den jeweiligen Umfragen auf.

Screenshots der App Gas aus Apples App Store in den USA.

Wird der eigene Name als Antwort bei einer der Fragen ausgewählt, erhalten User*innen eine Benachrichtigung. Diese ist allerdings, zumindest vorerst, anonym. Kleine Hinweise wie „Mädchen aus der 10. Klasse“ oder „Junge aus Jahrgang 11“ sollen die Neugier anregen. Per Subscription, dem sogenannten „God Mode“, lässt sich die sonst kostenfreie App allerdings um Features erweitern. User*innen können dann unter anderem zusätzlich den ersten Buchstaben der Personen sehen, die für sie abgestimmt haben. Außerdem verdienen Nutzer*innen im God Mode mehr Coins der Gas-eigenen Währung, wenn sie Umfragen beantworten. Coins wiederum können dafür genutzt werden, den eigenen Namen gezielt als Antwortmöglichkeit bei Fragen zu platzieren.

Millionen Downloads trotz begrenzter Verfügbarkeit

Am 29. August ging die erste Version der App in Apples App Store live – anfangs noch unter dem Namen „Crush“, seit dem 29. September dann als Gas. Laut Daten des Analytics-Tools Appfigures sind die Download-Zahlen nach dem Start noch überschaubar. Rund 2.500 Downloads in der ersten Woche und etwas mehr als 3.000 in der zweiten Woche sollen es demnach gewesen sein. Bis Ende September steigen die Downloads linear auf etwa 100.000 pro Woche an, dann explodiert das Wachstum. In der ersten Oktober-Woche sind es mehr als 360.000 Downloads, in den sieben Tagen darauf schon eine Million. Appfigures zufolge wurde Gas bis heute insgesamt 1,6 Millionen Mal heruntergeladen. Verfügbar ist die App ausschließlich für Apples Betriebssystem in den USA – und das nicht einmal in allen Bundesstaaten.

Die Entwicklung der Download-Zahlen von Gas laut Appfigures.

Die begrenzte Verfügbarkeit habe schlicht damit zu tun, dass die Serverkapazitäten erst nach und nach aufgebaut werden müssten, heißt es in den FAQ auf der Homepage der App. Diese ist, genau wie die App selber, nur in den USA erreichbar und muss hierzulande über einen VPN-Zugang aufgerufen werden. Vielmehr als Antworten auf die am häufigsten gestellten Fragen gibt es dort allerdings nicht zu sehen.

Ein prominenter Gründer – und Ex-Facebookler

Hinter der App Gas steht das amerikanische Unternehmen „Find Your Crush“, gegründet von Nikita Bier. Und der hat vor einigen Jahren bereits eine vom Funktionsumfang fast identische App gebaut. Im Oktober 2017, weniger als drei Monate nach dem Launch, ging „tbh“ (kurz für „to be honest“, englisch für „um ehrlich zu sein“) an Facebook. Zu dem Zeitpunkt hatte tbh bereits fünf Millionen Downloads generieren können, 2,5 Millionen User nutzten die App täglich und sollen mehr als eine Milliarde Fragen beantwortet haben.

„Unter 100 Millionen US-Dollar“ habe Facebook laut Techcrunch damals bezahlt. Aus dem kommunizierten Plan, App und Brand unter dem Konzern-Dach weiter auszubauen, wurde nichts. Nur acht Monate nach der Akquise stellte das Unternehmen die App auf Grund „geringer Nutzung“ ein. Knapp acht Millionen Downloads habe sie laut Daten des Mobile Analytics Tools Data.ai (früher App Annie) bis dahin generieren können.

Gründer Nikita Bier, der wie seine Co-Founder Erik Hazzard, Kyle Zaragoza und Nicolas Ducdodon im Zuge der Übernahme zum Facebook-Angstellten wurde, hielt es auch nach dem tbh-Aus noch eine Weile beim Social-Media-Konzern. Bis Ende 2021 kümmerte er sich um den Bereich „New Product Experimentation“, entwickelte und testete neue Apps. Bis 2019 lag sein Fokus auf der Beratung und Strategien rund um Apps für Teenager.

In den Wettbewerb investieren

Laut Nikita Biers Linkedin-Profil investiert er seit dem Verkauf von tbh an Facebook in Startups und vor allem Apps. Einige Investments seines Family Offices seien demnach Poparazzi (wir hatten vor einem Jahr über den global erfolgreichen Launch der App geschrieben), die Foto-Widget-App Locket (hier im OMR-Porträt) – und auch BeReal. Die Foto-Sharing-App aus Frankreich hatte es in den vergangenen Monaten weltweit in die App-Charts geschafft und Millionen User generieren können. Zuletzt wurde vor allem die niedrige Nutzungszeit im Vergleich zu starken Downloadzahlen diskutiert; Copy Cats von Instagram und Tiktok dürften dem Wachstum von BeReal außerdem schaden.

Mit Gas haben Nikita Bier und sein Team all diese Apps jetzt – zumindest vorerst – überholt. Welche Mechanismen zum enormen Wachstum verholfen haben, lässt sich von außen und ohne die App hierzulande wirklich nutzen zu können nur erahnen. Paid Advertising soll es laut Bier jedenfalls nicht gewesen sein, lediglich 500 US-Dollar habe das Startup in Snaps Ads investiert, so der Gründer auf Twitter. In einem weiteren Tweet von Ende September deutet Nikita Bier allerdings an, was der entscheidende Hebel gewesen sein dürfte: Einladungen zur App, die User*innen selber verschicken. Vor allem die Gen Z würde von sich aus Freunde schnell auf neue Apps hinweisen; einmal an einer High School etabliert, kann so schnell ein viraler Word-of-Mouth-Effekt entstehen. Mit steigendem Alter der User*innen würde die Zahl der verschickten Einladungen allerdings stark nachlassen – einer der Gründe, weshalb immer wieder Apps für die Gen Z quasi aus dem Nichts die Charts stürmen.

„Stealth Mode“ und trotzdem Copy Cats

Obwohl Gas bereits seit Ende August im App Store verfügbar ist, tauchte die App bis zuletzt nicht in der Kategorie „Social“ auf. Das Startup hatte die App bewusst als Spiel gelistet – um in den Charts aufzusteigen und gleichzeitig keine Nachahmer auf den Plan zu rufen, schreibt Bier auf Twitter. Erst vor wenigen Tagen, am 13. Oktober, folgte der Wechsel in die korrekte Kategorie.

In Deutschland taucht Anfang Oktober dennoch eine App in Apples App-Store auf, die in Konzept, Funktionen und Design maximal an Gas erinnert. Slay von Jannis Ringwald, Stefan Quernhorst und Fabian Kamberi schafft es dann auch kurzzeitig auf den ersten Platz der deutschen App-Charts, heute steht sie in der Kategorie „Soziale Netze“ hinter BeReal noch an zweiter Position. Rund 180.000 Downloads und 3.000 Bewertungen (4,6) konnte die deutsche Copy Cat innerhalb von zwei Wochen laut Daten von Appfigures generieren. Gas kommt im Vergleich dazu auf fast 30.000 Bewertungen.

Gegenwind aus China?

Nachahmer in für Gas vorerst weniger interessanten Märkten wie Deutschland dürften Nikita Bier aktuell allerdings weniger stören. Denn die App sieht sich derzeit offenbar mit einem Hoax, also einem gezielt verbreiteten Gerücht konfrontiert. Demnach soll hinter der App ein Sexhandel-Ring stehen, angebliche User*innen berichten von Vans, die sich kurz nach der Installation verdächtig genähert hätten. Vor allem auf Snapchat sei dieser Hoax laut Nikita Bier verbreitet worden, den Ursprung der Attacken hätten er und sein Team in China identifiziert.

Die App Slay aus Deutschland erinnert stark an das US-Vorbild Gas.

Gas ist nicht die erste App, die mit solchen Problemen und mutmaßlichen Angriffen von Wettbewerbern zu kämpfen hat. 2016 sah sich die App „Down to Lunch“ mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert, 2018 traf es die Social App IRL. Obwohl die Gerüchte nur Gerüchte sind, können sie echte Folgen für die App-Publisher haben. So auch im Fall von Gas. Auf Tiktok werde die Video-Antwort des Unternehmens laut Bier nur eingeschränkt ausgespielt; die Kernzielgruppe der unter 18-Jährigen bekäme es nicht mehr zu sehen. Bereits am 14. Oktober hätten laut Gründer Nikita Bier drei Prozent aller User*innen aufgrund der Gerüchte ihre Accounts gelöscht. Keine leichte Situation für eine App, an deren Langlebigkeit sowieso schon gezweifelt werden darf. Die Zahl der beantworteten Umfragen soll dennoch von gestern auf heute von einer auf zwei Millionen gestiegen sein – pro Stunde.

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Torben Lux
Autor*In
Torben Lux

Torben ist seit Juni 2014 Redakteur bei OMR. Er schreibt Artikel und Newsletter, plant das Bühnenprogramm des OMR Festivals, arbeitet an der "State of the German Internet"-Keynote, betreut den OMR Podcast und vieles mehr.

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