35 Milliarden Euro Umsatz am Singles‘ Day: Wie „Retailtainment“ E-Commerce in China pusht

Corinna Bremer11.11.2019

Galashows, Livestreaming und Group Buying sorgen im Reich der Mitte für Erfolge

Aufmacher Singles‘ Day
Superstar-Livestreamer Li, Kardashian, Viya: Fünf Flaschen Pril Doppelentkruster zum Preis von einer
Inhalt
  1. Mit Taylor Swift in den Kaufrausch tanzen
  2. 16 Shopping-Events lösen immer neue Rabattschlachten aus
  3. Der Singles‘ Day: „Ein Desaster für den Planeten“
  4. Hunde, Katzen und Kängurus als Shopping-Animateure
  5. Megatrend Influencer-Livestreaming
  6. Austin Li – das Verkaufsgenie mit den schöngeschwungenen Lippen
  7. 200 Mitarbeiter testen Produkte – für nur eine Influencerin
  8. Viya streamt mit Kim Kardashian

Gerade ist nach Pekinger Ortszeit im Reich der Mitte der Singles‘ Day zu Ende gegangen – und hat am Ende innerhalb von 24 Stunden wohl alleine für den E-Commerce-Giganten Alibaba die unfassbare Rekordsumme von fast 35 Milliarden Euro Außenumsatz generiert. Mit einer Countdown-Gala, auf der weltweit bekannte Stars auftreten, sowie mit in China berühmten Livestreamern zelebriert der Konzern am Singles Day den Konsum – und steht damit exemplarisch für den chinesischen Trend zum „Retailtainment“. OMR erklärt, wie im Reich der Mitte E-Commerce-Konzerne Shopping und Unterhaltung miteinander verknüpfen.

Wenn Sie diesen Text heute, am 11. November lesen, ist am anderen Ende des eurasischen Kontinents gerade die größte digitale Schlacht des Planeten zu Ende gegangen: Beim Singles‘ Day, dem größten Rabatt-Aktionstag von Alibaba, Chinas größtem E-Commerce-Konzern, kämpfen angeblich 500 Millionen chinesische Konsumenten im Shopping-Wahn um stark im Preis gesenkte Produkte aus aller Welt. Die an diesem Tag generierten Umsätze dürften Händler und Marktplatzbetreiber der westlichen Welt schwindlig werden lassen: Alleine in einer einzigen, nämlich der ersten Minute des Tages wurden über Alibabas Marktplätze nach eigener Darstellung Waren im Wert von einer knappe Milliarde Euro verkauft. Ein Livecounter der Zeitung South China Morning Post (die sich im Besitz von Alibaba befindet) informiert permanent über den aktuellen Stand des „Gross Merchandise Volume“. Kurz nach Mitternacht chinesischer Zeit stoppt dieser bei rund 37,4 Milliarden US-Dollar – fast 35 Milliarden Euro.

Mit Taylor Swift in den Kaufrausch tanzen

Schon Wochen vor dem Singles‘ Day hatten viele chinesische Verbraucher Preise verglichen, Großeinkäufe mit Mengenrabatten durchgerechnet und vorgeplant, sich von künstlicher Verknappung stressen lassen und ihre Lieblingswaren im Warenkorb gespeichert. Die Wecker waren gestellt, am 11.11. ab 0 Uhr Pekinger Zeit wurde zugeschlagen. Wer heute morgen zu spät aufstand, riskierte ausverkaufte Shops. Wer gestern bis zum Startschuss aufbleiben wollte, konnte sich auf der Alibaba-Streaming-Plattform Youku mit der „Countdown-Gala“ in der Shanghaier Mercedes Benz-Arena die Zeit vertreiben, bei der neben zahllosen K-Pop-Superstars auch Taylor Swift live auftrat – Hauptsache unterhaltsam. Dass alleine die Produktion der Gala inklusive Gehälter der Gäste einen mindestens zweistelligen Millionenbetrag gekostet haben dürfte, ist keine allzu gewagte These.

Da der chinesische E-Commerce-Markt 2019 mit geschätzt 640 Milliarden Euro Umsätzen größer als alle E-Commerce-Märkte Nordamerikas und Europas zusammengerechnet sein wird, kann man beim Singles‘ Day durchaus von der größten Rabattschlacht der Welt sprechen. Umgerechnet 27 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete Alibaba in den 24 Stunden des Singles‘ Day im vergangenen Jahr auf seinen drei Plattformen Taobao, TMall und der Crossborder-Plattform TMall Global. Zum Vergleich: Die Umsätze am größten Shopping-Day in den USA, dem Cyber Monday, wurden 2018 auf umgerechnet sieben Milliarden Euro geschätzt und die deutschen E-Commerce-Umsätze auf allen Plattformen des gesamten Jahres 2018 lagen bei 64 Milliarden Euro.

16 Shopping-Events lösen immer neue Rabattschlachten aus

Als Feiertag ausgedacht hatten sich den Singles‘ Day 1993 alleinstehende Studenten der Universität Nanjing, die sich in den vier hintereinanderstehenden, „einsamen“ Einsen des Datums wiedererkannten und gegenseitig mit kleinen Geschenken trösteten. 2009 kaperte Alibaba-Manager Daniel Zhang auf der Suche nach einem unverbrauchten jungen Feiertag das Studentenparty-Datum und nutzte ihn für die ersten großangelegten Rabattaktionen des Konzerns – unter anderem das machte er so erfolgreich, dass er im vergangenen Jahr zum Nachfolger von Jack Ma und Vorstandsvorsitzenden von Alibaba ernannt wurde.

Der Singles‘ Day ist das größte Event in einer ganzen Reihe von Shopping-Festivals in China: Der Konkurrent JD.com hat für den 18. Juni (dem Gründungstag des Unternehmens) den Aktionstag 6.18 ins Leben gerufen. Nach eigenen Angaben hat JD an diesem Tag im Jahr 2019 ebenfalls umgerechnet 27 Milliarden Euro Umsatz gemacht. In der wettbewerbsintensiven Branche ziehen auch die Konkurrenten bei den Preissenkungen nach, egal, welche Plattform das jeweilige Festival gerade ausrichtet. Insgesamt zählt die E-Commerce-Agentur Azoya über das Jahr verteilt in China 16 einzelne Rabattaktionszeiträume zu Feiertagen wie Chinesisch Neujahr, Weihnachten, dem Frauentag und Aktionen kleinerer Plattformen – Chinas E-Commerce macht Discount-Jäger rund ums Jahr glücklich.

Der Singles‘ Day: „Ein Desaster für den Planeten“

Da viele chinesische Konsumenten nach wie vor sehr preissensibel sind und sich das Gesamtwachstum im chinesischen E-Commerce verlangsamt, werden vor allem die Rabattschlachten in Zukunft wohl nicht abnehmen – was E-Commerce in China für Händler weiterhin zu einem gefährlich margenarmen Geschäft macht. Kritik an dem weltgrößten Retail-Event wird auch von Umweltschützern laut: Greenpeace China nennt es ein „Desaster für den Planeten“, da Hunderte Tonnen Verpackungsmüll nicht recycelt würden. Alibaba gelobt ein „grünes 11.11 Shopping-Festival“ mit besseren Recycling-Möglichkeiten und Anreizen für Konsumenten, umweltschonende Produkte zu kaufen.

Die chinesischen E-Commerce-Konzerne wollen ihre Kunden nicht alleine mit Rabatten immer wieder zum Verkauf verführen. Remmidemmi und Rambazamba, Show und Glamour sollen ihren Teil dazu beitragen, die chinesischen Verbraucher in einen Konsumrausch zu versetzen. Alibaba wolle „die Linie zwischen Handel und Entertainment verwischen“, soll das Unternehmen bereits 2016 erklärt haben. „Alibaba ist kaum noch E-Commerce Plattform, sondern vielmehr Entertainment-Plattform“, so der deutsche Ali-Baba-Manager Christoph Isenbürger dann im Jahr 2018.

Hunde, Katzen und Kängurus als Shopping-Animateure

Alibaba selbst spricht in diesem Zusammenhang von „Entertainmerce“; in der Branche hat sich jedoch der Begriff Retailtainment stärker durchgesetzt. Der wurde schon Ende der 90er Jahre geprägt und bezeichnet eigentlich die Strategie, das Einkaufen im Laden und in Shopping Malls zum Erlebnis zu machen (im Stile von Abercrombie & Fitch). Mit dem Aufstieg des E-Commerce in China erfährt das Retailtainment eine überraschende Renaissance. Dazu gehören online vor allem Discount-Anreize und attraktives Content-Marketing, aber auch die Integration mit Aktionen offline in Shopping Malls und Läden. Mittlerweile eröffnen in China auch E-Commerce-Plattformen wie Taobao und TMall Supermärkte und Läden.

JD-Maskottchen

Davon, wie die chinesischen E-Commerce-Unternehmen den Retailtainment Ansatz digital umsetzen, bekommt man bereits einen Eindruck, wenn man eine x-beliebige chinesische Shopping-App öffnet. Gleich zum Start hüpfen, springen und wippen einem dort Figuren entgegen, die meist „tierisch niedlich“ sind: Das Maskottchen von JD.com ist ein knuddeliger Hund, über dem eine niedliche Logistik-Drohne mit Paket im Gepäck schwebt. Er taucht kopfnickend immer dann auf, wenn man sich durch das Angebot wischt oder Waren in die Buybox packt. Alibabas größte Plattform TMall heißt auf Chinesisch „Himmelskatze“ (Tianmao) und hat ein Katzenlogo. Die zweitgrößte Alibaba-Plattform nennt sich passend zum Namen des Mutterkonzerns „Schätze ausgraben“ (Taobao). Chinas größter Essenslieferdienst Meituan Waimai präsentiert ein euphorisches Känguru, das auf einem Roller über den Bildschirm rast. In E-Commerce-Apps wird die Gamification auf die Spitze getrieben: Jederzeit springen einem Willkommens-Gutscheine und Rabatt-Coupons in Form von Goldbarren, pulsierender Schatzkästen voller Geldstücke, sich drehenden Glücksrädern und roten Geldumschlägen entgegen.

Megatrend Influencer-Livestreaming

Willkommensgutschein für neue Kunden auf JD.com

Gefragt, warum die Plattformen im UX-Design durchgehend auf den Niedlichkeits- und Spielfaktor setzen, antwortet ein chinesischer Händler achselzuckend: „Sie wollen jung erscheinen und setzen auf die Millenials und Gen Z als Kundschaft“. Und in dieser Zielgruppe besonders beliebt sind Gruppeneinkäufe: Group Buying im Groupon-Stil ist ein weiterer fester Bestandteil jedes Marketingplans in China. Ganze Plattformen wie das börsennotierte Pinduoduo funktionieren digital organisiert über Masseneinkäufe im Freundeskreis. Schießt man in der TMall-App einen Produkt-Screenshot, wird man umgehend gefragt, ob man ihn mit seinen Freunden teilen möchte. Bejaht man dies, kann man zur Verschönerung noch zwischen einem Dutzend Stickern im Manga-Stil („macht mit!“) wählen, dann geht’s weiter zum eigenen WeChat-, QQ- oder Weibo-Account.

Der größte Trend der diesjährigen Shopping-Festivals ist sicherlich Live-Streaming. Zunächst im Gaming eingesetzt und seit 2016 bereits öfters totgesagt, erlebt das digitale Teleshopping in China seit etwa einem Jahr ein Revival. Alibaba, im elften Jahr des Singles‘ Day immer auf der Suche nach neuen Promo-Möglichkeiten, hypt den Trend nach Kräften. Auf allen Plattformen können die chinesischen User zu jeder Tages- und Nachtzeit Verkäuferinnen und Verkäufern dabei zusehen, wie sie Produkte, vor allem Mode, selber anziehen und anpreisen. Per Chat-Funktion erfragen Zuschauer Produktinfos, die die Live-Streamerinnen in Echtzeit beantworten und demonstrieren.

Austin Li – das Verkaufsgenie mit den schöngeschwungenen Lippen

Der Unterschied zu den Seidenhalstücher und Perlenketten verscherbelnden QVC-Damen im TV-Teleshopping der 90er Jahre ist nicht besonders groß – außer dass die Live-Streaming-Stars zur Gen Z gehören, herumalbern, mit noch jüngeren Verkaufsassistenten-Sidekicks plaudern, kleine weiße Hunde knuddeln und ihre Shows über das eigene Handy streamen, was die Sessions charmant improvisiert und spontan wirken lässt. 2019 verkaufte Taobao nach eigenen Angaben bislang allein über seine 4.000 Livestream-Hosts Waren im Wert von umgerechnet 61 Millionen Euro, ein Zuwachs von 430 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Jahresumsatz von Top-Livestreamern liegt mittlerweile über dem großer Brands.

Zwei Beispiele: am 10. Oktober setzte die Livestreamerin Viya Waren im Wert von umgerechnet 46 Millionen Euro an einem einzigen Tag um und streamte am vergangenen Mittwoch zusammen mit Kim Kardashian. Superstar Austin Li verkaufte einmal angeblich online 15.000 Lippenstifte in 15 Minuten. Der Hype um Austin Li ebbt seit zwei Jahren nicht ab. Der Mann mit den schönen, geschwungenen Lippen, testet Luxusmarken-Lippenstifte live an sich und hat damit eine riesige weibliche Fan-Followerschaft angesammelt. Die Art und Weise, mit der er fachmännisch Textur, Pigmentierung und Farbschattierungen der Lippenstifte beschreibt und oft schonungslos kritisiert, ist neu und hat hohen Unterhaltungswert. Oft sind in seinen Clips auch noch ein Freund, ein kleiner Hund und eine Freundin zu sehen, was diesen fast Sitcom-Charakter verleiht.

200 Mitarbeiter testen Produkte – für nur eine Influencerin

Li wurde 1992 in der ländlichen Provinz Hunan geboren, studierte Tanz und verkaufte im Nebenjob Kosmetika von L’Oreal, wodurch er zum Make-up-Experten wurde. 2017 stieg er Vollzeit ins Livestreaming-Geschäft ein und streamt seitdem jeden Abend zur Primetime um 20 Uhr auf Taobao. Zum Singles‘ Day im vergangenen Jahr trat er in einem Alibaba-Promo-Video (ab 1:31) in einem live gestreamten Sales-Wettstreit gegen Jack Ma an, der sich zum Lippenanmalen dann aber zu sehr genierte und entsprechend verlor.

Während Austin Li mutmaßlich die meiste Beachtung erfährt, generiert Live-Streamerin Viya die höchsten Umsätze auf Taobao Live. Angeblich testet ihr Mitarbeiterstab alle Produkte durch, bevor Viya sie verkauft, um das Vertrauen ihrer Followerschaft in sie nicht aufs Spiel zu setzen – eine Währung, die im von Lebensmittelskandalen und Fälschungen geplagten China Grund für den Erfolg von Influencern und Live-Streamern ist.

Viya streamt mit Kim Kardashian

Ein weiteres Erfolgskriterium sind ihre Kollaborationen mit anderen bekannten Influencern und Live-Streamern, die in ihren Shows auftreten und den Unterhaltungswert weiter steigern. Bekanntester Co-Host war bislang am 6.11. Kim Kardashian, die aus New York zugeschaltet wurde, als Viya ihre Perfümserie „KKW Lips“ promotote. Auch mit dieser Initiative – internationale Celebrities als Live-Streamer für chinesisches Publikum zu gewinnen – versucht Alibaba, den „Retailtainment“-Faktor im Marketing hoch zu halten.

Fraglich bleibt, ob Chinas Retailtainment-Instrumente auf die westliche Online-Shoppingwelt übertragbar sind. Aber warum nicht einmal ausprobieren? Vielleicht ist es Zeit für ein About You-Maskottchen oder deutsches Superstar-Verkaufstalent, auf dessen Instagram-Account alle immer zurückkommen, weil dort jeden Abend eine live gestreamte Show stattfindet, die man einfach nicht verpassen will – auch weil die Follower-Fragen aus dem Publikum so unterhaltsam sind.

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