„Das Marketing-Team ist der Treiber der digitalen Transformation“

Martin Gardt23.11.2016

Adobes Strategie-Chef Digital Marketing John Mellor über den Marketing-Job der Zukunft

John Mellor Adobe
John Mellor, VP Business Development & Marketing bei Adobe

Digitale Transformation, künstliche Intelligenz, Experience Business: Mit diesen Buzzwords muss John Mellor hantieren, um kurz und knapp zu erklären, wo im digitalen Marketing die Reise hingeht. Wir wollten mal ein bisschen genauer wissen, was hinter den Begriffen steckt und wie Marketer sich auf die Zukunft einstellen sollten. Hier gibt’s die Antworten:

Online Marketing Rockstars: Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Entwicklungen im digitalen Marketing und welchen Herausforderungen müssen sich Marketer stellen?  John Mellor: Viele Experten gehen das Problem meist sehr wissenschaftlich an, wenn sie Trends und nötige Veränderungen im Online Marketing oder in Unternehmen insgesamt beschreiben. Ich denke, dafür gibt es keinen Grund. Schau einfach darauf, wie wir leben. Jeder hat sein Smartphone hier auf dem Tisch liegen, während wir diese Unterhaltung führen, denn so arbeiten wir heute. Schau dir die Laptops, Tablets und Connected Devices an, die wir benutzen. Also: Wir als Konsumenten ändern unseren Lebensstil gerade grundlegend. Wir ändern, wie wir unsere Zeit verbringen, wie wir einkaufen – und das passiert gerade auf der ganzen Welt. Unternehmen müssen ihre Kunden in vielen verschiedenen Kanälen erreichen.

Welche Herausforderungen kommen damit gerade auf Marketer zu? Du musst mit der Fragmentierung der Nutzer und gleichzeitig mit geringerer Toleranz für schlechte Werbung zurechtkommen. Ich denke, das ist eine Aufgabe, über die nicht oft genug gesprochen wird, denn selbst ich persönlich bin sehr intolerant gegenüber schlechter Werbung geworden. Ich verlasse eine Webseite, ich lösche eine App, wenn ich finde, dass mir die Ads nichts nützen und nicht in mein Leben passen. Das lädt eine besondere Last auf Online Marketer. Sie müssen eine unglaubliche Menge an Daten verarbeiten und sie brauchen Tools, die es ihnen erlauben, nicht nur die Daten zu sammeln und zu verstehen, sondern daraus auch die richtigen Schlüsse zu ziehen – um den Nutzern dann in Echtzeit das richtige Erlebnis auszuspielen. Ich würde sagen: Die Herausforderungen für Marketer sind die wahnsinnigen Massen an Daten – also diese zu sammeln und zu organisieren – und daraus Prozesse zu entwickeln, in denen die Daten über verschiedene Kanäle hinweg verarbeitet werden.

Und das ist nur die technologische Seite des Problems. Die andere Seite ist: Wie finde ich die richtigen Talente? Wie bilde ich meine Mitarbeiter so weiter, dass sie mit all den neuen Tools umgehen können? Wie organisiere ich mein Unternehmen? Wie übertrage ich meine Fähigkeiten auf andere Kollegen im Sales- oder Produkt-Team? Denn wenn die Marketing-Abteilung einen guten, aber das Produkt- oder Kundenbetreuungs-Team einen schlechten Job macht, entstehen ganz neue Probleme.

Wir stecken in so einer massiven Phase der Veränderung und wohl oder übel trägt das Marketing-Team dabei eine große Verantwortung.

Zum Thema nervige Ads: Scott Galloway sagte zuletzt, dass Werbung eine Steuer für Arme sei und sich viele Nutzer mit Subscription Services wie Netflix oder Spotify aus Werbeumfeldern herauskaufen würden. Wie kann man auf diese Entwicklung reagieren? Ich denke, dass sich die Definition von Werbung deutlich wandeln wird. Ein Beispiel: Wenn ich verreise, wohne ich in Starwood Hotels. Dabei sehe ich kaum Starwood-Ads, aber ich nutze ihre App. In meiner Welt ist die App die beste Werbung. Dort verbringe ich meine Zeit und ich brauche kein „Jetzt kaufen!“, „Jetzt buchen!“ in der App, ich brauche nützliche Funktionen. Das Produkt muss in mein Leben passen. Die App hat größeren Einfluss auf mich, als es jede Art von Werbung jemals erreichen könnte. Wir müssen unsere Sicht auf Ads also grundlegend ändern. Weg von Impressions-abhängigen Display-Ads, hin zu Werbung, die weniger aufdringlich daherkommt.

Muss der perfekte Marketer heute auch ein Nerd sein? Marketing war mal die Schöne-Bilder- und Überschriften-Abteilung. Heute ist die Branche viel stärker von Daten und Wissenschaft getrieben. Die linke Hirnhelfte wird im Marketing so wichtig wie die rechte.

Digitale Transformation ist derzeit ja ein absolutes Buzzword. Aber wie können Unternehmen das Thema ganz real angehen? Wenn ich mir Unternehmen, die den Prozess erfolgreich meistern, anschaue, sehe ich eine Gemeinsamkeit: Jeder dort ist vom Ziel der digitalen Transformation überzeugt – vor allem die Chefetage. Ohne die oberste Ebene wird das ziemlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Bei Mercedes kommt es vom CEO. Er hat verkündet, dass sie ein digitales Unternehmen werden wollen. Zuletzt habe ich mich mit Franke Kitchen Systems getroffen und da ist es das gleiche: Ein Chef, der garantiert hat, dass das Unternehmen digital wird. Das erlaubt es dem Marketing-Team, Investitionen sofort zu verlagern. Zu Franke: Der CMO hat mir erzählt, dass sie im ersten Jahr der Transformation 80 Prozent des Marketing-Budgets für internes Marketing ausgegeben haben. Einfach um den Angestellten zu erklären, was digitale Transformation überhaupt ist und was sie für das Unternehmen bedeutet. Sie mussten erklären, wie sich der Job im Kundenservice, in der Produktion und all diesen Bereichen verändert.

Welche Traditionsmarken haben es in den letzten Jahren geschafft, zu einem digitalen Unternehmen zu werden? Jetzt mal aus einer ganz persönlichen Sichtweise: Ich reise viel und deshalb ist Delta Airlines für mich ein gutes Beispiel. Ich kaufe ja nicht mehr nur ein Ticket, um von München nach Hamburg oder von Amsterdam nach Salt Lake City zu kommen. Ich bezahle nicht nur für den Transport. Ich bezahle für die Möglichkeit, online günstig nach Flügen suchen zu können, dafür, eine Benachrichtigung über Verspätungen zu bekommen, ich bezahle dafür, dass im Flugzeug das Entertainment-System auf mich eingestellt ist und weiß, was ich gern sehe. Ich bezahle dafür, mein Gepäck jederzeit mit dem Smartphone tracken zu können. Das wird so wichtig für mich, wie der Transport-Aspekt an sich. Delta hat es geschafft, ein Erlebnis rund um das Kernprodukt zu spinnen. Ich finde aber auch, dass Medienkonzerne wie HBO einen guten Job machen. Dank HBO Go kann ich meine Serien überall anschauen.

Was ist die Rolle von Adobe in Unternehmen, die digitale Transformation anstreben? Da gibt es eine Reihe von Aufgaben: Adobe ist in erster Linie ein Technologie-Unternehmen und unsere Priorität ist es, die beste Technologie-Plattform für Marketer zu sein. Wir müssen eine vollständige Produktpalette anbieten und diese Produkte einfach bedienbar machen. Digitales Marketing ist komplex und wir sollten daran arbeiten, simplere Lösungen zu entwickeln.

Ich denke, dass Adobes Rolle außerdem darin besteht, die Community zusammen zu bringen. Networking-Events sind aus meiner Sicht so wichtig, weil alle gemeinsam auf einer Reise sind. Niemand hat die absolute Lösung parat. Niemand ist glücklich mit dem aktuellen Stand. Wir ringen alle gemeinsam mit den Problemen der Branche. Aber umso stärker die Community zusammenkommt und voneinander lernt, desto mehr können wir das Wachstum der Online Marketing Branche vorantreiben. Eine große Schwierigkeit ist ja aktuell, passende Talente zu finden. Es gibt eine riesige Nachfrage nach guten digitalen Marketern und wir wollen mit leicht verständlichen Produkten und passendem Training dabei helfen, diese Nachfrage zu stillen.

Jeder Nutzer hat mehrere Geräte: Wie löst Adobe das Attributions-Problem? Wir konzentrieren uns seit einer Weile auf diese Aufgabe und haben im März 2016 Device Co-op vorgestellt. Das Programm erlaubt es uns, mehrere Geräte eines Nutzers zu verbinden. Co-op läuft jetzt schon seit einer Weile in einem Beta-Test und wir wollen es 2017 für jeden Adobe-Kunden verfügbar machen. Es ist zwar bisher leider nur in den USA verfügbar, aber wir arbeiten derzeit eng mit den Datenschutz-Stellen in Europa zusammen. Wir wollen hier in Sachen Datenschutz auch eine Vorreiterrolle einnehmen. Anfang nächsten Jahres hoffen wir dann auch Neuigkeiten für Europa verkünden zu können.

Welche Rolle könnte künstliche Intelligenz im Marketing der Zukunft spielen? Es gibt keine Möglichkeit, dass Menschen die Menge an Daten verarbeiten können, mit der zum Beispiel unsere Firmenkunden zu tun haben. Wir investieren deshalb schon seit längerem in künstliche Intelligenz (AI). Gerade haben wir das Sensei-Framework angekündigt, das über die komplette Adobe-Plattform hinweg funktionieren soll – egal ob Marketing-, Creative- oder Document-Cloud. Hier ein paar Beispiele, wie das funktionieren könnte: Im Content Management-Bereich der Marketing-Cloud haben es unsere Kunden mit Hunderten, Tausenden, manchmal sogar Millionen Bildern zu tun. Die mussten sie bisher in ihr System importieren, katalogisieren und durchsuchbar machen. Eine der Technologien, die wir entwickelt haben, setzt auf maschinelles Lernen im Umfeld dieser Datensätze und generiert selbstständig Keywords. Zeigt das Bild einen Bus, weiß das Programm, dass es ein Bus ist, er ist gelb, er fährt eine Straße herab und steht vor grünem Rasen. Diese Keywords werden aus dem Bild extrahiert und für die Marketing-Abteilung durchsuchbar.

Dazu kommen Bereiche wie schon die angesprochene Attribution oder Anomalie-Erkennung. Wenn zum Beispiel bei einem Online-Shop plötzlich die Conversion Rate explodiert, braucht der Betreiber ein System, das erkennt, was diese Anomalie verursacht hat. Unsere Anomalie-Erkennung mit künstlicher Intelligenz durchsucht die Daten und zeigt, was den ungewöhnlichen Conversion-Sprung wahrscheinlich ausgelöst hat – zum Beispiel: Ein Schuh ist im Sale oder Oprah Winfrey hat über eines deiner Produkte gesprochen. Das sollte den Job des Marketers einfacher machen, weil die Ansprüche in Sachen Daten- und Content-Verarbeitung übermenschlich sind.

Welche KPIs sind auch in Zukunft entscheidend für Marketer? KPIs sind natürlich abhängig vom Unternehmen und der Branche. Klassische KPIs wie Conversion Rate und Lifetime Value bleiben wichtig. Auf dem weiteren Weg werden Marketer aber für mehr als nur für Marketing verantwortlich sein. In einer idealen Welt werden Marketer die digitale Transformation von Unternehmen vorantreiben. Marketing wird dabei weiterhin die traditionellen KPIs beachten, aber es besteht eine riesige Chance für die Online Marketing Rockstars da draußen, nicht nur Marketing, sondern auch Digital Transformation Rockstars zu sein. Sie haben mehr Erfahrung darin als jede andere Abteilung in einem Unternehmen. Ich denke, sie werden eine immer größere Verantwortung für die Zufriedenheit der Kunden tragen. Wenn man zum Beispiel an Net Promoter Score (NPS – Wahrscheinlichkeit, mit der ein Kunde ein Unternehmen weiter empfiehlt) oder Kundenzufriedenheits-Werte denkt, so werden sie von mehr getrieben als nur dem ROI (Return on Invest) einer Keyword-Kampagne. Sie werden von dem Erlebnis getrieben, das ein Kunde mit dem Kauf, Konsum und Service rund um das Produkt hat. Das findet auf einer Makro-Ebene statt, die den Prozess ganzheitlicher betrachtet.

Jetzt sind wir ja wieder beim Erlebnis und Experience Business als Buzzword: Wie soll man denn eine Experience messen? Das ist eine gute Frage, denn außergewöhnliche Erlebnisse kosten Unternehmen meist sehr viel Geld. Ich hatte ein ganz persönliches Erlebnis vor einiger Zeit: Ich habe während der Renovierung meines Hauses eine Menge Zeug bei Home Depot (großer Baumarkt in den USA) gekauft. Ich bin dann nochmal hingefahren, weil ich einen kleinen Schlüssel für die Einstellung meiner Sprinkler-Anlage brauchte. Das kleine Plastikteil kostet 69 Cent. Und ich stand im Home Depot und habe mich gefragt: „Wie zur Hölle finde ich das Ding?“ Ich habe dann die App geöffnet und dort die Produktseite des Sprinkler-Schlüssels gefunden.

In der App gibt es eine Karte des kompletten Baumarkts, die ich öffnen konnte – auch in 3D. Dort konnte ich dann genau sehen, wo mein Produkt liegt. Ich dachte nur: „Was für eine großartige Erfahrung das war.“ Home Depot hat mir dabei geholfen, ein 69-Cent-Produkt zu finden. Wer soll aber hier den ROI messen?

Ich denke aber trotzdem, dass es wichtig ist, die Kraft von Erlebnissen zu messen. Das wird von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sein. Die Messung wird wiederum auf einer Makro-Ebene stattfinden und dann mit einem Net Promoter Score oder Customer Lifetime Value dargestellt. Wenn die Kunden über die verschiedensten Kanäle Produkte kaufen, wird es ja auch immer schwieriger, den Erfolg einzelner Kampagnen auf ROI-Basis zu messen. Marketer müssen in den nächsten fünf bis zehn Jahren herauszoomen und mehr auf Makro-Kennzahlen achten.

Was macht Adobe, um beim Herauszoomen zu helfen? Die große Vision ist, dass sich die Marketing Cloud zu einer Experience Business Cloud entwickelt. Ich sage das so, weil wir und andere Technologie-Unternehmen, die mit Marketing-Lösungen gestartet sind, mit hohem Tempo darüber hinaus gehen. Wir reden über die Fähigkeit, das komplette Unternehmen digital umzukrempeln. Adobe will die Plattform sein, die Unternehmen die digitale Transformation ermöglicht. Wir wollen keine ERP (Enterprise Resource Planning)- oder CRM-Systeme ersetzen, die bleiben und spielen eine wichtige Rolle. Aber es gibt ein Level an Informationen über die Kunden und wie sie mit dem Unternehmen interagieren. Diese müssen wir verfügbar und nutzbar machen, damit das Marketing-Team damit agieren kann – in Echtzeit. Das schafft bisher kein anderes System, das das so gut macht wie Adobe.

MG
Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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