Tiktok-Durchstarter Tahsim Durgun: "Brands müssen sich trauen, öffentlich für Gerechtigkeit einzustehen"

Im Interview erklärt der deutsch-kurdische Content Creator, wie Humor und Satire effektive Waffen gegen rechte Ideologien sein können.

Der deutsch-kurdische Content Creator Tahsim Durgun will auf Tiktok unterhalten, aber auch zum Nachdenken anregen. Foto: Younes Al-Amayra, bearbeitet mit Freepik AI

Mit einem viralen Tiktok-Video über die drei besten Verstecke bei einer drohenden Abschiebung schaffte es Tahsim Durgun Anfang des Jahres auf die bundespolitische Bühne. Nach der Zitierung im Bundestag ging es für den Lehramtsstudenten aus Oldenburg rasant weiter: Seine pointierten Videos über Alltagsrassismus, AfD-Politik und das Leben als Sohn kurdischer Einwanderer katapultierten ihn in die oberste Liga der deutschen Social-Media-Szene. Auf Tiktok bekommen Durguns Videos regelmäßig Millionen Views, er hat den Grimme Online Award gewonnen, gerade wurde er beim Videodays Festival zum Creator des Jahres gekürt. Im Interview spricht er über seine Kindheit als "Fernsehjunkiekind", die Kraft von Humor im Kampf gegen Rassismus und fordert Mut von Werbepartnern.

OMR: Innerhalb eines Jahres ist dein Tiktok-Kanal @tahdur durch die Decke gegangen, inzwischen folgen dir mehr als 470.000 Follower*innen. Der heimliche Star deines Accounts ist aber deine Mutter. Wie steht sie zu deiner Tiktok-Karriere? 

Tahsim Durgun: Meine Mama kam letztens zum ersten Mal auf mich zu. Es gibt so ein kurdisches Rezept und sie stellt immer ihren eigenen Joghurt her. Das war das erste Mal, dass sie gesagt hat: Komm, lass uns mal ein Video darüber machen. Es war so ein stolzer Moment aus ihrem Alltag, den sie im Video teilen wollte. Aber trotzdem ist ihr gar nicht bewusst, was alles dahintersteckt. Ich hab ihr gesagt, dass ich in Köln bin beim Videodays Festival, aber sie hat keine Ahnung, dass das in so einer Form stattfindet, mit so vielen Menschen. Das erste Mal, dass sie verstanden hat, dass mehr dahintersteckt und welche Möglichkeiten sich da für mich ergeben, war glaube ich die Zitierung im Bundestag und jetzt auch kürzlich der Gewinn des Grimme-Awards.  

Steigt mit der Reichweite auch das Verantwortungsgefühl, sie zu nutzen? Auch als Sprachrohr für andere Menschen mit Migrationshintergrund?

Tahsim Durgun: Es haben sich durch die Reichweite Möglichkeiten ergeben, die ich sonst nicht gehabt hätte, zum Beispiel, dass ich ein Buch schreiben durfte. Darüber freue ich mich natürlich, aber vor allem nutze ich diese Chancen vehement dafür, die Geschichte meiner Mutter zu erzählen. Ich würde behaupten, dass jeder Mensch in Deutschland eine Frau wie meine Mutter kennt. Wenn man in der Bahn oder im Bus unterwegs ist, sieht man irgendwo in der Ecke diese Frau mit übergeworfenem Kopftuch, die laut telefoniert, oder sie begegnet einem im Supermarkt. Bisher wurden diese Frauen immer als Nebendarstellerinnen in dieser Gesellschaft dargestellt und als nicht allzu wichtig wahrgenommen. Aber es ist überfällig, dass sie mehr Anerkennung bekommen, nicht nur aus unserer Kultur, sondern von Deutschland allgemein. Deswegen nutze ich meine Reichweite dafür, nicht nur meine Mama sichtbar zu machen, sondern ganz viele Frauen da draußen, die so sind wie sie. 

Würdest du dich selbst als Inspiration für andere Jugendliche mit Migrationshintergrund bezeichnen? 

Tahsim Durgun: Ich glaube, schon alleine das bloße Aufzeigen von Menschen mit Migrationshintergrund auf Social Media ist gerade wichtiger denn je. Da steckt auch kein großes Hexenwerk hinter. Oft sind es ganz einfache, alltägliche Begebenheiten, die ich in meinen Videos zeige. Wenn ich mit meinem Neffen Dubai-Schokolade selber mache oder zeige, dass ich aus einem Elternhaus komme, in dem Bildung keine große Rolle gespielt hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich damit sehr, sehr viele Menschen in Deutschland identifizieren können, weil sie ähnlich aufgewachsen sind wie ich. 

Du bist 29 Jahre alt und kannst dich wahrscheinlich auch an eine Kindheit und Jugend ohne Handy und Social Media erinnern ...   

Tahsim Durgun: Ja, ich hatte, glaube ich, erst mit 14 Jahren mein erstes Smartphone. Aber in meiner Familie hatten wir auch sehr spät Wlan zu Hause. Alle in meiner Klasse hatten schon einen Internetanschluss, aber meine Eltern haben sich immer dagegen gewehrt.  

Heute wachsen Kinder ganz anders auf, in der Schule hat fast jede*r ein Smartphone. Siehst du Social Media für Jugendliche mit Migrationshintergrund als Chance, etwa dadurch, dass Vorbilder wie du sichtbarer sind? Oder sind sie dadurch auch rassistischen Kommentaren oder Content stärker ausgesetzt, der durch Social Media ja eine Bühne bekommt? 

Tahsim Durgun: Man könnte sagen, dass es Fluch und Segen zugleich ist. Aber wenn die höhere Präsenz von Menschen wie mir zu mehr rassistischen Kommentaren führt, würde ich fast behaupten, dass ich diesen Rassismus wohlwollend annehme. Es ist einfach viel wichtiger,  dass Menschen mit Migrationshintergrund präsent sind und es gibt sehr viele Kinder da draußen, denen das viel bedeutet. Ich war zum Beispiel ein unglaublich großes Fernsehjunkiekind. Aber in all den Shows und Serien, die ich mir angeguckt habe, waren kaum Leute wie ich. Auf Tiktok oder Instagram müssen wir die Chance nutzen und viel mehr Diversität zeigen. Es gibt so viele Content Creator mit Migrationshintergrund da draußen, die viel mehr Wertschätzung und Sichtbarkeit verdient hätten, El Deno zum Beispiel. Und dann gibt es weiße Creator, die dieses Jahr so aus dem Boden geschossen sind und gerade alles mitnehmen, obwohl andere mit Migrationshintergrund so viel länger dafür arbeiten.

Was könnte sich durch diese stärkere Präsenz verändern?  

Tahsim Durgun: Es ist kein Geheimnis, dass auch Tiktok immer rechter wird und dass Menschen aus dem rechten Flügel auch immer mutiger und skrupelloser werden, dieses rechte Gedankengut auf Tiktok zu äußern. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Gegenpol unsererseits hergestellt wird, dass sich Migra-Creator trauen, hervorzutreten, sichtbar zu werden. Aber nicht nur, um zu sagen: Rechts ist scheiße und die AfD ist scheiße, sondern auch um zu zeigen, wie wir leben, und den Leuten vor Augen zu führen, dass wir ganz normale Familien sind.

Du nutzt Humor und Satire als Mittel für diesen Gegenpol, bekanntestes Beispiel ist dein Video “Top 3 Verstecke, wenn du abgeschoben wirst” als Reaktion auf die Correctiv-Enthüllungen zum Potsdamer Geheimtreffen von Rechtsextremen. Warum ist humorvoller Content bei politischen Themen ein wirksamer Hebel? 

Tahsim Durgun: Das war schon immer privat so, dass ich in wirklich beklemmenden Situationen Witze gerissen habe. Das liegt an meiner Person, weil ich mit beschwerlichen Situationen einfach nicht so gut umgehen kann. Und so ist auch diese Art von Content entstanden. Aber es hat sich erwiesen, dass Satire in diesem Kontext sehr gut funktioniert, weil die Leute auf Tiktok natürlich unterhalten werden wollen. Niemand möchte die For-you-Page runterscrollen und nur schlecht gelaunt sein. Aber ich will auch zum Nachdenken anregen und leider sind es ja gerade diese wichtigen Themen, die schlechte Laune auslösen. Deswegen ist es ein sehr effektiver Mittelweg, auf den ersten Blick diesen Comedymoment hervorzurufen. Aber ich versuche möglichst viele Videos mit einem dumpfen Schlag in die Fresse zu beenden, damit verstanden wird: Ja, okay, alles hihihi, aber dieses Land geht den Bach runter.

Solche Schläge verteilst du auch an die AfD. Die Partei verbreitet ihre Inhalte auf Tiktok offenbar erfolgreicher als andere Parteien. Kann man ihr so etwas entgegensetzen?

Tahsim Durgun: Mein Schlag in die Fresse alleine reicht natürlich nicht aus. Es ist wichtiger, dass man sich verbündet und ganz viele Schläge verpasst werden von verschiedenen Leuten. Aber wenn ich meine For-You-Page runterscrolle, hat es bei mir den Anschein, als wären alle politisch korrekt, als würde niemand die AfD wählen. Aber trotzdem sieht man ja an den Wahlergebnissen, dass sie unglaublich erfolgreich sind. Das heißt, leider Gottes, reicht dieser Content nicht aus. Natürlich habe ich das große Privileg, dass ich viele Leute erreichen kann und aufzeigen kann, wie gefährlich diese Partei ist. Aber wir müssen noch ganz, ganz viele Schritte zurückgehen und vermutlich sogar in der Schule anfangen.

Du hast als Lehramtsstudent ja einen guten Einblick. Was sollte da geändert werden?

Tahsim Durgun: Das deutsche Bildungssystem ist schon ein gutes, aber auch da besteht noch sehr viel Nachholbedarf. Ich habe unter anderem Geschichte studiert auf Lehramt und in der Geschichtsdidaktik spricht man immer vom Gegenwartsbezug. Also man kann alles, was heute passiert, ummünzen auf vergangene Geschehnisse. Und deswegen ist der Geschichtsunterricht umso wichtiger aktuell. Wir müssen schon früh in der Schule ansetzen und den Kindern noch bewusster machen, wie lehrreich Geschichte für uns ist, was man daraus für die heutige Zeit ziehen kann. Die Zeitzeugen aus dem Nationalsozialismus sterben immer mehr aus. Ich denke, man darf die Chance nicht verpassen, dass wir diese Menschen noch treffen können, mit ihnen reden und aus ihren Geschichten lernen können.

Du hast in einem Interview auch mal gesagt, du wünschst dir, mit Nazis und Rassisten in den Dialog zu treten… 

Tahsim Durgun: Ja, dabei geht es mir nicht darum, diese Leute zu konfrontieren. Sondern ich glaube, so viele Nazis und AfD-Wähler da draußen haben so einen verengten Horizont, dass denen gar nicht bewusst ist, inwiefern einfach zwischenmenschliches Aufeinandertreffen manchmal ausreichen könnte, um ihnen aufzuzeigen, wie blödsinnig diese Parteiinhalte und Rassismus sind. Aber ich überlege noch, in welcher Form sich das umsetzen lassen könnte.

Ganz anderes Thema zum Schluss: Viele Content Creator erzielen hohe Einnahmen durch Kooperationen und Werbung. Ist es in deiner Content-Sparte, in der es oft politisch wird, schwerer, Werbepartner zu finden?

Tahsim Durgun: Es kann auf jeden Fall mühsamer sein, aber es ist auch ein Wandel spürbar. Mehr Brands sind dazu bereit, das kreative Zepter abzugeben an die Creator und ihnen zu vertrauen. Sie werden auch mutiger, sich auf Leute einzulassen, die sich gesellschaftlich positionieren. Das war mal anders. „Zu politisch“ hört man hier und da, was völliger Schwachsinn ist. Das öffentliche Einstehen für Gerechtigkeit ist kein brisantes Statement. Brands, die sich weigern, ein Teil davon zu sein, tragen teilweise dazu bei, dass Creator verstummen. 

Wonach suchst du dir deine Werbepartner aus?

Tahsim Durgun: Für mich ist kreative Freiheit das A und O. Ich möchte, wie in meinen regulären Videos, Geschichten erzählen, ohne dass ich dabei in einem Briefing-Chaos voller To-Do‘s und Marketing-Slogans untergehe. Die Botschaft wird übermittelt – aber im vertrauten Stil der Creator.

Was wünschst du dir, wie es für dich 2025 weitergeht? 

Tahsim Durgun: Daran möchte ich gerade nicht denken. 2024 zerrt noch zu sehr an meinem Terminkalender. Ich lasse es einfach wieder auf mich zukommen. Aber Buch und Tour sind ja schon sicher und bestimmt noch andere Projekte. Und die Bundestagswahlen stehen ja auch an.

TikTok
Tanja Karrasch
Autor*In
Tanja Karrasch

Tanja Karrasch ist Redakteurin bei OMR. Sie hat bei der Tageszeitung Rheinische Post volontiert und anschließend als Redakteurin gearbeitet. Vor ihrem Wechsel zu OMR arbeitete sie für die TV-Produktionsfirma Bavaria Entertainment und war als Redaktionsleiterin für zwei ZDF-Shows zuständig.

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