Wie „MSCHF“ virale Hypes mit Jesus-Sneakern und geklauten Netflix-Streams baut

Martin Gardt14.7.2020

MSCHF baut mit verrückten Stunts eine Brand – jeder neue Drop mit 1.000 Produkten ist in wenigen Minuten ausverkauft

Jesus-Schuh von MSCHF
Der Jesus-Schuh von MSCHF – befüllt mit Wasser aus dem Jordan

Eine kleine Firma aus New York sorgt alle zwei Wochen mit besonderen Viralprojekten für Aufmerksamkeit: MSCHF erzeugt um jeden seiner Drops einen riesigen Hype – egal ob es ein Nike-Schuh mit „heiligem“ Wasser ist, oder eine App, bei der Nutzer 25.000 Dollar gewinnen können, wenn sie ihren Finger nicht vom Smartphone-Display nehmen. Wir zeigen, wie MSCHF den Kern der Viral-Kultur trifft und so eine von Produkten und Plattformen unabhängige Brand baut.

So richtig weiß nicht einmal Gründer Gabriel Whaley, was MSCHF eigentlich ist (der Name steht wohl für „mischief“, Englisch für Unfug). Das 2016 gegründete Unternehmen wurde schon Brand, Gruppe oder Kollektiv genannt. „Eine Marke wovon? Ich habe keine Ahnung. Ein richtiges Unternehmen zu sein, zerstört irgendwie die Magie“, schwadroniert Gründer Whaley gegenüber Business Insider. „Wir versuchen Dinge zu machen, die die Welt nicht einmal definieren kann.“ Im Zentrum von MSCHF stehen in jedem Fall die zehn Mitarbeiter – alle zwischen 22 und 32 Jahre alt. Bis zum vergangenen Jahr hatte das Team als Marketing-Agentur nebenbei noch Kampagnen für Brands wie das Matratzen-Startup Casper erdacht.

Viral-Produkte in Eigenregie

Heute sitzen sie jeden Tag in ihrem Büro in Brooklyn zusammen, um den nächsten Drop von MSCHF vorzubereiten. Dabei heraus kommen dann so verrückte Ideen wie heilige Nike-Schuhe, eine Box, die Käufer NICHT öffnen sollen oder ein Chrome-Plugin, dass den Netflix-Stream wie ein Hangout-Meeting aussehen lässt. Eines haben all diese Einfälle gemeinsam: Millionen Menschen lesen in den Medien darüber, kaufen die Produkte und sprechen darüber – ganz egal, was MSCHF anbietet. Das hat offenbar auch Investoren überzeugt, die gerade über elf Millionen US-Dollar in das kleine Unternehmen gesteckt haben.

Das bisher wohl erfolgreichste und in diesem Artikel auch bisher am meisten genannte Produkt von MSCHF ist der „Nike Air Max 97 MSCHF x INRI Jesus“. Die Sohle des Schuhs hat das Unternehmen nach eigenen Angaben mit „heiligem Wasser“ aus dem Jordan gefüllt. An den Schürsenkeln hängt ein Kreuz inklusive goldener Jesus-Figur. Laut MSCHF habe das Unternehmen 1.000 Schuhe hergestellt – und diese nach dem Drop im Oktober 2019 innerhalb von Minuten für 1.425 US-Dollar pro Stück ausverkauft. Nike wusste übrigens nichts davon und war nicht involviert.

Die Hype-Maschine läuft an

Sofort entsteht über die Medien ein enormer Hype – die Story um den Jesus-Schuh mit dem absurden Preis ist einfach zu gut. In den USA berichten Vice, Esquire, CBS News, Cosmopolitan und Late-Night-Talker Seth Meyers. US-Superstar Drake zeigt in seiner Instagram-Story, dass er ein Paar erstanden hat. Der Hype lässt den Preis der Schuhe sofort nach oben schnellen. Auf der Resell-Plattform StockX kosten einzelne Paare Ende 2019 über 3.000 US-Dollar. Noch heute muss man mindestens den Originalpreis für die Schuhe auf den Tisch legen.

MSCHF-Schuhe auf StockX

Die Jesus-Schuhe von MSCHF werden auf Plattformen wie StockX immer noch für viel Geld verkauft.

Der Jesus-Schuh steht symbolisch für den Stil von MSCHF: Das Team schnappt sich meist Themen, zu denen möglichst viele Menschen Zugang haben (in diesem Fall: Kirche, Sneaker, Hype, Kollaborationen) und treiben diese auf die Spitze. Es gehe darum, aktuelle Entwicklungen zu kommentieren, so MSCHF-Gründer Gabriel Whaley: „Mehrere junge Pastoren haben ein Paar gekauft und noch viel mehr Leute haben gesagt: ‚Ich liebe Sneaker, ich liebe Gott. Ich brauche ein Paar von denen.‘ Aber der reine Verkauf war nie der Punkt“, sagt er. „Die Jesus-Schuhe waren eine Plattform, eine Idee anzustechen und uns gleichzeitig drüber lustig zu machen. Und zwar, dass jeder gerade eine Kollaboration mit einer anderen Marke macht.“

Immer einen drauf setzen

Andere Projekte des Teams versuchen auf dieser Popkultur-Welle mitzuschwimmen – immer mit etwas anarchisch humorigem Einschlag. Da wäre der Youtube-Kanal „man eating food“, wo besagter anonymer Mann einfach Dinge ist (das Top-Video mit Mayonnaise kommt auf knapp 300.000 Views). Eine weitere Idee ist „Netflix Hangouts“. Mit der Erweiterung für den Chrome-Browser können Nutzer einen Hangout-Call vortäuschen, bei dem in einem Fenster Netflix läuft. So könne man auch während der Arbeit seine Lieblingsserie ganz unauffällig schauen.

Viel Aufmerksamkeit gab es auch für die „MSCHF Box“. Nutzer konnten laut Angaben von MSCHF 1.000 dieser geheimnisvollen Boxen für je 100 US-Dollar kaufen. In jeder Box befindet sich ein Objekt – von einem Paar des extrem wertvollen Jesus-Schuhs oder einer Rolex bis hin zu gekautem Kaugummi. Käufer wissen nicht, was sich in ihrer Box verbirgt. Der Kniff von MSCHF: Wer es 100 Tage durchhält, die Box nicht zu öffnen, bekommt 1.000 US-Dollar von MSCHF, muss seine Box aber wieder abgeben. Stellt sich nur die Frage, wer das aushält. Die Chance auf eine Rolex liegt laut MSCHF bei 0,1 Prozent (in einer Box ist also eine Rolex). Die Chance auf den gekauten Kaugummi: zwei Prozent (der ist also in 20 Boxen drin). Auch hier schreiben unterschiedliche Medien über das Projekt. Noch besser kommt es aber bei Youtubern an, die aus der „Mystery Box“ spannende Unboxing-Videos bauen können.

Drops als zentrales Marketing-Instrument

Am Ende gleicht sich das Ziel der Projekte: Aufmerksamkeit. Und die bekommt MSCHF auch bei „All the Streams“, einer Webseite, auf der kurzzeitig alle Streaming-Angebote kostenlos verfügbar waren. Viel beachtet auch zuletzt „Finger on the App“ – ein Wettbewerb, bei dem Nutzer ihren Finger länger als alle anderen Teilnehmer auf dem Display ihres Smartphones halten sollten. Nach 70 Stunden musste der Wettbewerb beendet werden, weil vier Teilnehmer einfach nicht aufgeben wollten. Zu dem Zeitpunkt hatte die Gewinnspiel-App laut Analyse-Tool Priori Data über 2,5 Millionen Downloads verzeichnet. Über all diese MSCHF-Projekte gibt es unzählige Artikel, darunter von großen Publishern wie TheVerge, Wall Street Journal, Wired, Forbes, Vice, Cnet und vielen anderen.

Über die Medien verbreitet sich das Internet-Phänomen MSCHF immer weiter. Neben den Produkten hilft dabei der von uns ja schon einige Male thematisierte Marketing-Kniff des „Drops“. Vor allem Sneaker- und Streetwear-Brands wie Supreme nutzen Produkt-Drops, um in kürzester Zeit ihre Produkte auszuverkaufen. Dazu kommunizieren sie immer wieder eine feste Zeit, wann ein Produkt verfügbar wird und verknappen es so, dass sofort zum Verkaufsstart der Hype besonders groß ist. MSCHF treibt Drops auf die Spitze: Jeden zweiten und vierten Montag des Monats kommt ein neues Produkt oder Projekt. Die komplette Webseite von MSCHF besteht nur daraus, alte Drops zu zeigen und die Zeit bis zum nächsten runter zu zählen.

Die Webseite von MSCHF

Auf der MSCHF-Webseite sind alle Drops aufgeführt – vor allem läuft ein Timer bis zum nächsten Produkt-Start.

Neuestes Projekt nimmt Hype-Brands aufs Korn

Wie so ein Produktstart abläuft, zeigt der Drop von gestern. Um 17 Uhr deutscher Zeit geht der Timer auf Null und nach einem Refresh können Interessierte auf die Webseite des geheimnisvollen Produkts wechseln – bis dahin sehen sie nur den Namen. In diesem Fall verkauft das Unternehmen gerade sein T-Shirt „MSCHF X“. Das ist aus den Shirts von zehn Hype-Brands (u.a. Adidas, Nike, Supreme, Palace, Kith) zusammengesetzt und jeweils ein Unikat. Wieder gibt es genau 1.000 Stück für jeweils 1.010 US-Dollar zu kaufen (offenbar sind auch extrem begehrte Stücke verarbeitet). Die Gewissheit eigentlich dem Hype erlegen zu sein, bekommen die Kunden kostenlos dazu. Innerhalb weniger Minuten sind die Shirts ausverkauft – Umsatz: eine Million US-Dollar. 

MSCHF X Hype-Shirt

Das Hype-Shirt war nach wenigen Minuten ausverkauft

Weil es so gut funktioniert, verlässt sich MSCHF komplett auf Drops als Marketing-Trumpf. „Es ist einfach so, dass sich alles verbreitet, was wir machen – einfach dadurch, dass Menschen darüber sprechen und es mit ihren Freunden teilen“, sagt der MSCHF-Gründer. Das Team kann es sich sogar leisten, alle Social-Media-Kanäle zu ignorieren (die Beschreibung des Instagram-Kanals lautet „DO NOT FOLLOW US“, trotzdem tun es fast 8.000 Nutzer). Weil auch kein Budget für Marketing da ist, bleibt MSCHF nur PR und Word-of-Mouth. Die Neugier auf den nächsten Drop nutzt das Unternehmen deshalb zur Bindung seiner Fans und Kunden. Wer früher über neue Produkte informiert werden will und alle vergangenen Drops sehen will, muss sich die MSCHF-App herunterladen (derzeit nur in den USA verfügbar). Für die wirbt das Unternehmen nicht nur auf seiner Hauptseite, sondern auch auf den Webseiten der jeweiligen Projekte. Laut Priori Data kommt die iOS-Version der App auf 230.000 Downloads, die Android-Variante auf 88.000. Gestartet ist die App erst im März 2020.

Die Liebe zur Brand als Trumpf

Trotz der Viral-Erfolge seiner physischen Produkte inklusive Ausverkauf schüttelt sich Gründer Gabriel Whaley beim Gedanken an den dauerhaften Verkauf von Merchandise. „Der Tag, an dem wir Hoodies verkaufen, ist der Tag, an dem ich das hier einstelle“, sagt er gegenüber Business Insider. Aber wie soll das Unternehmen seine Investoren irgendwann auch in Sachen Umsatz zufrieden stellen? „Wir bauen gerade einen Präzedenzfall, schließlich sind wir nicht an eine Kategorie oder ein Vertical gebunden. Wir haben den Jesus-Schuh gemacht und sind damit bekannt geworden. Dann haben wir damit wieder aufgehört“, sagt Whaley. „Wir werden den nie wieder auf den Markt bringen und die Leute sagen: ‚Moment, warum geht ihr da nicht stärker rein, ihr würdet so viel Geld machen.‘ Aber dafür sind wir nicht angetreten.“

Die Chance für MSCHF liegt also nicht darin, auf einem Erfolgsprodukt zu reiten. Stattdessen sind die Produkte nur Steigbügel, um die Brand in die Köpfe der Nutzer zu bekommen. „Wenn wir Menschen zu Fans der Marke und nicht eines Produkts machen, können wir tun, was auch immer wir wollen“, sagt Daniel Greenberg, Head of Commerce bei MSCHF, gegenüber Business Insider. „Wir bauen was wir wollen. Alles andere ist uns egal.“ Man kann das Einsammeln von elf Millionen US-Dollar an Investitionen also als Finanzierung für ein paar verrückte Ideen sehen. Aber selbst MSCHF scheint zumindest den Plan zu haben, als die Brand am Puls der Zeit wahrgenommen zu werden. Wenn du das schaffst, kannst du derzeit wirklich alles verkaufen.

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Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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