Multi-Channel-Marketing fränkischer Art: Wie ein Metzger 30.000 Euro im Monat online macht

Florian Heide26.2.2021

Vom Bratwursthotel, dem Wursttaxi und Schweinerüsseln als SEO-Nische: Dieser Text ist nichts für Vegetarier

Metzgermeister Claus Böbel
Metzgermeister Claus Böbel lässt in seiner Filiale und im Web die Schwarten krachen. Foto: Claus Böbel
Inhalt
  1. „Statt Sternen vom Himmel gibt’s hier Bratwürste von der Decke“
  2. „Es gibt keinen Herrn Amazon, mit dem man sich übers Schützenfest unterhalten kann, aber es gibt einen Herrn Böbel“
  3. Mit Kuheuterschnitzel und Schweinerüssel SEO-Nischen bedienen
  4. Mit dem Wurstkatalog die Kunden konvertieren
  5. Wurstvorträge zur Fortbildung

REWE und Edeka bieten es bereits an, ALDI hat gerade verkündet in einer Nord-Süd-Allianz gemeinsame Sachen machen zu wollen: Der Online-Handel mit Lebensmitteln wächst. Während die Großen darin die Zukunft sehen, haben andere die Zukunft schon lange vorausgesehen. Claus Böbels erster Online-Verkauf datiert immerhin auf das Jahr 2003. Heute vertreibt der Metzgermeister auf seiner rasengrünen Website fast 1.000 Wurstprodukte, von der selbstgemachten fränkischen Bratwurst über den Rinderdarm bis zum Bullenhoden. Mit welchen kreativen Multi-Channel-Marketing-Methoden ein Zehn-Mann-Betrieb aus Mittelfranken der Krise trotzt, weshalb in Böbels Hotel Bratwürste von der Decke hängen und wie er mit SEO-Nischen wie Schweinerüsseln monatlich 40.000 Website-Visits generiert, das erfahrt ihr hier.

Während Kleinunternehmer der ganzen Republik über die desaströsen Zustände ihrer Zunft klagen, ist Metzgermeister Claus Böbel mit dem Status Quo mehr als zufrieden. „Großartig“ beschreibt er den momentanen Geschäftsbetrieb euphorisch. „Ich kann mich nicht beschweren. Was soll ich erzählen? Es läuft halt einfach“. Hilfsgelder bekommt er wegen der Coronakrise vom Staat zwar keine, sein Online-Geschäft floriere aber. Zusammen mit dem gesteigerten Ladengeschäft würde das die Ausfälle kompensieren, die vor allem durch die Schließung seines Bratwursthotels entstanden sind. Klassischen Marketing-Strategien bedient sich Böbel dabei nicht. Um sein Metzgerei-Geschäft für den Online-Handel zu wappnen, hat er sein ganzes eigenes Rezept.

„Statt Sternen vom Himmel gibt’s hier Bratwürste von der Decke“

Montagmittag, 13.30 Uhr, Anruf bei Metzgermeister Claus Böbel. Er bearbeitet gerade noch Online-Bestellungen, im Hintergrund hört man das laute Surren des Druckers. Zeit hat er nur wenig, sein Online-Geschäft ist im letzten Jahr um über 50 Prozent gewachsen. Böbel ist Metzgermeister in vierter Generation, die gleichnamige Metzgerei hat er 2009 von seinem Vater übernommen. Die einzige Filiale, sein „Flagship-Store“ wie er sie nennt, befindet sich in Rittersbach, einem 350-Einwohner-Dorf im fränkischen Seenland, knapp 40 Kilometer südlich von Nürnberg.

Das von Böbel betriebene Bratwursthotel steht direkt nebenan. Es ist ein Themenhotel für Wurstenthusiasten, die Tapeten der sieben Doppelzimmer zieren Bratwurstmotive, auf den Betten liegt jeweils ein Bratwurstkuschelkissen, sogar von der Decke hängt luftgetrocknete Bratwurst. Rund 1500 Übernachtungen fanden 2019 nach eigener Aussage darin statt. Die Leute kämen aus England, Nigeria und Kanada um im „Sausage Hotel“ zu schlafen, eine von Böbel angebotene Wurstwanderung durch die fränkische Seenlandschaft zu machen oder sich bei einem seiner Wursterlebniskurse eigene Bratwurst herzustellen.

Das Bratwursthotel

Ab 98 Euro die Nacht lässt sich in einem der sieben Doppelzimmer vom Bratwursthotel übernachten. Foto: umdiewurst.de

Der Eröffnung des Bratwursthotels 2018 folgte eine erstaunliche Reihe nationaler und internationaler Presseberichterstattung und machte es in Windeseile weltweit bekannt. BBC, die katalanische Lavanguardia, die South China Morning Post, selbst der US-amerikanische Late-Night-Moderator Stephen Colbert haben über Böbels außergewöhnliches Hotel berichtet. Von der vielen Presseberichterstattung rund um das Bratwursthotel hat auch seine Metzgerei profitiert. „Jeder der kommt, wird zum Influencer“ sagt er und meint damit nicht, dass jeder nach der Übernachtung zig Follower hat, sondern dass die Gäste im Nachhinein Word-of-Mouth-Werbung für seinen Betrieb und damit auch den Online-Shop machen würden.

„Es gibt keinen Herrn Amazon, mit dem man sich übers Schützenfest unterhalten kann, aber es gibt einen Herrn Böbel“

Claus Böbel ist ein Anfangfünfziger, der es mit seiner urigen, verrückten Art, einer gehörigen Portion Enthusiasmus für das eigene Produkt und dem Charme eines seit vier Generationen im Dorf verwurzelten Traditionsunternehmens geschafft hat, ohne Amazon & Co. den kleinen Laden um die Ecke in ein funktionierendes Online-Business zu verwandeln. Seine Marketingstrategien sind nicht bahnbrechend, aber sie sind eigen und zeichnen sich durch Originalität aus. Von Agenturen und Marketingprofessoren will Böbel sich nicht vorschreiben lassen, wie seine Strategien auszusehen hätten. Und mit dem Wissen von Big-Data-Konzernen könne er auch nicht konkurrieren. Also setzt Böbel bei seinem Auftritt, ob online oder offline, auf das genaue Gegenteil von alldem: Er will authentisch sein.

Auf seinem privaten Facebook-Account teilt Böbel mit seinen fast 3.000 Freunden nahezu täglich Neuigkeiten, wie zum Beispiel Rezepte für seine selbsterfundene „orientalische Bratwurst“ oder teilt Fotos von Wurstdosen, die ihm von Kunden zugespielt wurden. In seinen Blog-Beiträgen geht es, wenn gerade nichts Spannendes ansteht, auch mal um die Umräumung des Dosenregals. Einmal im Monat versendet er außerdem einen Newsletter, rund 4.000 Abonnenten hat der. In dem gehe es vor allem informativ zu, sagt er. Er schreibt über News wie den Relaunch der Website oder informiert über den neuesten Pressebericht.

Rabatte oder Sonderangebote, das bietet er weder hier noch sonst irgendwo an. „Ich will Käufer vom Herzen oder vom Gaumen, nicht weil es irgendwas gratis gibt“, sagt er. Die Art und Weise wie er online auftritt, das sei dieselbe wie hinter der Wursttheke auch: Smalltalk will er halten, denn der sei die Stärke des Einzelhändlers. Einen Herrn Amazon gäbe es nicht, mit dem man übers vergangene Schützenfest sprechen kann, aber einen Herrn Böbel schon. Wer sich gegen die großen Online-Anbieter behaupten will, der müsse das online umsetzen.

Mit Kuheuterschnitzel und Schweinerüssel SEO-Nischen bedienen

Böbels Website hat monatlich zwischen 30.000 und 40.000 Visits. 500 bis 1.000 Bestellungen würden im selben Zeitraum aufgegeben werden und, je nach Saison, einen Umsatz zwischen 30.000 und 50.000 Euro im Monat erzielen. Die Bestellungen kämen zu 90 Prozent aus Deutschland, ein bis zwei Prozent würde er aber auch weltweit verschicken, etwa nach Jamaika oder Neuseeland. Böbel verwendet keine Paid Ads, Metriken wie Conversion Rates interessieren ihn nicht. Für die IT habe er einen Dienstleister beauftragt. Der setze das CMS um und programmiere den Shop.

Um das Keyword-Ranking würde er sich jedoch selbst kümmern. Weil Böbels Produktsortiment „from nose to tail“ sei, er also von der einfachen fränkischen Bratwurst über den Rinderdarm bis hin zu Bullenhoden alles anbiete, habe er sich bei der SEO-Optimierung vor allem auf die Nischen-Keywords konzentriert. Laut dem Analyse-Tool Sistrix rankt Böbel mit den Keywords „Stierhoden kaufen“, „Kalbshirn kaufen“ oder „Kuheuter kaufen“ jeweils in den Top 10 der Google-Suchergebnisse. „Wenn ich Steaks verkaufen will, habe ich dutzende Mitbewerber auf dem Online-Markt. Aber wissen Sie, wieviele Mitbewerber ich für Kuheuterschnitzel, Bullenhoden, Schweinerüssel und Schweineblut habe? Gar keine“. Unter generischen Suchbegriffen sei die Konkurrenz groß, aber wer nach Spezialitäten suche, käme bei ihm raus, sagt er gegenüber OMR.

Online-Metzgerei Böbel

Der Online-Shop der Metzgerei Böbel zeichnet sich durch ein breites Produktsegment aus. Hier wird von der einfachen Bratwurst bis hin zu Nischenprodukten wie der Schweinebacke alles kaufen.

Weil die Leute sehen würden, was er so anbiete, fragen sie ihn auch nach Sonderanfertigungen. Zum Beispiel: Ochsenziemer, Hähnchenkrallen oder gleich die Wurst nach Eigenrezept. Das habe ihn vor rund sieben Jahren auf die Idee des Wurstkonfigurators gebracht: Ein Testballon, um individualisiert Produkte im Web anbieten zu können. User können sich die Zutaten für ihre Wurst selbst zusammenstellen und bei Böbel für rund 40 Euro das Kilogramm bestellen. Individuelle Fertigung, das sei etwas, was die Handwerksberufe schon seit Hunderten von Jahren machen würden. Doch die Wenigsten schafften es, dieses Angebot ins Digitale zu übersetzen. Böbel sieht darin, wie in all seinen Online-Aktivitäten, wieder eine Chance, innovativ zu sein, verrückt und seinem Handwerk dabei treu zu bleiben.

Mit dem Wurstkatalog die Kunden konvertieren

Das Internet ist für Böbel aber vor allem eins: ein Spiegel des stationären Handels. Im Umkehrschluss will er deshalb, dass die Online-Präsenz auch Einzug in die Filiale erhält. Früher oder später würden die meisten seiner Kunden ihre Wurstwaren auch online bestellen. Damit das in seinem Shop geschieht, hat sich Böbel einige Spitzfindigkeiten einfallen lassen. Zum Beispiel produziert er alle ein bis zwei Jahre einen neuen Wurstkatalog. Die knapp Hundert Seiten gibt es in Form einer PDF, aber auch als gedrucktes Magazin, das im Laden bei ihm ausliege und er jeder Bestellung beilege. Darin erzählt er die Unternehmensgeschichte, präsentiert die Mitarbeiter und natürlich seine Produkte. Ein Katalog, der könne den Nachbarn gezeigt werden oder dem Besuch aus Berlin, der dann wiederum von Zuhause aus seine Website aufrufen kann. Klassisches Word-of-Mouth-Marketing also, nur eben verbunden mit dem Ziel, auch die Online-Absätze zu steigern.

Ein anderes Beispiel: Einmal im Monat druckt Böbel all seine Blogeinträge aus und hängt sie an eine Pinnwand vor seinem Laden. Die Kunden können so lesen, was er online geschrieben hat, ohne auf seinen Blog gehen zu müssen. Und dann gibt es da noch das Wursttaxi. Seit zwölf Jahren liefert das bereits online bestellte Ware an Kunden im Umkreis von 20 Kilometern aus. In der Krise habe sich der Umsatz verhundertfacht, wenngleich es sich auch immer noch auf relativ niedrigem Gesamtniveau befinde. Rund 100 Bestellungen würden er oder die Mitarbeitenden auf dem Nachhauseweg ausliefern. Die Umsetzung dessen sei nicht schwierig: „Wenn ich acht Mitarbeiter habe, die überall irgendwo anders wohnen, dann lasse ich die zehn Minuten eher Heim und schon habe ich acht Wursttaxis für den gesamten Umkreis“, sagt er.

Wurstvorträge zur Fortbildung

Über das Wissen, was er sich angeeignet hat, seitdem seine erste Website 1997 online ging, hält Böbel heute sogar Vorträge. Von Städten und Werbeverbänden werde er regelmäßig eingeladen, auch die Telekom habe ihn bereits als Speaker gebucht. Welch kuriose Idee als nächstes von ihm kommt, will er nicht verraten. Aber über eine Sache, sagt er, denke er schon lange nach: Ein Buch über ihn hätte er gerne, am Besten solle das gemeinsam mit einem Marketingprofessor entstehen. Der könnte anhand von Böbels Tun erklären, welche Marketing-Theorien er bereits in der Praxis anwende, ohne dass Böbel selbst darüber Bescheid wüsste. Ein spezieller Sinn für Humor, das gehört ebenfalls zu Böbels Corporate Identity.

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Florian Heide
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Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

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