Das steckt hinter den Forderungen eines Tiktok-Verbots

Florian Rinke15.9.2022

Springer-Chef Mathias Döpfner und Tech-Experte Scott Galloway fordern ein Verbot der App

Sollte Tiktok verboten werden?
Sollte Tiktok verboten werden?

Kein soziales Netzwerk ist so rasant gewachsen wie Tiktok. Speziell bei jungen Menschen ist die App häufig beliebter als Instagram oder Snapchat. Doch immer wieder fordern Kritiker*innen ein Verbot. Hauptargument ist die Herkunft der App: China. Ist das reiner Wirtschaftsrassismus oder steckt mehr dahinter?

Wenn es um soziale Netzwerke geht, ist das Wort „Verbot“ äußerst beliebt. In Deutschland forderten mehrere Innenminister vor einigen Jahren ein Verbot von Facebook-Partys, ein früherer britischer Premierminister wollte Straftätern die Nutzung von Facebook & Co. verbieten und in Frankreich wurde Radio- und Fernsehsendern zeitweise sogar verboten, die Begriffe „Facebook“ oder „Twitter“ in bestimmten Kontexten auch nur zu nennen. Konsequenzen haben diese Forderungen in den wenigsten Fällen. Auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ruderte kürzlich schnell zurück, nachdem sie damit gedroht hatte, den Messenger-Dienst Telegram abschalten zu lassen.

Nicht jeder Drohung folgen auch Konsequenzen – das wissen sie natürlich auch bei der Tiktok-Mutter Bytedance. Dennoch dürften den Verantwortlichen die Diskussionen der vergangenen Tage nicht gefallen, da sie ein Thema wieder nach oben spülen, dass mit der Abwahl von US-Präsident Donald Trump zunächst vom Tisch zu sein schien: ein Tiktok-Verbot.

Mathias Döpfner fordert ein Tiktok-Verbot

Schauplatz der Debatte war die Code-Conference, die in der vergangenen Woche in Beverly Hills stattfand. Zu Gast waren mit Tim Cook (Apple), Andy Jassy (Amazon) oder Sundar Pichai (Alphabet) die CEOs der weltgrößten Unternehmen. Mit Mathias Döpfner war aber auch ein deutscher Vertreter im Beverly Hilton auf der Bühne. Und der Chef des Medienkonzerns Axel Springer teilte ordentlich gegen das chinesische soziale Netzwerk aus: „Tiktok sollte in jeder Demokratie verboten werden“, forderte Döpfner. Westlichen Unternehmen wie Google oder Facebook sei es nicht möglich, in China aktiv zu sein. Döpfner versteht daher nicht, wieso man umgekehrt Bytedance erlaube, mit Tiktok so eine dominante Rolle zu spielen. Langfristig werde dies negative Folgen haben – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mit Blick auf die Demokratie, so der Axel-Springer-CEO (ähnlich hatte sich auch schon Bild-Chefredakteur Johannes Boie vor einiger Zeit im OMR Podcast geäußert).

In einem Fernseh-Interview legte dann auch der Digitalexperte Scott Galloway, der Döpfner bei der Code Conference interviewt hatte, noch einmal nach. Unter-18-Jährige würden heute mehr Zeit auf Tiktok verbringen als bei sämtlichen Streaming-Diensten zusammen. „Fühlen wir uns wohl damit, dass eine Organisation, die Amerika unterminieren möchte, die Medien unserer Kinder kontrolliert?“, fragte Galloway und lieferte seine Antwort gleich mit: Nein, Tiktok sollte verboten werden.

Kein Netzwerk ist so schnell gewachsen wie Tiktok

Tiktok ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen und damit immer stärker in den Fokus geraten. Während Konkurrenten wie Meta versuchen, Funktionen von Tiktok für ihre eigenen Produkte wie Instagram zu klonen, blicken viele Expert*innen und Regulatoren skeptisch auf das hinter Tiktok stehende Unternehmen Bytedance. Denn erstmals in der Geschichte des Internets ist es einem chinesischen App-Unternehmen gelungen, einen weltweiten Erfolg zu landen und dabei sogar westliche Unternehmen zu übertrumpfen. Denn: Kein Netzwerk hat schneller die Marke von einer Milliarde Nutzer*innen geknackt als Tiktok. Weltweit hat Tiktok inzwischen mehr als 1,5 Milliarden User, bei jüngeren Nutzer*innen ist es inzwischen laut Analysten in den USA sogar beliebter als Instagram und Snapchat.

Kein Netzwerk wächst so schnell wie Tiktok

Kein Netzwerk wächst so schnell wie Tiktok. Quelle: Financial Times

Dabei ist Tiktok nicht einmal zehn Jahre alt. Das soziale Netzwerk geht auf die App Musical.ly zurück, die 2014 veröffentlicht wurde. Dabei ging es zunächst darum, Musik und Videos zu verbinden. In China wiederum brachte das Unternehmen Bytedance 2016 mit Douyin einen Musical.ly-Konkurrenten auf den Markt, der 2017 außerhalb Chinas als Tiktok startete. Damit setzte Bytedance von Anfang an auf zwei Netzwerke – eins für den chinesischen Markt und eins für den Rest der Welt, in das man auch Musical.ly nach der Übernahme 2017 (angeblich für rund eine Milliarde US-Dollar) integrierte.

Zensur von LGBTQ-Themen und Rassismus-Debatten

Damit können westliche Nutzer*innen keine chinesischen Inhalte sehen, die bei Douyin veröffentlicht werden und umgekehrt. Dennoch gibt es auch außerhalb Chinas immer wieder Zensurvorwürfe gegenüber Bytedance. Denn anders als westliche Netzwerke, die in der Kritik stehen, zu viele Inhalte auf den jeweiligen Plattformen zu akzeptieren (also zu lasch gegen Verstöße vorzugehen), wählte Bytedance den eher restriktiveren chinesischen Ansatz. So gab es 2020 Kritik, als bekannt wurde, dass Tiktok Beiträge zu Hashtags wie #BlackLivesMatter und #GeorgeFloyd unterdrückte. Das Unternehmen entschuldigte sich und sprach von einem technischen Fehler.

Australische Forscher fanden außerdem heraus, dass auch LGBTQ-Themen unterdrückt wurden – und das nicht nur proaktiv in Ländern wie Russland oder dem arabischen Raum, wo das Netzwerk offenbar gesellschaftlichen Widerständen aus dem Weg gehen wollte. Dabei setzt Tiktok auf das sogenannte „Shadowbanning“. Videos werden nicht gelöscht, so dass für die Creator*innen alles normal aussieht, werden aber in der Suche durch Filter bei bestimmten Hashtags unterdrückt. Auch hier gelobte Tiktok Besserung. Zufall oder nicht: Als es 2019 in Hongkong Proteste gegen die Peking-nahe Regierung gab, fanden sich dazu zahlreiche Beiträge und Belege auf Twitter. Bei Tiktok hingegen fand die „Washington Post“ bei einer Recherche hingegen keinen einzigen kritischen Beitrag.

Springer ist nicht auf Tiktok. Oder doch?

Kritiker wie Mathias Döpfner sehen in dem Netzwerk daher generell eine Gefahr für die Demokratie. In einer Rede beim Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) betonte der Springer-Chef noch einmal den Wert der Freiheit und sprach davon, dass freie Meinungen und Medien ein Fundament der Demokratie seien. Der Manager steht aktuell allerdings selbst in der Kritik (hier, hier und hier). Will Döpfner mit der Debatte um Tiktok also einfach nur von sich ablenken? Dagegen spricht, dass der Springer-Chef schon seit Jahren Kritik an China übt – und er ein Netzwerk verbieten lassen will, dessen Mutterkonzern Bytedance mit KKR genau den gleichen Investor hat wie sein eigenes Unternehmen Axel Springer.

Allerdings: Ganz frei von Bigotterie ist Döpfner in der Debatte nicht. Die Springer-Marken „Welt“ und „Bild“ sind zwar tatsächlich nicht auf Tiktok vertreten. Das zu Springer-gehörende Wirtschaftsportal Business Insider hat dort allerdings bereits mehr als 52.000 Follower*innen und veröffentlicht regelmäßig Beiträge. Ähnlich hat sich Axel Springer auch vor Jahren bei einem anderen Thema verhalten: Als Google das Angebot Google for Jobs ausrollte, reichte das zu Springer gehörende Stepstone dagegen Beschwerde bei der EU-Kommission ein. Man sah das eigene Geschäftsmodell bedroht. Stepstone verweigerte sich damals einer Kooperation – zumindest in den Ländern, wo man selbst Marktführer war. In anderen, wo man in einer schwächeren Position war, kooperierte man hingegen sehr wohl – um mithilfe vom vermeintlich bösen Google die eigene Position zu verbessern.

Snapchat-Gründer sieht keinen technischen Vorsprung

Nicht immer ist die Kritik an Tiktok ganz frei von Eigeninteressen. So auch bei Evan Spiegel. Der Snapchat-Gründer sprach auf der Code Conference ebenfalls über Tiktok – und machte für dessen Erfolg „billions and billions and billions of dollars“ verantwortlich. Laut Spiegel habe Tiktok diese Milliarden nämlich weltweit in das Nutzerwachstum investiert. Tiktok sei anders vorgegangen als andere Unternehmen in diesem Bereich, behauptete Evan Spiegel. Die Chinesen hätten auf den Einkauf von Nutzer*innen anstatt eine technologische Überlegenheit des Produkts gesetzt.

Manch einer unkt, Spiegel habe dies nur gesagt, weil er mit seiner Firma Snap bislang als innovativstes soziales Netzwerk galt – und den Platz nur ungerne dem asiatischen Konkurrenten überlassen will. Denn natürlich stellt sich umgekehrt die Frage: Wenn Tiktok wirklich nur durch Marketing-Ausgaben und nicht durch technologische Überlegenheit so erfolgreich geworden sein soll – wieso kopieren Konkurrenten dieses Vorgehen dann nicht einfach? Geldprobleme gibt es schließlich auch bei Instagram- und Facebook-Mutter Meta nicht. Das „Wall Street Journal“ berichtete allerdings unlängst, dass interne Dokumente zeigen, wie wenig erfolgreich Instagram von Tiktok abgekupferte Funktion Reels bislang ist. Tiktoks Vorsprung scheint also zumindest aktuell vielleicht doch auch technischer Natur zu sein.

US-Senatoren wollen Antworten von Tiktok-Managerin

Allerdings ist Tiktok inzwischen auch auf politischer Ebene ein Thema. In Indien wurde das Netzwerk bereits vom Staat verboten, auch Ex-US-Präsident Donald Trump hatte dies für die USA versucht. Ein entsprechender Erlass kam allerdings nie zur Anwendung, weil Tiktok-Mutter Bytedance dagegen eine einstweilige Verfügung vor Gericht erwirken konnte. Gleichzeitig hatte das Unternehmen weitgehende Zugeständnisse gemacht, unter anderem was die Speicherung von Daten angeht. Bytedance kooperiert dazu mit dem US-Tech-Konzern Oracle. Trumps Nachfolger Joe Biden machte das Verbot dann endgültig rückgängig.

Die US-Politik beschäftigt sich allerdings weiterhin mit dem sozialen Netzwerk, weil Buzzfeed News erst kürzlich berichtet hatte, dass Daten von US-Nutzer*innen weiterhin in China zugänglich waren. So wurde Tiktok-COO Vanessa Pappas in dieser Woche von US-Senatoren bei einer Anhörung „gegrillt“, wie die „New York Times“ schreibt. Auch sie wollten wissen, ob Tiktok Daten an die chinesische Regierung weiterleiten oder auf deren Bitte hin löschen würde. Die Tiktok-Managerin hat dies zurückgewiesen. Die Senator*innen befragten an diesem Tag auch Vertreter anderer sozialer Netzwerke. Denn auch sie werden in den USA zunehmend kritisch gesehen.

Tiktok hat allein im März 102 Millionen Videos gelöscht

Ähnlich ist es auch in Europa. Dort haben sich die politischen Vertreter zuletzt auf den Digital Services Act geeinigt. Das Gesetzespaket soll Bürger*innen in der Europäischen Union stärker im digitalen Raum schützen. Dabei spielen auch die Rechte gegenüber sozialen Netzwerken eine zentrale Rolle. Eine der führenden Verhandlerinnen dieses Gesetzespakets ist die Europa-Abgeordnete Alexandra Geese (Grüne). Sie sagt: „Tiktok zwingt uns, uns damit zu beschäftigen, was in sozialen Netzwerken eigentlich geschieht: Millionen hochsensibler Daten werden gesammelt und zu genauen Profilen zusammengestellt.“ Plattformen, die solche Arten von Profilen haben, könnten aus Sicht von Alexandra Geese genutzt werden, um Gesellschaften zu manipulieren. „Diese Entwicklung ist ein Risiko für unsere Demokratie, aber auch für unsere Sicherheit“, sagt Alexandra Geese.

Tiktok hatte sich stets gegen die Kritik gewehrt – und auch Schritte unternommen. So baut das Unternehmen aktuell in Dublin ein eigenes Datenzentrum auf, das 2023 in Betrieb gehen soll. In Transparenzberichten veröffentlicht Tiktok außerdem inzwischen, welche Schritte sie unternehmen, um die Plattform sicherer zu machen. Dazu ist das Unternehmen in Deutschland allerdings auch genau wie die Konkurrenz gesetzlich verpflichtet. Die Zahlen geben einen Einblick in den Umfang von Beschwerden und problematischen Inhalten, mit dem Tiktok, Facebook und Co. sich im Alltag auseinandersetzen müssen. So hat Tiktok nach eigenen Angaben allein im März weltweit rund 102 Millionen Videos von der Plattform entfernt – 995.566 davon in Deutschland.

EU-Politikerin will das Abgreifen persönlicher Daten stoppen

In Deutschland sind soziale Netzwerke seit dem 1. Januar 2022 verpflichtet, strafbare Inhalte an das Bundeskriminalamt (BKA) zu übermitteln. Google, Meta, Twitter und Tiktok klagen allerdings gegen diese Vorgabe. Ein BKA-Sprecher teilt daher mit: „In der Praxis wurden noch keine Meldungen von strafbaren Inhalten an das BKA übermittelt.“ Laut Tiktoks Transparenzbericht gab es immerhin rund 25.000 Fälle, in denen Inhalte wegen Verstößen gegen das deutsche Gesetz von der Plattform entfernt wurden. Eine Anfrage an Tiktok blieb zunächst ohne Antwort.

Trotz dieser Schritte für mehr Transparenz sieht Alexandra Geese Tiktok skeptisch. Die Grünen-Politikerin fordert zwar kein Verbot von Tiktok, sagt aber deutlich: „Wenn wir Überwachung und verdeckte politische Einflussnahme durch in- und ausländische Akteure und Regierungen verhindern wollen, müssen wir das Abgreifen von persönlichen Daten im Internet konsequent verbieten. Denn auch die von Meta und Google für kommerzielle Zwecke gesammelten Daten können durch russische oder chinesische Akteure genutzt werden.“

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Florian Rinke
Autor*In
Florian Rinke

Florian Rinke ist Host des Podcast "OMR Rabbit Hole" und verantwortet in der OMR-Redaktion den "OMR Podcast". Vor seinem Wechsel Anfang 2022 zu OMR berichtete er mehr als sieben Jahre lang für die Rheinische Post über Start-ups und Digitalpolitik und baute die Rubrik „RP-Gründerzeit“ auf. 2020 erschien sein Buch „Silicon Rheinland".

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