Cashcow Warteschlange: Wie Fielmann mit KI-optimierten Terminen Millionen verdient

Christian Cohrs29.10.2024

Fielmann wollte sich vom Startup Linetweet helfen lassen, Filial-Termine besser zu managen. Inzwischen strahlt die Kooperation bis auf die E-Commerce-Strategie des Retailers aus

Inhalt
  1. Ein Liebesbrief an Marc Fielmann
  2. Auf der Suche nach einem Side-Hustle
  3. Kein Interesse bei Arztpraxen
  4. Das Dashboard der Fielmann-Filialen
  5. Ein "Minority Report" für Retailer
  6. Messbar zufriedenere Kund*innen
  7. Termin-Tool als Impuls für neue Omnichannel-Abläufe

Spontane Laufkundschaft, Beratungen, die länger dauern als geplant, No-shows trotz Termin – es gibt diverse Gründe, die Wartezeit für Kund*innen schwer kalkulierbar machen. Das Startup Linetweet verspricht mehr Planbarkeit durch eine KI-gestützte Plattform, die Wartelisten koordiniert, den Kundenandrang prognostiziert und sogar in die Personalplanung eingreift. Fielmann gehört zu den ersten Kunden, die das Tool der Berliner nutzen. Obwohl der Optiker die Software gerade erst deutschlandweit ausrollt, kalkuliert Fielmann bereits mit einem zusätzlichen siebenstelligen Umsatz.

Fielmann hat ein Problem: 700.000 unverkaufte Brillen im Jahr. Nicht, weil sie keiner haben will – im Gegenteil. 700.000 Menschen verlassen trotz Kaufabsicht die Geschäfte der Optikerkette, weil sie zu lange warten müssen. "Ein Luxusproblem", so nennt Stefan Wolk dieses Dilemma, das den heutigen Director E-Commerce durch seine Karriere bei der Fielmann Group begleitet. Schon als er vor über elf Jahren bei dem Hamburger Optiker-Filialisten angeheuert hat, wurde dort über Ideen diskutiert, die Wartezeit von Kund*innen in den Griff zu kriegen. Zwar hätten einige Standorte das Thema besser gemanaged, andere sich davon etwas abgeschaut. Doch am Ende, so Wolk, hätten sie "maximal eine Strichliste" gehabt.

Ein Liebesbrief an Marc Fielmann

Der äußere Druck zur digitalen Transformation ist bei Fielmann lange nicht sehr hoch gewesen. Der Marktführer verkauft in mehr als 600 Filialen rund 20.000 Sehhilfen am Tag und erwirtschaftet knapp 30 Prozent des Umsatzes auf dem deutschen Brillenmarkt. Dennoch treiben die Hamburger das Thema Digitalisierung beharrlich voran, vor allem, seit Marc Fielmann die Führung des Unternehmens Anfang 2019 übernommen hat. Es war darum gutes Timing, als der Brief des Linetweet-Gründers Miro Bogdanovic genau in diesem Moment auf Fielmanns Schreibtisch gelandet ist. 

Tatsächlich hatte Bogdanovic zur Vermarktung seines Tools auf ein für Tech-Gründer*innen nicht eben naheliegendes Medium gesetzt. „Es war ein bisschen wie ein Liebesbrief“, sagt Bogdanovic, rosa Umschlag und handgeschrieben. Darin skizzierte er das Potenzial seiner Lösung, die Wartezeit von Kund*innen deutlich zu verkürzen, Personal effizienter einzusetzen und so den Erlös zu steigern. Einige dieser Briefe habe er damals verschickt. Mit zwei der Empfängerfirmen arbeitet Linetweet heute zusammen. Fielmann war die erste. 

Der bei Fielmann für das Thema digitale Innovation zuständige Wolk erinnert sich. "Eine ganz putzige Geschichte", sagt er. Marc Fielmann habe ihm den Brief damals gegeben. Wolk fand den Inhalt spannend und lud Bogdanovic und dessen Mitgründer Viraj Tank nach Hamburg ein, um ihr Tool zu präsentieren. Nachdem die beiden das Dashboard mit einem Fielmann-Logo aufgehübscht hatten, war Wolk klar: Das sah nett aus, aber letztlich müsse man es in einer Filiale testen. 

Auf der Suche nach einem Side-Hustle

Bei der Präsentation hatte das junge Startup schon eine länger und nicht ganz gradlinige Geschichte hinter sich. Die beiden Linetweet-Gründer kennen sich aus ihren früheren Jobs. Bogdanovic war Chef des Innovation Lab von Mercedes-Benz, sein Kollege Tank dort für die App des Autobauers verantwortlich. Sie und ein paar Andere im Büro hätten immer mal wieder überlegt, was für Projekte man neben dem Job anschieben könne, sagt Bogdanovic. Irgendwann seien dann ein paar Dinge zusammengekommen, dass es nicht nur für einen Side-Hustle reichte, sondern für das Wagnis Selbständigkeit. 

Tank habe von seiner Idee einer App erzählt, die Menschen in Indien dazu animieren soll, häufiger oder überhaupt zum Arzt zu gehen. "Warum gehe ich nicht zum Arzt", habe er sich damals gedacht, so Bogdanovic. "Weil ich keine Lust habe, mich stundenlang im Wartezimmer vollhusten zu lassen." Das muss besser gehen. Wie wäre es, man könnte spontan in eine Praxis gehen, bekäme dort eine verlässliche Aussage, wie lange man warten muss, um die Zeit dazwischen nutzen zu können, und sollte ein früherer Termin frei werden, kriegt man eine Benachrichtigung aufs Handy.

Kein Interesse bei Arztpraxen

Nachdem Bogdanovic und Tank lernen mussten, dass in Arztpraxen wenig Bereitschaft herrscht, etwas an den für Patient*innen unbefriedigenden Zuständen zu ändern, hätten sie Friseursalons als mögliche Kunden entdeckt. Die zeigten Interesse, Linetweet zu testen, hätten sich aber als sehr betreuungsintensiv erwiesen, so Bogdanovic. Es habe Anrufe gegeben, wenn das Wlan streikte; einer habe sogar mal durchgeklingelt, um sich die Einparkhilfe seines Mercedes erklären zu lassen – Bogdanovic habe doch mal für den Laden gearbeitet. Nach zwei Wochen hätten sie den Test gestoppt. 

Die vielen Stunden, die er Friseursalons verbracht habe, hätten sich letztlich aber doch gelohnt, sagt Bogdanovic. Denn es sei ein Kunde dort gewesen, der meinte: "Geht doch mal zu Fielmann. Die haben einen guten Service, aber die Wartezeiten sind so lang." Also machten die Linetweet-Gründer einen Pivot, nahmen statt KMUs große Ketten und Filialisten in den Fokus und schrieben ihre Briefe. 

Das Dashboard der Fielmann-Filialen

Für den Test von Linetweet wählte Fielmann eine Filiale im Hamburger Stadtteil Ottensen aus. Es gab positives Feedback von Kund*innen, aber auch Mitarbeitenden, denen der Stress genommen wurde, den im Laden wartende Leute bedeuten, erklärt Wolk. Außerdem sei ihm klar geworden, dass es einen größeren Test braucht, um den tatsächlichen Effekt von Linetweet auf die jährlich über neun Millionen Termine bei Fielmann einschätzen zu können. Ende 2020, als das Filialgeschäft nach den ersten Corona-Wellen wieder anlief, wurde das Tool von Linetweet dann in vier Berliner Geschäften ausgerollt.

Fielmann_Moenckeberstrasse.jpg

Nicht im Bild: Die unsichtbare Hand der Software, die die Termine in den Fielmann-Filialen wie hier an der Hamburger Mönckebergstraße managed und dadurch die Auslastung von Personal und Technik so optimiert, dass der Umsatz spürbar steigt – seit der Einführung von Linetweet in fast allen Geschäften bereits um einen siebenstelligen Betrag. (Foto: Fielmann)

Parallel dazu entwickelte sich die Plattform immer weiter. Aus der auf den Brillenhändler angepassten "Fielmann-Warteliste", die auf den Tablets der Angestellten läuft, wurde eine Software die immer tiefer in die Abläufe der Filialen eingreift. "Wir haben mit Linetweet aus dieser Warteliste ein Dashboard gebaut, über das wir unsere Niederlassungen steuern", sagt Wolk. Konkret bedeutet dies: Linetweet wertet historische Daten über vergangene Termine aus, erstellt daraus Prognosen über die Dauer künftiger Termine und gleicht das mit der Schichtplanung ab, um drohende Engpässe zu identifizieren. Und die Mitarbeitenden können spontan in den Laden gekommenen Kund*innen nun in Echtzeit sagen, wie lange sie warten müssen.

Ein "Minority Report" für Retailer

Aus Filialdaten ließen sich aber noch mehr Möglichkeiten für die nutzenden Firmen ableiten, so Bogdanovic. So könne man etwa erkennen, wenn Kolleg*innen mit bestimmten Kompetenzen gemeinsam lunchen gehen und so Engpässe entstehen, die sich dann durch eine entsprechende Terminplanung ausgleichen lassen. Eine Anpassung der Öffnungszeiten an den tatsächlichen Bedarf ist möglich. Ebenso ein Check, ob die Ausstattung einer Filiale zu den dort nachgefragten Services passt. Und das sei erst der Anfang, sagt Bogdanovic und wählt einen ambitionierten Vergleich: "Wir sind gerade bei ChatGPT 3.5" – also der Version des KI-Chatbots, die Ende 2022 den Boom einer ganzen Technologie ausgelöst hat und seitdem mit jedem Update gravierend fähiger und vielseitiger geworden ist.   

Bogdanovic sagt außerdem über sein Produkt: Linetweet sei "wie ein Minority Report", sagt Bogdanovic. Eine Analogie, die auf mehreren Ebenen zutrifft. Zum einen erlauben die KI-Prognosen einen von unsichtbarer Hand optimierten Kundenservice. "Wir wissen genau, wie viele Kunden oder Mitarbeiterproduktivität an einem Tag in der Zukunft verloren gehen", sagt Bogdanovic.

Messbar zufriedenere Kund*innen

Zum anderen umgibt die Technologie nach wie vor die Aura des Mysteriösen, wenn nicht Gefährlichen – ganz konkret, wie Bogdanovic durch viele Gespräche gelernt hat: "Die größte Angst vom Retailer ist, irgendwas an der Technik zu ändern, weil, es endlich funktioniert." Bei Linetweet ist man trotzdem optimistisch bald neue Kunden gewinnen und den Funktionsumfang der Plattform in den kommenden Jahren weiter auszubauen zu können. Bogdanovic denkt etwa darüber nach das komplette Personalmanagement in Linetweet zu integrieren. 

Bei Fielmann und der Telekom, dem zweiten namhaften Kunden von Linetweet, hat man sich auf das Experiment eingelassen, um – hier hinkt die Minority-Report-Analogie dann doch erheblich – die Zufriedenheit der analysierten Subjekte zu steigern. Kundenzufriedenheit sei zusammen mit der Kundenbindung die wichtigste KPI des Optikers, so Wolk, wichtiger noch als Umsatz. Man messe online oder per Brief die Erfahrung nahezu aller Kund*innen. Der ohnehin hohe Wert von 90 Prozent habe sich dort, wo das Tool von Linetweet im Einsatz ist, weiter verbessert. Es gehe um ein bis zwei Prozent, sagt Wolk. Aufgrund des hohen Ausgangsniveaus sei das aber ein beachtlicher Push. 

Termin-Tool als Impuls für neue Omnichannel-Abläufe

Linetweet ist für Fielmann heute kein Add-on mehr, sagt Wolk, sondern "zu einem sehr wichtigen Tool des Business geworden". Darum werde längst über die nächsten Schritte nachgedacht, das Termin-Management weiter zu optimieren. Großes Potenzial sieht er in einer engeren Verzahnung von E-Commerce und Ladengeschäften. So habe man beispielsweise getestet, Brillenmodelle, die Kund*innen zuvor auf der Website virtuell probiert und ausgewählt haben, zum Termin in der Filiale dann physisch auf dem Tisch bereitzulegen.  

Doch schon in der aktuellen Integration in die Abläufe dürfte sich Linetweet für Fielmann gelohnt haben. Konkrete Zahlen mag Wolk nicht nennen, aber: "Wir reden über einen Millionenbetrag, den wir aus dem aktuellen Setting erwarten", sagt Wolk. Dem 3.5-Setting, wie erwähnt. Es dürfte also noch mehr möglich sein. Wie viel? Bogdanovic sagt zu dem Thema – und ausdrücklich ohne Bezug auf Fielmann: "Wir gehen davon aus, dass wir den Umsatz oder die Produktivität unserer Kunden um mindestens zehn Prozent steigern können."

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Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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