Wirres TV-Interview als cleverer SEO-Hack: Hat Boris Johnson gezielt Google manipuliert?

Der britische Premier hat unliebsame Berichte in den SERPS nach unten gedrückt

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Inhalt
  1. Seine Gegner sorgen für die Reichweite und für Backlinks
  2. Zufall oder Strategie?
  3. Brexiteers müssen zurückrudern
  4. Vor dem Interview: Vielkritisiertes Londoner Busmodell im Fokus
  5. „Nach SEO-Maßstäben ein Erfolg“
  6. Boris Johnson macht SEO sogar für John Oliver zum Thema

Liegen Boris Johnsons Talente möglicherweise eher im Online Marketing denn in der Politik? Diese Frage kann man angesichts der Theorie, die aktuell in der SEO-Szene und darüber hinaus diskutiert wird, durchaus stellen. Dem neuen britischen Premierminister soll es erfolgreich gelungen sein, die Ergebnisse von Googles Suchmaschine gezielt in seinem Sinne zu beeinflussen.

Angefangen hatte alles mit einem Interview: Der britische Radiosender Talk Radio veröffentlichte Ende Juni ein kurz vor Johnsons Wahl zum neuen Premierminister aufgezeichnetes Gespräch mit Boris Johnson. Interviewer Ross Kempsell fragte Johnson darin auch, was dieser in seiner Freizeit tue, wenn er sich entspannen wolle. Johnsons überraschende und leicht gestammelt vorgetragene Antwort: Er baue aus alten Holzkisten Busmodelle und zeichne auf diese ebenfalls auf, wie sich die Passagiere bei der Fahrt amüsieren.

Nun ist Boris Johnson im Laufe seiner gesamten politischen Karriere immer wieder mit kuriosen Aktionen und merkwürdigen Interviews aufgefallen. Immer wieder haben diese für relevante Aufmerksamkeit und Berichterstattung gesorgt. Geschadet hat ihm das augenscheinlich wenig – schließlich ist Johnson nun Inhaber des höchsten staatlichen Amtes in Großbritannien.Ross Kempsell erkannte offenbar in Johnsons skurriler Antwort auf die Frage nach seinem Hobby relativ schnell das Viral-Potenzial und veröffentlichte ein Kurzvideo davon auf Twitter. Mit enormer Resonanz: Bis heute ist das Video mehr als vier Millionen Mal abgerufen und mehr als 1.000 Mal retweetet worden.

Sonderlich erstaunlich ist diese Resonanz nicht: Viele Menschen weltweit lehnen Johnson (vor allem, weil er die „Vote Leave“-Kampagne anführte, die für den Ausstiegs Großbritanniens aus der EU plädierte) leidenschaftlich ab. Johnsons vermeintliche Hanswurstigkeit nehmen seine Gegner immer wieder mit Freude zum Anlass dafür, sich im Netz über ihn lustig zu machen. Namhafte und reichweitenstarke Medien wie die BBC und der Guardian griffen Johnsons angeblichen Busbasteleien auf und berichteten darüber.

Zufall oder Strategie?

Relativ bald nach Veröffentlichung des Interviews mutmaßten auf Twitter jedoch auch mehrere Nutzer, dass Johnsons wirre Interview-Antwort ein gezielter Manipulationsversuch sein könnte: Johnson habe das Thema absichtlich platziert, damit es aufgegriffen werde, und die Berichte über seine Antwort die bisherigen Ergebnisse in Googles Suchmaschine zu Anfragen wie „boris bus“ verdrängen. Viele derjenigen, die solche Vermutungen äußerten, dachten dabei an den Bus der „Vote Leave“-Initiative, die vor dem britischen Referendum für den Austritt Großbritanniens aus der EU war und von Johnson unterstützt worden war.

Zentrales Element der Kampagne von „Vote Leave“ war die Behauptung, Großbritannien überweise jede Woche (!) 350 Millionen Euro an die Europäische Union. Dieses Geld sollte besser in den National Health Service, also in das Not leidende britische Gesundheitssystem investiert werden, so die Brexit-Befürworter. Diese Forderung hatten sie großflächig und entsprechend aufmerksamkeitsfördernd auf den Kampagnenbus aufgedruckt.

Brexiteers müssen zurückrudern

Nach dem Referendum zeigte sich, dass die Versprechen von „Vote Leave“, nach dem Brexit mehr Geld ins Gesundheitssystem zu investieren, in dieser Form kaum zu halten sein werden. Nigel Farage, zentrale Figur von „Vote Leave“, musste in einem TV-Interview zurückrudern und sich von der Behauptung und Forderung distanzieren.

Marcus Ball, britischer Bürger, hat die Initiative Brexit Justice“ (brexitjustice.com) gegründet, die die Brexiteers für ihre angeblichen Lügen zur Rechenschaft ziehen will und diesem Rahmen auch Boris Johnson verklagt hat. Ball ist jedoch zweimal vor Gericht mit seiner Klage gescheitert und erwägt aktuell laut einem Bericht als letztes Mittel vor den obersten Gerichtshof Großbritanniens zu ziehen.

Vor dem Interview: Vielkritisiertes Londoner Busmodell im Fokus

Mehr als vorstellbar also, dass Boris Johnson die 350 Millionen Pfund am liebsten vergessen machen möchte. Die britische Digital-Agentur Parallax hat die These, dass Johnson mit seinem Interview exakt das versucht hat, genauer geprüft. Laut der Agentur seien vor Johnsons Talkradio-Interview habe Google in Großbritannien zu der Suchanfrage „boris bus“ jedoch keine Links zu Berichten über den „Vote Leave“-Bus angezeigt.

Vielmehr seien in den Suchergebnissen Berichte über Routemaster-Busse zu finden gewesen, die jedoch ebenfalls eher kritisch waren. Routemaster ist ein Bus-Modell, das Johnson in seiner Zeit als Londoner Oberbürgermeister für die öffentlichen Verkehrsbetriebe bestellt hatte. Und das, obwohl das Modell von vielen Seiten, u.a. dem damaligen Transport Commission, als zu teuer kritisiert worden waren. Auch nach der Inbetriebnahme der Routemaster riss die Kritik nicht ab: Im Sommer staut sich in den Bussen die Hitze stärker als in den U-Bahnen. In großen Teilen der Bevölkerung tragen die Busse seitdem den Spitznamen „Roastmaster“. Denkbar also, dass Johnson auch dieses Thema gerne beerdigen würde.

Das Ergebnis einer Google-Suche nach „boris bus“ in Großbritannien nach Johnsons Interview (Screenshot: Parallax)

„Nach SEO-Maßstäben ein Erfolg“

Das ist auf jeden Fall geschehen. Nach dem Interview fanden sich bei Google im sichtbaren Bereich nur Links zu Medienberichten und Tweets über Johnsons Busmodelle. Auch in Deutschland dreht sich aktuell die überwiegende Zahl der Suchergebnisse um das angebliche Hobby. Nach den Maßstäben einer SEO-Kampagne beurteilt, sei es schwer, Johnsons Versuch, das Narrativ neu zu schreiben, als etwas anderes als einen Erfolg zu bezeichnen, schreibt Parallax britisch diplomatisch. Ein finales Urteil darüber, ob dieser Erfolg wirklich beabsichtigt war, traut sich aber auch die Agentur nicht abzugeben.

Die Vorgänge erinnern in jedem Fall an die Ablenkungsstrategie der „Dead Cat Strategy“ – die Johnson einmal in einem Gastbeitrag für den britischen Telegraph beschrieben hat. Wenn man bei einem unliebsamen Gespräch eine tote Katze auf den Tisch werfe, würden die Leute nur über die tote Katze sprechen, und nicht über das, was ihnen große Sorgen bereite.

Boris Johnson macht SEO sogar für John Oliver zum Thema

Für Parallax war der Blog-Artikel über Johnsons möglichen SEO-Hack in jedem Fall ein Content-Marketing-Erfolg. Die britische Times, die Daily Mail und der US-Blog Gizmodo griffen die Analyse der Agentur auf. Vor wenigen Tagen legte sogar der britische Komiker John Oliver in seiner US-TV-Sendung „Last Week Tonight“ nach. „War es wirklich seine Absicht? Das ist unmöglich zu wissen – aber man kann es auch nicht ausschließen. Und wenn man einmal damit angefangen hat zu erkennen, dass Boris Johnsons Ausfälle in Wirklichkeit kalkulierte Manipulation sein könnten, kann man damit kaum mehr aufhören.“

SEO
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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