2,3 Milliarden Views: Hat eine deutsche Agentur die Benchmark für Tiktok-Werbung gesetzt?

Wie Pulse Advertising für MAC um die Gunst der Gen Z buhlt

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Ausschnitte aus Tiktok-Videos, die Creator im Rahmen der #YouOwnIt-Kampagne von MAC Cosmetics produziert haben

Es ist möglicherweise die reichweitenstärkste Werbemaßnahme bislang auf Tiktok: 2,3 Milliarden Views verzeichnen die Videos zum Hashtag #YouOwnIt auf der Social-Video-Plattform. Dahinter steht eine Kampagne, die die Hamburger Agentur Pulse Advertising für das Kosmetikunternehmen MAC durchgeführt hat. OMR hat mit Pulse-Mitgründer und -CEO Christoph Kastenholz über Werbung auf Tiktok gesprochen und analysiert, wie die beachtlichen Aufrufzahlen zustande kommen.

Eine junge, kräftige Frau, mit Brille und Dutt, in Jeans und Bluse, steht draußen auf der Straße und wird nass geregnet. Augenscheinlich frustriert von ihrer Situation, dreht sie sich einmal um sich selbst und befindet sich von einem Moment auf dem nächsten in einem schicken, von farbigen Neonröhren erleuchteten Ladengeschäft. Statt Alltags-Look trägt die Protagonistin nun ein elegantes Kleid im 50er-Jahre-Stil, ihre Haare sind rot gefärbt und ihr Gesicht ist unter anderem mit auffälligem roten Lippenstift geschminkt. Sie vollführt einen Catwalk wie ein Model, streicht ihre Haare nach hinten und wirft dem Zuschauer ein Handküsschen zu.

Mehr als zwei Drittel der Tiktok-Nutzer gehören der Gen Z an

Das Video ist eines von unzähligen, die auf der Social-Video-Plattform Tiktok unter dem Hashtag #YouOwnIt (freier übersetzt: „Läuft bei Dir“) aufgeführt werden. Produziert und veröffentlicht wurde der Clip von der Plus-Size-Influencerin Anna OBrien, im Netz unter dem Namen „Glitter and Lazers“ bekannt. Sie ist eine von 18 Creatorn, die von MAC Cosmetics dafür bezahlt wurden, Videos auf Tiktok zum besagten Hashtag hochzuladen.

Ziel der Kampagne: Die Bekanntheit von MAC in der Generation Z (zu der die zwischen 1997 und 2012 Geborenen gezählt werden, also die heutigen Teenager) zu stärken. Laut einem Pitch Deck, mit dem Tiktok-Betreiber Bytedance Werbekunden in den USA gewinnen will, und das das Branchenmagazin AdAge veröffentlicht hat, sind 69 Prozent der Tiktok-Nutzer unter 25 Jahre alt. Offenbar haben Zahlen wie diese MAC Cosmetics davon überzeugt, auf Tiktok eine Werbekampagne durchzuführen.

Branded Hashtag Challenges gibt es in dieser Form nur auf Tiktok

Die Kosmetikmarke hat die Hamburger Agentur Pulse Advertising beauftragt, auf Tiktok eine so genannte Branded Hashtag Challenge durchzuführen. Challenges sind eines der zentralen Prinzipien von Tiktok: Eine mehr oder minder kreative Idee wird von Hunderten oder Tausenden Tiktok-Nutzern auf immer neue Weise interpretiert. Die Audiospur bleibt dabei häufig immer dieselbe, sei es ein Song oder beispielsweise ein Sprachschnipsel aus einem bekannten Film. Alle Videos zu einer Challenge sind auf Tiktok jeweils unter einem eigenen Hashtag auffindbar.

Mit diesen Infos trommelt Tiktok unter Werbetreibenden für Hashtag Challenges als Werbeprodukt (Quelle: AdAge)

Branded Hashtag Challenges sind (im Unterschied zum eher Performance-lastigen Selbst-Buchungs-Tool) eines von mehreren Branding-Werbeprodukten auf Tiktok (weitere sind dem von AdAge veröffentlichten Pitch Deck zu entnehmen), und wohl dasjenige, das am ehesten die Besonderheiten von Tiktoks Plattform abbildet. Bei diesem Format sponsern die Werbekunden eine Challenge auf Tiktok; die Hashtag-Seite wird als Werbung gekennzeichnet und mit dem Logo des Werbekunden versehen. Außerdem wird die Challenge für einen festen Zeitraum mit einem Banner auf der so genannten Explore-Seite von Tiktok beworben, auf der sich Tiktok-Nutzer über Challenges informieren, zu denen zu diesem Zeitpunkt viele Videos gepostet werden.

Mit Diversity bei der „Generation Woke“ punkten

Die Unterseite zum Hashtag #YouOwnIt in der Tiktok-App. Sichtbar auch die Zahl von 2,3 Milliarden (auf Englisch Billion) Views (bearbeiteter Screenshot)

In der Regel posten außerdem zum Kampagnenstart mehrere Influencer Videos zum Hashtag der Challenge, um den Schneeball ins Laufen zu bringen, der sich dann im Idealfall zur viralen Lawine entwickelt. „Tiktok vermittelt bei Bedarf auch selbst Influencer an Werbekunden“, erklärt Christoph Kastenholz, der mit seiner Agentur Pulse die Kampagne für MAC durchgeführt hat. „Aber häufig kommt ja die Storyline einer Kampagne erst im Gespräch mit den Influencern. Zudem hat Tiktok gar nicht die Kapazität, eine Kampagne in dem Umfang wie die von MAC Cosmetics, auch umzusetzen.“

Pulse hat also 18 Influencer für die Kampagne ausgewählt. Dabei habe die „Diversity“ im Fokus gestanden: So finden sich unter den an der Kampagne beteiligten „Creatorn“ nicht nur eingangs erwähnte Anna OBrien, die von den klassischen Modelmaßen weit entfernt ist, sondern auch der (zumindest nach seiner Transformation im Kampagnen-Video) metrosexuell anmutende Latino-Youtuber Louie Castro und Noah Murphy, ein Junge im Teenager-Alter, der in seinem Video zur Kampagne im femininen Kleid und auffällig geschminkt zu sehen ist. Pulse habe festlegen können, welche Videos auf der Hashtag-Seite bei Tiktok ganz oben auftauchen, so Kastenholz.

Ein Budget im unteren sechsstelligen Bereich?

Für eine Tiktok-Kampagne dieser Art müssten Werbetreibende mit einem Budget im unteren sechsstelligen Bereich rechnen, so der Agenturinhaber. „Das beinhaltetet dann den Preis für das Placement auf Tiktoks Plattform, die Lizenz für das Musikstück, das alle Videos der Challenge untermalt, sowie die Kosten für die Placements bei den Influencern.” Mit dem Ergebnis von 2,3 Milliarden Views ist MAC Cosmetics offensichtlich äußerst zufrieden: Die Challenge habe „alle Erwartungen vollkommen übertroffen“, wird Diederik Koenders von MAC Cosmetics in einer Pressemitteilung von Pulse zitiert.

Bei der Einordnung der Zahlen muss man berücksichtigen, dass Tiktok offenbar Views sehr großzügig und möglicherweise sogar jeden Abruf der in Schleife abgespielten Videos einzeln zählt. Überraschend wäre das nicht: In der Vergangenheit war beispielsweise auch Social-Gigant Facebook äußerst großzügig beim Erheben von Metriken. Offizielle Informationen darüber, wie Tiktok Views zählt, lassen sich auf der Website des Unternehmens nicht finden.

Fast das Sechsfache der Views der bisher erfolgreichsten Kampagne

Hinzu kommt, dass, scrollt man auf der Hashtag-Seite der Kampagne auf Tiktok nach unten, man zu dem Hashtag #YouOwnIt auch diverse Videos findet, die mit mehreren Hashtags markiert wurden und bei denen die entsprechenden Creator den Grundgedanken der Challenge gar nicht wirklich aufgreifen. Auch diese Masche ist im Social-Media-Bereich nicht neu: Auf Twitter und Instagram versehen viele Nutzer, die stumpf auf Reichweite optimieren, ihre Inhalte mit den aktuell beliebtesten Hashtags, um potenziell ihre Sichtbarkeit zu erhöhen.

Beachtlich bleibt trotzdem, dass die #YouOwnIt-Challenge offenbar die bislang erfolgreichste Werbekampagne auf Tiktok ist. Zwar gibt es generische Hashtags wie #tiktok und #love sowie die ungebrandete Hashtag-Challenge #pov, die auf Tiktok mehr Views generieren konnten. Aber: „Die bislang erfolgreichste Branded Challenge auf Tiktok hat 400 Millionen Views generiert“, so Christoph Kastenholz, Mitgründer von Pulse Advertising, gegenüber OMR. Mit 2,3 Milliarden Views haben Pulse und MAC dieses Ergebnis also fast versechsfachen können.

Der Löwenanteil ist User Generated Content

Durchaus möglich, dass nahezu alle westlichen Tiktok-Nutzer mehrfach mit der Kampagne, oder zumindest mit ihrem Hashtag in Kontakt gekommen sind. Denn laut dem von AdAge geleakten Pitch Deck verzeichnet Tiktok außerhalb Chinas rund 300 Millionen Nutzer. Wie viele Unique User die Kampagne erreicht habe, sei von Tiktok nicht ausgewiesen worden, so Kastenholz. „Die Targeting- und Analytics-Möglichkeiten bei Tiktok sind noch ziemlich eingeschränkt.“ Pulse habe immerhin von den beteilligten Creatorn Einblick in deren Abrufstatistiken erhalten. Dabei habe sich gezeigt, dass ein Großteil der Views von User-Generated-Content-Videos stamme: „Die Creator, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben mit ihrem Content auf Tiktok 15 Millionen Impressions generiert.“

Tiktok hat laut Kastenholz im Kampagnenreporting immerhin ausgewiesen, wie häufig der Banner, der auf der Explore-Seite von Tiktok die Challenge beworben hat, aufgerufen wurde, und wie häufig die Hashtag-Seite besucht worden sei. Gegenüber OMR wollte der Agenturgründer zu diesen Zahlen aber keine Angaben machen. Ob durch die Kampagne mehr MAC-Produkte verkauft worden sind, dürfte auch wegen des noch nicht ausgereiften Trackings von Tiktok kaum zu ermitteln sein. „Wir haben deutlich mehr Awareness auf der Website von MAC Cosmetics feststellen können. Außerdem hatten wir einen eigenen Tiktok-Account für MAC eingerichtet, den wir gar nicht verlinkt haben und auf dem auch kein Content ist. Trotzdem hat der in kürzester Zeit 5.000 Follower-Requests gewonnen“, berichtet Kastenholz.

Ein Drittel des Contents musste nicht bezahlt werden

„Zum Erfolg der Kampagne hat sicherlich zum einen beigetragen, dass die Challenge sechs Tage prominent mit Banner im Explore-Bereich von Tiktok promotet wurde. Zum anderen haben wir mit der New York Fashion Week auf einen Event aufgesetzt, auf dem sowieso schon extrem viel Aufmerksamkeit lag“, sagt Kastenholz. Sechs der 18 beteiligten Influencer seien von Mac dann auch backstage zur Fashion Week eingeladen worden.

Nicht aller Content, den die Influencer daraufhin gepostet haben, sei von Pulse in Auftrag gegeben worden. So hat Influencerin Victoria Lyn, der auf Tiktok 1,6 Millionen Nutzer folgen, beispielsweise auch in ihren Storys auf Instagram (wo sie 490.000 Follower verzeichnet) von der New York Fashion Week berichtet (und dabei auch Werbung für Mac gemacht), ebenso wie Seth OBrien, dem auf Tiktok aktuell 743.000 und auf Instagram 20.000 Menschen folgen. „30 Prozent des von den Creatorn erstellten Content war earned, wurde von uns also nicht bezahlt“, so Christoph Kastenholz.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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