Grusel an zufälligen Orten: Wie Randonautica über Tiktok, Reddit und Telegram groß wurde

Die App verzeichnet nach wenigen Monaten Millionen von Downloads

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User suchen zufällig erstellte Ortskoordinaten in ihrer Nähe auf und erleben dort möglicherweise Überraschendes, Inspirierendes oder Gruseliges – das ist die Grundidee hinter Randonautica. Die App kommt wie eine Mischung aus Schnitzeljagd, Geocaching, The Matrix und Blair Witch Project daher und ist dabei technisch extrem simpel. Trotzdem ist Randonautica enorm erfolgreich, in mehreren Ländern unter den kostenlosen Spielen ganz oben im App Store und wurde bislang mehrere Millionen mal heruntergeladen. Haupttreiber dieser Entwicklung: virale Tiktok-Videos. Mindestens eines davon hat mit einem wirklichen Verbrechen zu tun.

„Leute, wir haben einen Koffer am Strand gefunden“, spricht einer von mehreren US-Jugendlichen im Off in einem am 20. Juni auf Tiktok hochgeladenen Video. Das Video ist offenbar an einem abgelegenen Uferabschnitt an der Küste von Seattle aufgenommen; besagter Koffer ist darin auch zu sehen ist. Zuerst habe die Gruppe gedacht, dass sich in dem Gepäckstück möglicherweise Geld befinde, ist in einer Texteinblendung zu lesen. Doch weil aus dem Koffer ein äußerst unangenehmer Geruch dringt, ruft die Gruppe die Polizei.

Polizei nimmt Ermittlungen auf

Wie sich in Folge dessen herausstellt, enthält der Koffer Leichenteile. Am Ende des Videos sind Einsatzwagen von Polizei und Feuerwehr zu sehen. Die Polizei von Seattle bestätigt den Fund bereits am 19. Juni und identifiziert die Leichen einige Tage später als junges Paar aus Washington, das erschossen worden sei.

Zwei Mitglieder der Gruppe von Jugendlichen, die den Koffer gefunden haben, laden ihre Videos einen Tag nach dessen Auffinden auf Tiktok hoch. Eines davon weist aktuell 23,4 Millionen Views auf, ein anderes acht Millionen Views. In beiden Video sind keine grausamen Details zu sehen. Gegenüber US-Medien (u.a. People und Buzzfeed) erklärt die Seattler Polizei, dass sie beide Videos nicht als inszeniert einstuft und auch nicht davon ausgeht, dass die Jugendlichen etwas mit dem Mord an dem Paar zu tun haben.

Medien berichten weltweit

Über den Fall wird in der ganzen Welt berichtet, wohl nicht zuletzt aufgrund der aufsehenerregenden Umstände und der beiden Videos, die nach wie vor im Netz abrufbar sind. Auch deutsche Medien greifen den Mordfall auf: Stern, Focus und Springers Jugendmedium Noizz. In vielen der Berichte wird Randonautica thematisiert – denn der Grund dafür, dass die Jugendlichen genau den Strandabschnitt aufgesucht haben, ist, dass Ihnen die App diese Koordinaten gegeben hat.

Nutzer von Randonautica (ein Portmanteau aus „random“, also zufällig, und Nautik) sollen mit der App aus ihren „Probabilitäts-Tunneln“ ausbrechen und mehr Zufall in ihre Leben bringen können, erklärt Miterfinder Joshua Lengfelder in einem Video auf dem offiziellen Tiktok-Account der App. Die App (iOS / Google Play) selbst mischt esoterisch anmutende Ideen mit wissenschaftlicher Begrifflichkeiten (etwa aus der Quantenphysik). Auf den Einwand, dass all dies pseudo-wissenschaftlicher Quatsch ist, heißt es im FAQ-Bereich der Website: „Das Projekt hat nicht den Anspruch, akademischen Standards zu genügen.“ Randonautica sei irgendwo in der Mitte zwischen einem Spiel, Wissenschaft und Kunst angesiedelt.

Mehr als 300 Millionen Views auf Tiktok

Durchaus vorstellbar, dass Randonautica (die App ist seit Februar im App Store) mit diesem Grundkonzept zuletzt auch von der Corona-Krise profitiert hat. In Zeiten von „Social Distancing“ dürfte das Erfolgspotenzial einer App, mit der die Nutzer ihre Spaziergänge ein wenig „aufpeppen“ und sich auch ohne Gesellschaft draußen besser die Zeit vertreiben können, noch ein wenig höher sein.

Auf Tiktok verzeichnen Videos zu Randonautica teilweise extrem hohe Abrufzahlen: 300 Millionen Views weist die Plattform für Clips zum Hashtag #randonautica aus, 175 Millionen sind es für #randonauting, 88 Millionen für #randonaut. Für virale Effekte haben offenbar vor allem grausige Funde wie die der Teenager aus Seattle oder zumindest unheimliche Erlebnisse gesorgt.

Randonautica + Tiktok Algorithmus = ?

So berichtet eine der Urheberinnen eines der meist abgerufenen Videos (6,7 Millionen Views) in Tränen aufgelöst, dass sie beim „Randonauting“ ein Schussopfer aufgefunden habe. Eine andere Nutzerin hat gefilmt, wie sie bei einer nächtlichen Autofahrt auf einem abgelegenen Weg plötzlich eine unheimliches Wesen im Scheinwerferlicht sieht und schnell den Rückwärtsgang einlegt (6,7 Millionen Views). Eine deutsche Nutzerin ist angeblich von der App zu einem Labyrinth geführt worden, wo sie Hilfeschreie eines Mädchens gehört haben will und deswegen die Polizei ruft (rund eine halbe Million Views). Die passenden, unheimlichen Soundeffekte zur Untermalung der Amateur-Schocker-Videos liefert die Tiktok-App g

Aus Marketing-Sicht ist Randonauticas Grundkonzept und Tiktoks Algorithmus ein „match made in heaven“. Denn zu den wichtigsten Faktoren, die darüber entscheiden, ob Tiktok ein Video einer großen Zuschauerschaft ausspielt, gehört wie lange und wie häufig das Video (idealerweise mehrfach hintereinander) angesehen worden ist. Die von den „Randonauten“ filmisch dokumentierten unheimlichen Erlebnisse mit ihrem „Ich zeige Dir etwas Erstaunliches“-Ansatz funktionieren in diesem Umfeld offensichtlich äußerst gut. Viele Zuschauer dürften beim ersten Schauen der Videos nicht alles Entscheidende erkennen (zumal einige Videos auch im Dunkeln gefilmt wurden) und diese mehrfach anschauen.

Schon andere Apps sind über Tiktok viral gegangen

Die über Tiktok generierte Aufmerksamkeit hat die Download-Zahlen der App enorm gepusht. Nach Angaben der Betreiber ist die (offiziell noch in der Beta-Phase befindliche) Randonautica-App weltweit bislang mehr als sechs Millionen Mal heruntergeladen worden. App-Analytics-Tools wie Appfigures und Priori Data schätzen die Zahl der Downloads ebenfalls im mittleren siebenstelligen Bereich ein.

Die Entwicklung der Download-Zahlen der iOS-Version von Randonautica (Quelle: Appfigures)

Randonautica ist nicht die erste App, die über Tiktok viral gegangen ist. In den ersten Monaten dieses Jahres hat bereits die aus Berlin stammende Bildbearbeitungs-App Touch Retouch durch Tiktok einen enormen Push bekommen. Auch bei der Payment App Cash App hat Tiktok im Marketing eine gewichtige Rolle gespielt.

„Hier ist absolut nichts!“

Dass im Fall von Randonautica gerade die ungewöhnlichen und/oder unheimlichen Videos so hohe Aufrufzahlen auf Tiktok generieren, ist wenig verwunderlich. Nutzer, denen beim „Randonauting“ nichts besonderes widerfährt (oder die keinen Dreh finden, um eine ereignislose Nutzung der App irgendwie als „Abenteuer“ zu inszenieren), nehmen vermutlich gar nicht erst ein Video auf, oder Tiktok spielt es aus den genannten Gründen nicht einer größeren Zuschauerschaft aus.

Tiefergehende Auseinandersetzungen mit Randonautica finden sich dann eher auf anderen Plattformen wie Youtube. „Hier ist nichts, absolut nichts“, sagt Youtuber Creepypastapunch beispielsweise in dem Video, in dem er seine Erfahrungen mit der App schildert. Mit mehr als 260.000 Views gehört es zu den am häufigsten abgerufenen deutschsprachigen Videos zu Randonautica auf Youtube.

Über Github zu Telegram zu Reddit

Dass Randonautica – auch wenn vielleicht nur wenige Nutzer wirklich etwas Außergewöhnliches durch die App erleben – zu solch einem Erfolg geworden ist, mag auch damit zu tun haben, dass die Betreiber der App auf eine bereits existierende Community aufgesetzt haben. Noch vor der App gab es bereits 2019 den „Fatum Bot“, der den Nutzern Zufallskoordinaten ausspuckte und dafür offenbar auf einen Quantenzahlen-Zufallsgenerator der australischen Nationaluniversität in Canberra zugriff. Einer der Mitinitiatoren ist offenbar der 26-Jährige Philosophie-Student Nick Hinton, der auf Twitter mehrfach mit Tweets viral geht, in denen er erläutert, warum er glaubt, dass die Menschheit in einer Simulation lebt.

Der „Fatum Bot“ existierte zuerst als Script auf der Programmier-Plattform Github, dann später als Bot in der Messaging-App Telegram. Schon zu diesem Zeitpunkt wird Joshua Lengfelder auf das Projekt aufmerksam. Auf Reddit postet er im Subreddit (Unterforum) „Dimension Jumping“, in dem aktuell mehr als 20.000 Menschen darüber diskutieren, ob man eine andere Dimension betreten kann, im März 2019 eine kurze Abhandlung über den Fatum Bot, die überdurchschnittlich viele Antworten und „Upvotes“ erhält.

106.000 Mitglieder im eigenen Subreddit

Wenig später richtet Lengfelder ein eigenes Subreddit für „Randonauts“ ein. Dessen Mitgliederzahl wächst über die Monate hinweg langsam aber beständig. Im Februar 2020 veröffentlicht die „Randonaut LLC“ die Randonaut-App im App Store. Sie basiert auf einem mit Microsoft erstellten Web Bot, durch den der mittlerweile umgetaufte „Randonaut Bot“ seit November 2019 auch außerhalb von Telegram nutzbar ist.

Im Mai 2020 beginnt die Randonautica-App plötzlich über Tiktok viral zu gehen. Der #randonauting-Hashtag steht zu diesem Zeitpunkt bei 6,5 Millionen Views, wie Wired schreibt. Parallel dazu schießen die Mitgliederzahlen im Randonaut-Subreddit in die Höhe. Heute tauschen sich dort mehr als 106.000 Mitglieder über ihre Randonauting-Erfahrungen aus. Die Randonautica-Telegram-Gruppe verzeichnet mehr als 3.000 Mitglieder.

Ansturm zwingt die App in die Knie

Durch den viralen Push über Tiktok laden 200.000 Nutzer auf einmal die App runter, wie die Randonautica-Macher auf Social Media schreiben. Kurzzeitig müssen sie die App sogar deaktivieren, weil der Server der erhöhten Last nicht mehr Stand hält. Mittlerweile läuft die App wieder rund.

Hey randonauts! Due to 200k people downloading randonautica we have to increase our server size! This will require doubling our monthly payment so we are asking for your support to help keep us running! 

If you can't donate, retweet! Thanks randonauts pic.twitter.com/aAPOGM2quJ

— Randonauts (@TheRandonauts) May 17, 2020

Und wie verdienen die Macher mit Randonautica Geld und refinanzieren den Betrieb der App? In Randonautica findet sich keine Werbung; laut mehrerer App-Analytics-Tools sind in der App auch keine SDKs eingebettet, die auf eine anstehende Werbevermarktung oder einen potenziellen Verkauf bzw. eine Weitergabe von Standortdaten der Nutzer schließen lassen. Die Nutzer müssen sich aktuell auch nicht registrieren, um die App nutzen zu können.

Monetarisierung nach dem Freemium-Modell

Randonautica-Fans können sich im Shop Merchandise kaufen, um das Projekt zu unterstützen. Er könne sich vorstellen, kostenpflichtige Zusatzfunktionen anzubieten, sagt Joshua Lengfelder in einem Tiktok-Video aus dem Mai auf die Frage eines Nutzers nach der Monetarisierung.

Zumindest ein Teil dieses Plans ist offenbar schon umgesetzt: Mittlerweile können die Nutzer in der App Offline-Kartenmaterial und die Möglichkeit, Koordinaten auf dem Wasser auszuschließen, kaufen. 25.000 US-Dollar haben die Betreiber über diesen Weg nach Schätzungen von Priori Data bereits eingenommen. Im Sommer soll außerdem ein „offizielles App-Update“ kommen, so ein Ankündigungsvideo auf Tiktok.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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