Millionen Views und siebenstellige Umsätze: Der Schach-Hype nach „The Queen’s Gambit“

Florian Heide19.1.2021

Wir zeigen, wie auch deutsche Streamer und Shops auf der Welle reiten

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Inhalt
  1. Streamingrekorde dank Home Office und Kurzarbeit
  2. Vom Hobby zum Vollzeitjob
  3. YouTube allein reicht zum Leben
  4. Schlechtes Geschäft – dann kommt der November
  5. Besser als jede Werbekampagne
  6. Hoffen auf die Werbedeals

Würden wir noch in den 60ern leben und müssten gerade nicht sowieso zuhause bleiben, dann würde wir die Netflix-Produktion „The Queen’s Gambit“ (auf deutsch „Das Damengambit“) wohl als einen Straßenfeger bezeichnen. 62 Millionen Mal soll die Serie laut Netflix im ersten Monat abgerufen worden sein – und hat die durch Corona ohnehin schon ausgelöste Schach-Welle zusätzlich verstärkt. Wir zeigen, welches Ausmaß das Phänomen angenommen hat und haben in Erfahrung gebracht, wie stark auch deutsche „Schach-Creator“ und -Händler im Internet von dem Phänomen profitieren.

Streamingrekorde dank Home Office und Kurzarbeit

„The Queen’s Gambit“ ist eine siebenteilige Miniserie über den Aufstieg einer alkohol- und medikamentenabhängigen Schachvirtuosin namens Elizabeth „Beth“ Harmon. Die Serie spielt in den 50er und 60er Jahren und zeigt Elizabeths fiktiven Weg vom Waisenhaus, wo sie zum ersten Mal mit Schach und süchtig machenden Medikamenten in Berührung kommt, bis zu einem Turnier in der UdSSR gegen den amtierenden Weltmeister Vasily Borgov.

Die Serie wurde im ersten Monat nach ihrem Erscheinen über 62 Millionen mal auf Netflix gestreamt (laut Angaben des Streamingdienstes) und belegte dort in 63 Ländern den ersten Platz. Dass diese Streamingrekorde geknackt wurden, liegt vermutlich auch an den Begleitumständen der Corona-Pandemie: Während Kurzarbeit und Home Office bleibt unterm Strich mehr Zeit zu netflixen.

Schon vor dem Serienstart löste die Corona-Pandemie einen Wellenschlag aus. Das Interesse am „Spiel der Könige“ stieg weltweit: Hikaru Nakamura beispielsweise, Schach-Großmeister und bekanntester Schach-Streamer der E-Sports-Plattform Twitch, verzehnfachte seine Followerzahl seit Februar auf über 800.000. Zu Spitzenzeiten schauen dem 33-Jährigen aktuell rund 50.000 Menschen live dabei zu, wie er seine Gegner in digitalen Schach-Partien platt macht oder Züge erklärt. Magnus Carlsen, aktueller Anführer der Weltrangliste, nutzte die erhöhte Aufmerksamkeit und ging Anfang Oktober mit seinem Schach-Bot Play Magnus in Oslo an die Börse. Die App hat mittlerweile einen Marktwert von rund 179 Millionen Euro.

Ende Oktober verwandelt Netflix den anfänglichen Wellenschlag endgültig in eine schäumende Woge: Nach dem Serienstart von „The Queen’s Gambit“ verdoppelt sich die Zahl der Google-Suchanfragen für das Keyword „Schach“ weltweit und ist zwischenzeitlich so hoch wie seit neun Jahren nicht. Chess.com, die bekannteste Website für Online-Schach, wächst im ersten Halbjahr 2020 so schnell wie in den vorangegangenen zehn Jahren zusammengenommen. Und auch in Deutschland profitieren Content Producer und Händler vom anhaltenden Boom.

Vom Hobby zum Vollzeitjob

Im März 2020 hat der 48-jährige Georgios Souleidis noch 2.000 Abonnenten auf seinem YouTube-Kanal „The Big Greek“. Er betreibt ihn als Hobby, neben seinem Job als Schachtrainer und Journalist. Im März kommt der Lockdown und der etwas nerdig anmutende Schachkanal explodiert. Sein Video „Die goldenen Eröffnungsregeln“ mit Tipps für Anfänger, wie man eine Partie beginnt, geht viral und wird mit über einer Million Klicks bald zum erfolgreichsten Video eines deutschen Schachkanals. Wie genau es dazu kommt, kann Souleidis sich selbst nicht erklären. „Viele User schrieben, sie hätten keine Ahnung, warum ihnen das Video angezeigt wurde. Aber sie sagten auch, sie finden es cool, und würden es sich anschauen“, sagt er gegenüber OMR.

Georgios Souleidis aka „The Big Greek“ ist der derzeit erfolgreichste deutsche Schach-Youtuber und -Streamer auf Twitch. Foto: Henning Heide

Souleidis reagiert schnell auf die neu gewonnene Aufmerksamkeit. Seinen Job als Journalist lässt er ruhen, YouTube und der bis dato noch kleine Twitch-Kanal werden zum Vollzeit-Projekt. Weil er sich damals selbst noch nicht richtig mit Wachstumsstrategien auskennt, hilft ihm ein Freund dabei, den Kanal wachsen zu lassen. Und es läuft: Viele seiner Videos knacken die 100.000er-Marke, auf Twitch abonnieren die ersten zahlenden Subscriber seinen Kanal.

Heute hat „The Big Greek“ 82.000 YouTube-Follower, auf Twitch folgen ihm mehr als 36.000 Leute. In seinen Videos analysiert er die Partien berühmter Schachspieler oder spielt in Live-Sessions gegen seine Fans. Bei denen kommen der Content und die nahbare Art an. Für Souleidis bedeutet das eine Menge Arbeit: „Ich produziere jeden Tag ein Youtube-Video und streame fünf Mal die Woche auf Twitch“, sagt er. Dazu komme noch das Community-Management von Plattformen wie Patreon oder Discord. Auf lichess.org, einem Gratis-Schachserver, betreut er mit 9.000 Teammitgliedern außerdem das größte deutsche Schach-Team der Plattform.

YouTube allein reicht zum Leben

Aus dem einstigen Hobby ist ein lukratives Unternehmen geworden. Die Einnahmen verteilen sich auf mehrere Säulen, erklärt er. YouTube sei die größte davon, allein die Werbeeinnahmen würden reichen, um davon leben zu können. Dazu kommen die Twitch-Subscriber, also jene Abonnenten, die für exklusiven Content von ihm monatlich Geld bezahlen. Davon verzeichne Souleidis aktuell rund 700. Daneben gäbe es eine ganze Menge kleinerer Einkommensquellen wie zum Beispiel Amazon-Affiliate-Links, die Einnahmen aus dem Merchandise-Geschäft oder dem Paypal-Spendenpool. „Der Gesamtbetrag ändert sich jeden Monat“, sagt er. Eine konkrete Zahl will er nicht nennen. Nur so viel: Der Schach-Streamer kann davon sehr gut leben.

Einem möglichen Ende des Hypes sieht Souleidis gelassen entgegen. „Sobald man eine gewisse Größe erreicht hat, kann es eigentlich nicht mehr den Bach runtergehen“, sagt er. Sein Business-Modell zu erweitern, könne er sich durchaus vorstellen, zum Beispiel in dem er digitale One-to-many-Kurse anbietet oder Schachbücher im Eigenverlag publiziert. Die Gelassenheit ist verständlich, wenn man bedenkt, dass es keinen Tag gibt, an dem Souleidis Abonnentenzahl nicht um mehrere Hundert Leute wächst. Im April will er die 100.000-Follower-Marke auf YouTube knacken, bis Juli die 1.000 zahlenden Subscriber auf Twitch.

Schlechtes Geschäft – dann kommt der November

Während es auf Youtube, Twitch & Co. bereits im Frühjahr boomt, läuft das Geschäft bei Christian Kamp, Inhaber von Schachversand Niggemann, dem nach eigener Aussage größten Online-Schachhandel Europas, bis ins Spätjahr eher verhalten. „Durch die Corona-Krise waren die Bestellungen rückläufig, Schulen mit ihren Schach-AG’s und Schachvereine fielen als Kunden weg“, sagt er. Erst als „Das Damengambit“ seine Wirkung entfaltet, endet die Flaute.

Anfang Dezember ist das Lager von Schachversand Niggemann so gut wie leergefegt. Vor allem Holzprodukte, also Schachbretter, -figuren, und ganze Schachkassetten sind gefragt. Genauso wie mechanische Schachuhren, obwohl die eigentlich seit Jahren kaum mehr eingesetzt werden. Die Nachfrage nach solchen Produkten hat sich, wie er sagt, kurzerhand verzehnfacht. „Mit elektronischen Schachuhren haben wir das Lager voll, aber die will keiner“ sagt Kamp, weil sie – im Gegensatz zu den mechanischen – nicht in der Serie zu sehen sein würden. Bis ins neue Jahr hinein arbeitet das achtköpfige Team aus Münster in Hochtouren daran, ihre rund 80.000 Kunden aus Europa mit den nachgefragten Holzprodukten zu bedienen. Das klappt, bis Mitte Dezember dann auch die meisten Hersteller aus Spanien, Portugal oder Indien kapitulieren. „Wenn man bei denen momentan nachfragt, heißt es nur: Haben wir nicht mehr“ sagt er. Voraussichtlich im März können sie wieder in ausreichender Stückzahl produzieren und Online-Großhändler wie Kamp dann wieder ihre Produkte beziehen.

Besser als jede Werbekampagne

Im Dezember verzeichnet Kamps Website schachversand.de knapp 11.000 Aufrufe, mehr als das Doppelte als die Monate zuvor. Die meisten davon kommen von Google selbst, der Suchbegriff „Schachbrett kaufen“ wird zur Weihnachtszeit so oft verwendet wie seit 2007 nicht mehr. Die meisten Kunden kaufen zum ersten Mal, sagt Kamp, es sind jene, die bisher mit dem Spiel nichts am Hut hatten und nun die Grundausrüstung haben oder zu Weihnachten verschenken wollen. Trotz schlechtem Start ins Jahr wird der Umsatz des Online-Schachhändlers durch die Serie am Ende im normalen Bereich liegen. Wie hoch der ist, will auch Kamp nicht sagen, er dürfte sich aber im mittleren bis hohen siebenstelligen Bereich bewegen.

Dass viele der aktuellen Kunden nicht erneut bestellen werden, ist Kamp klar. Aber er sagt auch: „Wenn nur fünf Prozent davon langfristige Kunden werden, dann ist das schon ein enormer Effekt, den keine Werbekampagne hätte erreichen können“. Von der Serie ist Kamp selbst übrigens nur bedingt überzeugt. Der deutschen Übersetzung mangele es an korrekten Fachbegriffen, das wirke unauthentisch. Dass ausgerechnet sie Auslöser einer globalen Schachwelle sein könnte, hätte er nicht vermutet, auch wenn er im Gegensatz zur Konkurrenz hätte vorgewarnt sein können: Einen Teil der Requisiten für die Serie kaufte die Berliner Produktionsfirma X Filme Creative Pool, die an den Dreharbeiten beteiligt war, nämlich bei ihm.

Hoffen auf die Werbedeals

Der Weltschachverband Fide jedenfalls bereitet sich jetzt schon auf die anstehende WM 2021 vor. Hier spekuliert man vermutlich auf weitere Streamingrekorde, insbesondere weil mit dem Schachserver chess.com ein neuer, reichweitenstarker Broadcaster auf den Plan tritt. Twitch, wo jetzt bereits große Schachturniere wie die sogenannten „PogChamps“ stattfinden, soll dann als Multiplikator-Plattform dienen. Mit der vergrößerten Reichweite winken auch mehr Werbeeinnahmen für die Branche und höhere Preisgelder für die Spieler. 

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Florian Heide
Autor*In
Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

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