Inklusion in Deutschland: Ein Zustand, der nach (mehr) Überzeugung lechzt
In Deutschland zahlen viele Unternehmen “lieber” Strafe, als Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Inklupreneur hilft und berät, während die DHL Group zeigt, wie Inklusion gelingen kann.
Aufmerksamkeit steht uns allen zu. Aber warum werden Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht so behandelt, wie alle anderen? Sind falsche Scheu und Vorurteile das Problem? Die gemeinnützige Organisation Inklupreneur will gegensteuern, weil die Hürden oft nur im Denken existieren würden. Welcher arbeitsrechtliche Mythos die Inklusion ausbremst, erklärt das Inklupreneur-Trio Marten Welschbach, Frank Kaulen und Nils Dreyer. DHL-Inklusionsbeauftragte Anke Podewin weiß, wieso die Deutsche Post ein gutes Beispiel ist, von dem wir alle lernen können.
Marten Welschbach ist Talentmanager bei der gemeinnützigen Organisation Inklupreneur in Bremen. Sein Bachelor in Wirtschaftswissenschaft hat er in Marburg gemacht, an der Universität, an der deutschlandweit die meisten Studierenden mit Schwerbehindertenstatus lernen. Seinen Master in Volkswirtschaftslehre hat er abgebrochen, weil Freunde auf die Idee kamen, ein Startup zu gründen. Seit Januar 2023 ist er überzeugter Inklupreneur. Und das, obwohl die Ärzt*innen nach seiner Geburt sagten, er würde nie sprechen und laufen können. “Ich bin froh, dass sie sich geirrt haben”, sagt er 33 Jahre später.
720 Euro für eine Null-Quote
Sein Weg findet nicht viele Gefährten. Für die meisten ist ihr gesundheitliches Schicksal eng verknüpft mit beruflichen Barrieren. Hat ein Mensch eine Behinderung, ist es doppelt so wahrscheinlich, dass er arbeitslos ist. Zudem ist nur ein Drittel der Schwerbehinderten in Deutschland überhaupt beschäftigt. Um diese Menschen besser zu integrieren, gibt es die Ausgleichsabgabe, die bereits 1953 eingeführt wurde, um Kriegsopfer mit Körperbehinderung wieder auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Heute regelt sie, dass Unternehmen ab 20 Mitarbeitenden diese Abgabe zahlen müssen, wenn sie keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen (bzw. eine Beschäftigungsquote von fünf Prozent erfüllen). Dann müssen sie monatlich bis zu 720 Euro an den Staat bezahlen, der das Geld wiederum komplett in inklusive Maßnahmen investiert. Weil jeder vierte Betrieb in Deutschland die Ausgleichsabgabe zahlt, konnten die Integrations- und Inklusionsämter im Jahr 2020 ganze 583 Millionen Euro ausschütten.
Die Ausgleichsabgabe wird für etliche Förderungen investiert. Quelle: OMR/Michalski
Dass das so ist, führt Nils Dreyer auf Angst zurück: “Und Angst ist da, wo Unwissenheit ist.” Letztere resultiere daraus, wie wir sozialisiert sind. “Wenn du mir vor ein paar Jahren gesagt hättest, ich solle ein Bild von einem Menschen mit Behinderung malen, hätte ich dir einen Mann im Rollstuhl gezeichnet – das haben wir durch das Piktogramm so verinnerlicht”, räumt der Inklupreneur-Geschäftsführer ein, “aber wenn du dich damit beschäftigst, fällt auf, dass Behinderungen so facettenreich sind wie die Menschen selbst”. Berührungsängste entstehen durch fehlende Berührungspunkte. Nicht nur, dass Inklupreneur deshalb Unternehmen berät und unterstützt, wie sie Inklusion in ihren Häusern besser integrieren können, ihre Belegschaft lebt es selbst vor: 35 Prozent sind Menschen mit Behinderung. Auch Frank Kaulen gehört seit Kurzem dazu.
Covid wütet in der Schulter
Er kommt mit 37 Jahren Erfahrung im Personalbereich daher. “Ich hab schon immer eine Faszination dafür, mich und andere weiterzuentwickeln.” Kaulen half, NOKIA von 260 auf 900 Beschäftigte zu skalieren. Danach dozierte er für die IHK Köln, war Personalreferent in einer Versicherung und anschließend, weil er sich einen Tapetenwechsel wünschte, bei einem mittelständischen Ingenieurdienstleister. Zwei Jahre war Kaulen dort Personalmanager. Dann kam Corona. Das Virus legte nicht nur die ganze Welt lahm, er trieb auch in seinem Körper sein Unwesen. “Zwei Monate nach meiner Infektion konnte ich meine Hand nicht mehr bis zum Mund bewegen. Das Virus hat sich auf eine Entzündung in meiner Schulter gesetzt und ausgetobt”, erinnert sich Kaulen. Die weiteren Folgen der Covid-Posse haben den heute 57-Jährigen schließlich zu Inklupreneur geführt. “Ich blühe wieder auf”, sagt der begeisterte Personaler. In seiner neuen Aufgabe rekrutiert er Menschen mit Schwerbehinderung im Rheinland. Konkret: “Ich vernetze Unternehmen mit Berufsbildungswerken, Rehaträgern und Arbeitsagenturen und vermittle Inklupreneur als Gütesiegel.” In Welschbach hat er einen “super Sparringspartner”.
“Sobald der Gedanke aufkommt, es könnte wegen dieser Person anstrengender sein, entsteht die erste Hürde”
Seine Philosophie, das weiß er spätestens seitdem er selbst betroffen ist, spiegelt die des Unternehmens: “Limitierungen gehören dazu, hindern einen aber nicht daran, einen guten Job zu machen.” Es müsse aufhören, dass die Menschen auf ihr Handicap reduziert werden oder Betriebe abgeschreckt sind, dass sie mehr Vorzüge genießen. “Sobald der Gedanke aufkommt, es könnte wegen dieser Person anstrengender sein, entsteht die erste Hürde”, sagt der Routinier, “ich habe es auch anstrengender im Leben – dann möchte ich das nicht auch noch beruflich spüren”. Dass Schwerbehinderte das Recht auf fünf Urlaubstage mehr haben oder einen mutmaßlichen Kündigungsschutz genießen, würde den meisten Führungsetagen missfallen. Dass das Integrationsamt den Großteil der Kündigungen bewilligen würde, entkräfte dieses Vorurteil jedoch, so Kaulen.
Weg von der "eierlegenden Wollmichsau"
Inklupreneur schreibt sich auf die Fahne, bereits fast 140 Stellen durch seine Arbeit besetzt zu haben. Die kooperierenden Unternehmen sagten zu, weitere 708 Stellen mit der inklusiven Zielgruppe zu besetzen. Doch die Ambitionen reichen weiter, dafür müssen die Unternehmen aber auch empfänglicher werden, fordert Recruiter Welschbach: “Manche halten immer noch stur an ihrem Stellenprofil fest, dabei müssen sie kreative und innovative Strategien fahren, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Ich glaube, es liegt nicht an einer generellen Ablehnung von Menschen mit Behinderung, sondern daran, dass man lieber die Menschen einstellt, die mehr Voraussetzungen erfüllen.” Man müsse sich mit denen beschäftigen, die Potenzial haben, und sich nicht “immer die eierlegende Wollmichsau” herbeisehnen, sagt Kaulen unverblümt. Nicht selten werden Kandidat*innen mit Behinderung nicht mal zum Gespräch geladen. “Damit sind wir nicht einverstanden und da fassen wir bei den Recruiter*innen nach”, so Kaulen. Ganz grundsätzlich wünsche er sich mehr Authentizität und kein Diversity Washing: „Zwei Monate in Regenbogenfarben aufzutreten, reicht nicht.“
Inklusionsbeauftragte Deutschland für die DHL Group: Anke Podewin. Quelle: DHL Group
Bemerkenswerte Quote
Wie Inklusion funktioniert, hat die Deutsche Post DHL Group begriffen. Die Beschäftigungsquote liegt bei 7,85 Prozent, das sind über 14.000 Menschen mit einer Behinderung. Damit liegt der Konzern über dem bundesweiten Durchschnitt von 4,5 Prozent. “Aber wir sind deshalb keine Gutmenschen. Wir stellen die Kolleg*innen ein, weil wir etwas davon haben und die auch”, sagt Anke Podewin, DHL-Inklusionsbeauftragte für Deutschland. Die gelernte Juristin betont: “Das sind verdammt gute Arbeitskräfte und das wird häufig unterschätzt.”
"Bei uns gibt es keine Denkverbote"
Damit meint sie zum Beispiel eine Zustellerin, die nur einen Arm hat und für die das Unternehmen ein E-Trike hat anfertigen lassen. Ein Fahrrad mit drei Rädern und elektrischem Antrieb, das es ihr erleichtert, die Post auszuliefern. Ob spezielle Fahrzeuge, Gebärdensprachdolmetscher für Meetings, Lichtsignale für Gehörlose, Rampen, selbstöffnende Türen – der Postbetrieb versucht, mit allen individuellen Behinderungen umzugehen. “Ich weiß, dass es kaum Arbeitgeber gibt, die so durchlässig sind. Bei uns gibt es keine Denkverbote, in jeder Abteilung können wir beeinträchtigte Menschen integrieren.” Das zeigt auch ein weiteres Fallbeispiel: In einer Leipziger Filiale steht die Gurtwickelmaschine, die hilft, die langen Gurte, die die Ladung in den Flugzeugen sichert, wieder aufzuwickeln. Zuvor war das körperliche Arbeit. Das Unternehmen plant jetzt sogar, das Gerät patentieren zu lassen. “Die Kolleg*innen in Leipzig leisten tolle Arbeit, Sie haben auch ein großes Gehörlosenprojekt, das Menschen mit dieser Beeinträchtigung in den operativen Betrieb einbindet.”
Ein E-Trike begünstigt nicht nur die Menge der Post, die transportiert werden kann, mit seinen kompakten Bauweise hilft es allen Zusteller*innen bei ihrer Arbeit. Quelle: DHL Group
Enge Kooperation mit Behörden
Dafür machen sich die Personaler*innen jegliche Hilfe des Inklusionsamtes zu nutzen. Muss etwas am Arbeitsplatz geändert werden, lässt sich der Konzern durch das Amt beraten. Dann begutachtet die Behörde die Situation nicht nur, sondern schüttet teilweise auch Fördergelder aus. Auch mit der Bundesagentur für Arbeit kooperiert das Logistikunternehmen eng. “Die kümmern sich wirklich engagiert darum, arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren”, lobt Podewin. Dieser Kontakt ist wichtig, um die Zielgruppe zu erreichen. Denn Menschen mit Behinderung müssen häufig noch Barrieren überwinden, um auf Stellenanzeigen zu stoßen – ob im Internet oder in anderen Medien. “Um dort die Barriere niedriger zu halten, muss viel Power investiert werden”, weiß Podewin. Deswegen schaltet der Konzern seine Stellenanzeigen auf dafür geeigneten Portalen wie myAbility. Auch Inklupreneur hat so eine Stellenbörse.
Inspiration, was deutsche Unternehmen für Inklusion tun, ist auf dem Portal “Rehadat” zu lesen. Unter dem Reiter “Gute Praxis” teilt die Seite des Institus der deutschen Wirtschaft inklusive Praxisbeispiele. Dabei ist alles beschrieben: Die Behinderung, die Maßnahmen, die Materialien und auch die geflossenen Fördermittel durch Institutionen wie das Inklusionsamt werden benannt. 367 Beispiele sind aufgeführt, allein die DHL Group Deutsche Post trägt 44 dazu bei.
Der einhellige Tenor: Die Arbeitswelt ist weit entfernt von vorbildlicher Inklusion. Doch es gibt Vorreiter. Unternehmen, die aus authentischer Überzeugung handeln – und nicht nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. “Und wenn das der Grund ist, dann nehmen wir das trotzdem dankend an”, sagt Inklupreneur Welschbach.