Auf die Psyche der Mitarbeitenden achten: Arbeitgeber ignorieren ihre Pflicht

Es ist einer der wichtigsten Vorschriften im Arbeitsschutz – und gleichzeitig wird sie am stärksten vernachlässigt: die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung am Arbeitsplatz.

Seit 2013 ist im Arbeitsschutzgesetz verankert, dass Unternehmen eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durchführen müssen. Der Aufschrei folgte prompt: “Was, das kann man doch gar nicht messen?!” Doch, das geht – wie Arbeitspsychologin Ivon Ames weiß. Sie hat uns erklärt, wieso die meisten Arbeitgeber sie dennoch ausklammern. Geht es nach BAD-Gesundheitsmanagerin Kerstin Hillbrink, scheitert der Prozess an seiner negativen Konnotation. Und: Wie der Bericht des Arbeitsschutzes in Hamburg zeigt, wissen offenbar wenig Arbeitnehmende von ihrem Recht. 

Menschen sind unterschiedlich. Der eine ist resilient, der andere sensibel – und sowieso haben wir alle wegen ganz unterschiedlicher Lebenserfahrungen individuelle Bedenken. Das könnte erklären, warum im Jahr 2013, als das Arbeitsschutzgesetz die Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastung interpretationsfrei mit aufnahm, “keiner so Recht wusste, was er jetzt machen soll”. An diese Reaktion erinnert sich Arbeitspsychologin Ivon Ames, Vorstand der Sektion Wirtschaftspsychologie des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP). Die Unternehmen sahen keine Kriterien für eine Erhebung. Also blieb der Großteil untätig.

Einer erkrankten Gesellschaft zum Anlass 

Dem Gesetz zum Anlass ging die ab 1997 wachsende Zahl von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft voraus. “Zum Glück”, neigt Ames zu sagen, weil das 16 Jahre später zu der Einsicht geführt hat, “dass es wichtig wäre, zu schauen, woran das liegt.” Zwar mussten Unternehmen schon vor 2013 jeglichen Schutz vor Gefährdungen sicherstellen, doch der überwiegenden Ignoranz der psychischen Komponente gegenüber hatte zur Folge, dass diese explizit in den Gesetzestext aufgenommen wurde. Ein Mittel, um jeglichem Interpretationsspielraum zuvorzukommen. Bis zu dem Zeitpunkt schien es in Betrieben eher üblich, zu behaupten, die Mitarbeitenden seien durch ihr Privatleben gestresst. Sie distanzierten sich von der Verantwortung. Dem kann Ames nur entgegnen:

“Überleg mal, wie viel Zeit dein Mitarbeiter im Job verbringt. 40, vielleicht 50 Stunden die Woche. Du kannst nicht kontrollieren, was drumherum passiert. Aber du kannst gestalten, welche Belastung auf der Arbeit dazu kommt.”

Das Arrangement einer solchen Beratung übernimmt beispielsweise der Berufsgenossenschaftliche Arbeitsmedizinische und Sicherheitstechnische Dienst (BAD). Kerstin Hilbrink arbeitet dort seit zehn Jahren als Gesundheitsmanagerin. Die Diplompsychologin weiß: “Unternehmen müssen den Zusammenhang zwischen Psyche und Arbeit erkennen.”

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Erst jüngst veröffentlichte die KKH Kaufmännische Krankenkasse Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2023. Mit bemerkenswerten Ergebnissen: Die Ausfallzeiten wegen psychischer Probleme sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 85 Prozent gestiegen. Die knapp 45 Milliarden Euro, die psychische Erkrankungen jährlich kosten, dürften ein weiteres triftiges Argument für ein notwendiges Handeln der Verantwortlichen sein. Nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen höhere Krankheitskosten – und sind ebenfalls in Teilen ein Produkt von Stress, gibt Ames zu bedenken. Überstunden, ständige Unterbrechungen, hohe Intensität, Konflikte und Zeitdruck können die Gesundheit gefährden. “Sobald unser Hormonhaushalt eine chronische Dysbalance erlebt, führt das zu Erkrankungen.” Das lässt den Gedanken reifen, dass der Schlaganfall, den der Vertriebler auf der Autobahn erleidet, ein Resultat verstopfter Arterien ist, die durch chronischen Stress begünstigt werden. “Psychische Erkrankungen verursachen erhebliche Kosten. Meistens fallen Betroffene dreimal länger aus als bei anderen Erkrankungen”, ergänzt Hillbrink.

Wenig Veränderung wegen vieler Kuriositäten

Im Jahr 2023, wieder zehn Jahre später, stellt der BDP fest: nur geschätzt 20 Prozent der Unternehmen prüfen eine psychische Gefährdung ihrer Mitarbeitenden. Eine IFBG-Studie ermittelte zwar verheißungsvollere Werte, doch auch dieses Ergebnis offenbart Luft nach oben: Nur 51,5 Prozent der befragten 1.098 Unternehmen führen eine Gefährdungsbeurteilung durch.  Vielmehr noch: Seit 2020 hat sich dieser Anteil kaum verändert, denn dort waren es 50,3 Prozent der knapp 1.200 teilnehmenden Organisationen. Das ist die Folge mehrerer Kuriositäten. “Auch heute wissen leider immer noch viele Unternehmen nicht, dass sie das machen müssen”, sagt Ames. Eine im Gesetz niedergeschriebene, unbekannte Pflicht? 

Hillbrink führt das auf einen Trugschluss der Arbeitgeber zurück: “Manche denken, sie müssten ihre Mitarbeitenden dann fragen, wie sie sich psychisch fühlen – und sagen sich ‘das kann ich doch nicht machen’, während die Beschäftigten denken, sie werden begutachtet”. Das führe folglich zu falscher Scheu. Zudem sei die Bezeichnung missverständlich gewählt, meint die Expertin: “Im Arbeitsschutz ist der Begriff Belastung neutral gemeint. Psychische Belastungen sind alle Einflüsse, die auf mich einwirken. Das kann auch Positives sein, das kann bereichern. Trotzdem ist das Wort umgangssprachlich sehr negativ besetzt.” Dabei gehe es doch gar nicht darum, alle Belastungen abzuschaffen, will Hillbrink betonen: “Es geht darum, die Bedingungen so zu gestalten, dass man psychisch gesund bleiben kann.” Denn Arbeit gehe immer auch mit Belastung einher.  Ames bemängelt, dass die, die von der psychischen Komponente der Beurteilung wissen, bewusst untätig blieben. “Unternehmen konnten sich nach der Gesetzgebung noch eine Weile ausruhen, weil es noch keinen rechten Konsens gab, welche Arbeitsbedingungen evaluiert werden sollen. Seit 2017 gibt es die Empfehlung, welche Bedingungen gemessen werden sollen”, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fernuniversität Hagen. Damit gemeint sind die Merkmalsbereiche, die von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzsstrategie (GDA) definiert wurden. Dieser Fakt wird durch Hillbrinks Erfahrung gestützt. Noch heute hegen insbesondere die Geschäftsführenden ein falsches Verhältnis zu diesem Terrain:  “Bei dem Wort Psyche sind einige Geschäftsführende schon raus, weil sie Sorge haben, dass sie die Büchse der Pandora öffnen, die sie nicht händeln können.” 

Geschäftsführungen wollen vertuschen

Das Larifari hängt auch und vor allem mit fehlender Kontrolle zusammen. Sollte es dennoch zu einer kommen, wird Nichteinhaltung als Ordnungswidrigkeit geahndet. Ein Bußgeld von 5.000 bis 30.000 Euro kann verhängt werden. Verantwortlich dafür sind das Landesamt für Arbeitsschutz oder die Gewerbeaufsicht. 

“Es haben Geschäftsführer bei uns angefragt, wie man das möglichst schmerzfrei umsetzen kann – und bitte ohne was zu finden.” 

“Aber wo kein Kläger, da kein Richter”, beklagt Ames die fehlende Intervention der Behörden. Auch wenn folgendes zu beachten ist, wie Hilbrink anmerkt: “Behördliche Kontrolle kann das nicht leisten und ist überfordert.” Doch wie Unternehmen selbst nach amtlicher Intervention mit dem Problem umgehen, mutet charakteristisch an: “Es haben Geschäftsführer bei uns angefragt, wie man das möglichst schmerzfrei umsetzen kann – und bitte ohne was zu finden.”  Die Zahlen der Arbeitsschutzbehörde in Hamburg aus dem Jahr 2022 untermauern das Sprichwort der Juristerei: Bei knapp 52.000 Unternehmen hat sie in 517 Betrieben eigeninitiativ eine Inspektion durchgeführt, in 117 Fällen gab es für die Inspektion einen Anlass. Daraus entstanden wiederum 109 Anordnungen, in denen die Kontrolle psychischer Belastungen bemängelt wurde. Zwölf Betriebe wurden daraufhin abgestraft. Besonders interessant: Auch Arbeitnehmende haben natürlich das Recht, eine PGB einzufordern. Das geht beispielsweise über ein Dokument der jeweiligen Behörde (Beispiel Hamburg). In der Hansestadt kamen auf über eine Million Arbeitnehmende lediglich sechs Mängelmeldungen. Trotzdem bleibt festzuhalten: Der Arbeitsschutz berät auf Nachfrage und bietet online den unterstützenden Psych-Kompass an.  Die geringe Anzahl gemeldeter Fälle dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass das Individuum seinem Arbeitgeber nicht schaden will. Es liegt aber auch an unserem Umgang mit der eigenen Gefühlswelt. “Unter hohen Belastungen zu arbeiten, ist immer noch etwas, worauf man stolz ist”, bedauert Hillbrink, “aber wenn jemand Depressionen bekommt, wird das als persönliche Schwäche ausgelegt – und das vermittelt einem das Gefühl, man hätte nicht geschafft, etwas auszuhalten”.

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Arbeitspsychologin Ivon Ames (links, BDP) und Gesundheitsmanagerin Kerstin Hillbrink (BAD) sind Expertinnen auf dem Gebiet. Sie sind sich einig: In Unternehmen kommt die Ermittlung der Gefahren psychischer Belastungen zu kurz. Foto: Ames/BAD/OMR-Montage Miersch

Die Frage will erlaubt sein: Warum wird hierzulande nicht mit Nachdruck gehandelt, wenn es um die psychische Gesundheit von Menschen geht? Unsere europäischen Nachbarn Niederlande, Schweden und Frankreich haben Burnout als Berufskrankheit anerkannt. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht das so. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz gilt das nicht. Zumindest die Eidgenossen müssen das nun prüfen, denn eine Beamtin verklagte den Staat wegen beruflich erlittener Gesundheitsschäden – und gewann. Am Beispiel Frankreich, das das Versäumnis einer umfassenden BG streng belangt, wird der anders gewichtete Stellenwert klar: Der Arbeitgeber haftet komplett, wenn ein Mitarbeitender aufgrund von psychischer Belastung arbeitsunfähig ist. Ist das länger als drei Monate der Fall und der Arbeitgeber hätte das per Gefährdungsbeurteilung sehen können, sind drei Jahre Freiheitsstrafe oder 45.000 Euro Geldstrafe die Folge. In den Niederlanden sind es sogar 76.000 Euro. 

Im europäischen Vergleich ist die Bundesrepublik im Umgang mit psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz unterdurchschnittlich. Nur Osteuropa hinkt noch mehr hinterher. Vorne liegen skandinavische Länder und an der Spitze Großbritannien. Das ermittelte die EU-OSHA.

Forderung nach Betriebspsycholog*innen

Laut Ames sind die ungeklärten Zuständigkeiten im Betrieb ein weiterer Faktor. Unternehmen sind zu eine/r Betriebsmediziner*in und zu einer Fachkraft für Arbeitssicherheit verpflichtet. “Die machen einen tollen Job”, lobt Ames, “doch die psychischen Belastungsfaktoren standen hier nicht im Fokus”. Offen herumliegende Kabel, Licht, Lärm, Temperaturen und sogar toxische Luftkonzentration werden mancherorts kontrolliert. “So ist es nur verständlich, dass sich hier und da gewisse Unsicherheiten in der Erfassung der Beurteilung zeigen.” Daher sei die zusätzliche Unterstützung durch Arbeitspsycholog*innen unerlässlich. Hilbrink sieht die Probleme nicht bei den operativen Instanzen, sondern bei den Verantwortlichen. Das geht aus ihren Erlebnissen in den Zusammenkünften des Arbeitsschutzausschusses (ASA) hervor, die jedes Unternehmen einmal im Quartal durchführen muss: “Betriebsärzt*innen und Fachkräfte sprechen das häufig an. Ich glaube nicht, dass die Ärzt*innen da Hemmungen haben, verantwortlich ist der Unternehmer. Wenn das zehnmal im Protokoll steht, aber der Geschäftsführende das nicht initiiert, dann passiert nichts.” 

“Es gibt viele Bedingungen, die wir verändern können”

Um das einmal zu sortieren: Erst war nicht klar, welche Belastungsfaktoren gemessen werden sollen, deshalb wiesen einige Arbeitgeber die Verantwortung von sich. Zudem fehlte das Wissen um die Pflicht trotz eindeutiger Gesetzeslage, die Zuständigkeit im Unternehmen war und ist teilweise unklar oder die, die Verantwortung tragen, stehlen sich aufgrund falscher Bedenken davon. Dazu kommt: Eine behördliche Instanz kann keine flächendeckende Kontrolle gewährleisten. Was tun? “Es gibt viele Bedingungen, die wir verändern können, um zu vermeiden, dass zu den nicht veränderbaren Umständen auch noch veränderbare Dinge hinzukommen. Wir können dafür sorgen, dass es eine Rollenklarheit gibt, dass Informationen schnell auffindbar sind und nicht zu viel werden und dass es keine Konflikte unter den Kolleginnen und Kollegen gibt”, sagt Ames. 

Stressoren und Ressourcen

Wie das konkret geht, kann Ames gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Jan Dettmers erklären. Das Duo hat das Unternehmen EVAO gegründet, Kurzform für “Evidenzbasierte Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung”. Sie arbeiten mit dem Auftraggeber Stressoren (Arbeitsbedingungsfaktoren) und Ressourcen (Unterstützungsfaktoren) aus. 

Die durch die Pandemie veränderten Arbeitsbedingungen hinterlassen Spuren im Arbeitsalltag: “Das soziale Bonding ist in hybriden Teams viel schwieriger hinzubekommen.” Genau da müssten Unternehmen intervenieren, rät Ames, und sich Maßnahmen überlegen, die das gute Verhältnis im Team und den Bezug zum Unternehmen sichern.

Deshalb fixiert das EVAO-Duo gemeinsam mit ihrem Team aus erfahrenen Arbeitspsycholog*innen die Realität im Unternehmen und hält Optimierungspotenziale und Stärken fest. Sie geben Fragebögen rein, werten diese aus und ermitteln damit Unklarheiten bezüglich der Rollen, der Strukturen, des Handlungsspielraums und leiten daraus veränderbare Bedingungen ab, bei deren Umsetzung sie unterstützen. BAD-Gesundheitsmanagerin Hillbrink setzt häufig eine moderierte Analyse um, das kommt auf die Größe der Organisation an. Umso mehr Interessen, desto geeigneter der Fragebogen.

Verantwortlich ist nicht nur der Job

Bei kleineren Gruppen geht sie wie folgt vor: “Wir stellen Fragen zu Bereichen, die analysiert werden müssen, und die Gruppe muss sich über die Belastung austauschen und auf eine Antwort einigen.” Die Probleme werden fixiert und in der Folge Lösungsvorschläge und Maßnahmen diskutiert. Dieser Runde sitzen Mitarbeitervertretungen, Ärzt*innen, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit und die Geschäftsführung bei. Letztere meistens erst bei dem Entwickeln der Maßnahmen.

Schließlich sei eine psychische Erkrankung aber nicht monokausal. “Es stimmt einfach nicht, dass nur der Arbeitsplatz krank macht. Aber wenn Führungskräfte sich aus der Verantwortung ziehen, ist das genauso falsch”, resümiert Hillbrink. Unwissenheit schützt vor Pflichten nicht. Wer die Menschen befragt, bekommt Antworten. Man muss sie nur auch hören wollen.

Marvin Behrens
Autor*In
Marvin Behrens

Marvin ist Redakteur bei OMR Jobs & HR. Zuerst studierte er erfolgreich Journalistik, dann wagte er einen Blick ins gymnasiale Lehramt. Seinem Abschluss in Sportwissenschaften und Germanistik zum Trotz folgte er weiterhin seiner journalistischen Leidenschaft.

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