„Fall Guys“: Wie eine kleine Indie-Gaming-Firma mit cleverem Marketing einen Hit landete

Warum in der Gaming-Branche gerade alle über dieses Spiel reden

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Ein Spiel, das am Tag der Markteinführung 1,5 Millionen Mal heruntergeladen wird, zum Top-Seller auf dem Gaming-Marktplatz Steam avanciert, Server-Probleme wegen des enormen Andrangs verzeichnet sowie mehr als 500.000 gleichzeitige Zuschauer auf der Streaming-Plattform Twitch zieht (und damit jeweils mehr als die Mega-Games Fortnite und League of Legends) – dahinter würde man eigentlich einen großen, finanzkräftigen Gaming-Konzern vermuten. Doch die Zahlen stammen vom britischen Indie-Studio Mediatonic und dessen Spiel „Fall Guys: Ultimate Knockout“. OMR erklärt das Phänomen und seine Erfolgsfaktoren.

„Ich hab das Spiel noch gar nicht gespielt, keine Ahnung…“, sagt Marcel Eris zu seinen Zuschauern. Eris ist unter dem Namen Montana Black als Deutschlands größter Livestreamer bekannt; auf der Streaming-Plattform Twitch folgen ihm 2,8 Millionen Nutzer. Am Dienstag spielt „Monte“, wie ihn seine Fans nennen, in seinem Livestream auf Twitch zum ersten Mal das an diesem Tag erschienene Spiel „Fall Guys“: „Zocken wir einfach eine Runde.“

530.000 gleichzeitige Zuschauer in der Spitze

Dass ein Streamer der Größe Montana Blacks ein ihm unbekanntes Spiel eines kleinen Indie-Studios am Veröffentlichungstag spielt, ist in der Gaming-Szene nicht unbedingt die Regel. Noch beachtlicher: Eris war nicht der einzige Top-Streamer, der „Fall Guys“ am Veröffentlichungstag live auf Twitch spielte. Mit Ali Kabbani alias „Myth“ (6,69 Millionen Follower auf Twitch), Rubén Doblas alias „Rubius“ (5,57 Millionen Follower) und Imane Anys alias „Pokimane“ (5,37 Millionen Follower) taten es ihm drei Top-10-Streamer gleich.

Es besteht durchaus eine mehr als realistische Wahrscheinlichkeit, dass alle vier nicht von Mediatonic für ihre Streams bezahlt worden sind. Vielmehr haben sie womöglich aus Eigeninteresse gehandelt. Denn am Dienstag war „Falls Guys“ auf Twitch zeitweise das Spiel, das von allen Besuchern der Plattform am häufigsten angeschaut wurde. Mehrere Screenshots auf Twitter, u.a. von „Devolver Digital“, dem Vertrieb von „Fall Guys“, sowie übereinstimmende Medienberichte belegen, dass Mediatonics neuestes Spiel am Veröffentlichungstag auf Twitch vor allen anderen Gaming-Blockbustern rangierte. In der Spitze sollen 530.000 Menschen gleichzeitig „Fall Guys“-Streams geschaut haben.

Warum „Fall Guys“ eine Marketing-Sensation ist

17,5 Millionen Nutzer besuchen Twitch nach Unternehmensangaben täglich. Der allergrößte Teil von ihnen dürfte über die Startseite auf die Plattform gelangen. Anders als bei algorithmisch personalisierten Plattformen wie Youtube oder Facebook, ist ein großer Teil von Twitch-Startseite für alle Nutzer gleich. Eine Platzierung dort bedeutet also eine enorme Sichtbarkeit und ist extrem begehrt. Wenn Top-Streamer sehen, dass dort ein neues Spiel viel Aufmerksamkeit bekommt, dürfte ihre Motivation entsprechend hoch sein, dieses ebenfalls auszutesten, einen Teil dieser Aufmerksamkeit für sich abzuzwacken und damit möglicherweise neue Zuschauer und Abonnenten zu gewinnen. Dies könnte auch der Grund dafür gewesen sein, dass mehrere Top-10-Streamer „Fall Guys“ getestet haben.

Dass es Mediatonic gelungen ist, mit „Fall Guys“ auf die Startseite von Twitch zu gelangen, ist eine kleine Sensation. Denn normalerweise ist Twitchs Homepage belegt mit Streams erfolgreicher, etablierter Spiele. Unter dem Punkt „Kategorien“ (in der englischsprachigen Version „Browse“) werden dort, nach absteigender Zuschauerzahl sortiert, Spiele aufgeführt, von denen gerade in diesem Moment auf Twitch am häufigsten Übertragungen angesehen werden – und das sind nun einmal in der Regel Blockbuster wie Fortnite, League of Legends, Call of Duty, Minecraft oder GTA. Mit einem neuen Spiel zu dessen Markteinführung in diese Riege vorzudringen, gelingt normalerweise nur den Schwergewichten der Branche mit entsprechenden Marketingbudgets.

Alles fängt mit dem Produkt an

Wie also ist Mediatonic dieser Coup gelungen, einem Unternehmen, dass mit 265 Mitarbeitern im Vergleich zu Branchenschwergewichten wie Activision Blizzard und Electronic Arts, die beide mehr als 9.000 Menschen beschäftigen, ein kleiner Fisch ist?

Zum einen natürlich mit einem guten Produkt: Fall Guys“ (bislang für Windows PCs und Sony Playstation verfügbar) ist ein originelle Version eines „Battle Royale“-Multi-Player-Games, die in der Gaming-Szene offenbar überaus gut ankommt. Battle Royale bedeutet: Eine große Gruppe von Spielern spielt gegeneinander, jeder gegen jeden, wer am Schluss noch „steht“, hat gewonnen. Das Genre ist innerhalb der vergangenen zwei Jahre durch die Erfolge von „Player Unknown Battlegrounds“ (PUBG) und Fortnite in der Gaming-Branche zum Phänomen geworden; jedes Gaming-Studio bemühte sich plötzlich, Battle-Royale-Spiele zu entwickeln oder erweiterte etablierte Spiele um einen solchen Modus.

„Takeshi’s Castle“ für das Digitalzeitalter

Mediatonic hat das Battle-Royal-Konzept nun ein wenig weitergedreht. Zum einen ist „Fall Guys“ noch einmal humorvoller und bunter als die bisherigen Genre-Vertreter. Zum anderen ist es kein klassischer „Shooter“, bei dem sich die Spieler gegenseitig mit Waffen aus dem Weg räumen. 60 Spieler treten am Anfang gegeneinander an. Ihre Avatare, die wie eine Mischung aus Minions und Geleebohnen („Jelly Beans“) aussehen, bewegen sich durch eine bonbonfarbene Welt, stolpern dabei tolpatschig immer wieder übereinander, um sogleich wieder aufzustehen.

„Fall Guys“-Spieler müssen in mehreren Runden so genannte Minispiele bewältigen und sich dabei für ein Finale qualifizieren, an dessen Ende dann der einzige Gewinner steht. Die Minispiele sind in der Regel eine Art Hindernisparcours, bei denen die Spieler beispielsweise von sich bewegenden Elementen von Plattformen bugsiert werden können. Mediatonic sei bei der Entwicklung des Spiels von Fernsehsendungen wie „Takeshi’s Castle“ und „Total Wipeout“ inspiriert gewesen, wie die Designer des Spiels mehrfach in Interviews zu Protokoll gegeben haben. Auch in diesen Shows mussten die Teilnehmer in der Regel mehrere teils aberwitzige Parcours und absurde Aufgaben bewältigen.

Der Trick mit den „Beta Keys“

Trotz originellem Konzept und gelungener Umsetzung bleibt die Frage: Wie ist es Mediatonic gelungen, eine solche Aufmerksamkeit für „Fall Guys“ zu generieren? Schließlich sollen im vergangenen Jahr alleine über die Gaming-Plattform Steam über 8.000 Videospiele auf den Markt gebracht worden sein. Aus dieser Flut herauszustechen dürfte für kleine, weniger finanzkräftige Firmen immer wieder eine Herausforderung sein.

Mediatonic ist in dieser Situation einen (wie sich im Nachhinein zeigt) äußerst cleveren Schritt gegangen: Das Unternehmer hat noch in der geschlossenen Test-Phase des Spiels bereits Streamer zu Multiplikatoren gemacht, indem es sie mit einer größeren Anzahl von „Beta Keys“ versorgt hat. Mit diesen zwölfstelligen Codes konnten die Streamer nicht nur das Spiel selbst herunterladen und installieren – sie konnten auch weitere Keys an ihre Zuschauer verteilen, damit diese das Spiel, das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht offiziell veröffentlicht war, ebenfalls ausprobieren konnten.

„Loot“-Verteilung via „Twitch Drops“

Die Zusammenarbeit mit Twitch-Streamern und Youtubern gehört in der Gaming-Branche im Marketing mittlerweile zum Standard-Handwerk. Dass die Streamer ihren Zuschauern aber auch den Zugriff auf das Spiel selbst ermöglichen können, ist jedoch vergleichsweise neu. Erstmals in einem größeren Maße hat diese Strategie Riot Games  in diesem Frühjahr im Vorfeld der Veröffentlichung des Spiels „Valorant“ eingesetzt. Riot Games gehört zum chinesischen Digitalkonzern Tencent, beschäftigt 2.500 Mitarbeiter und ist vor allem für den Superhit „League of Legends“ bekannt.

Die Marketingkampagne für Valorant setzte auf das System der Twitch Drops auf. Diese Mechanik hat die Streaming-Plattform schon im Jahr 2017 eingeführt. Sie ermöglicht es den Gaming-Firmen, über Twitch unter den Streamern und deren Zuschauern „Loot“ zu verteilen, also begehrte In-Game-Artikel. Die Teilnehmer müssen dafür ihr Nutzerkonto bei der jeweiligen Gaming-Firma mit ihrem Twitch-Konto verknüpfen und dann das entsprechende Spiel im Stream spielen bzw. eine Übertragung anschauen. Seit 2018 werden Streams, bei denen die Zuschauer „Drops“ abgreifen können, auf Twitch gesondert markiert und sind dadurch noch einmal aufmerksamkeitsstärker und für beide Seiten attraktiver.

1,7 Millionen gleichzeitige Zuschauer für Valorant

Riot Games hat statt In-Game-Artikel nun Beta-Keys mittels Twitch Drops unter die Streamer und ihre Zuschauer gebracht. Durch Einlösen dieser Keys konnten diese dann das von der gesamten Branche mit Spannung erwartete Spiel bereits mehrere Wochen vor dessen offizieller Veröffentlichung spielen (hier eine ausführliche Analyse der Strategie). Um sich für einen solchen Drop zu qualifizieren, mussten Nutzer mindestens zwei Stunden Valorant-Streams auf Twitch geschaut haben.

Einige der namhaftesten Twitch-Streamer spielten Valorant an der Pre-Launch-Kampagne – vermutlich auch, weil sie damit ihre Abonnentenzahlen deutlich steigern konnten. Riot Games konnte auf diese Weise im Vorfeld eine enorme Aufmerksamkeit generieren. Am ersten Tag der „Closed Beta“-Phase verzeichnete das Spiel kurzzeitig sogar 1,7 Millionen gleichzeitige Zuschauer auf Twitch.

Geister-Streams und -Zuschauer, um Beta-Keys zu farmen

Gleichzeitig führte die Strategie zu mehr oder weniger unerwünschten Nebeneffekten und schuf ein System von simulierter Aufmerksamkeit. Key-begierige Nutzer ließen über Nacht Streams auf dem Rechner laufen, bei denen sie gar nicht zuschauten, und Streamer spielten auf Twitch vorab aufgenommene Videos ab. Beides zielte darauf ab, Beta-Keys zu „farmen“. Twitch sah sich daraufhin gezwungen, die eigenen Richtlinien anzupassen und verbot die Verknüpfung von Twitch Drops mit vermeintlichen „Livestreams“, die vorher aufgenommen worden waren.

Unabhängig davon wurde die Markteinführung von Valorant ein enormer Erfolg. Schätzungen des Marktforschers Superdata zufolge soll das Spiel von allen Free-to-Play-Games (der Download des Spiels ist kostenlos; die Spieler zahlen für Artikel oder Funktionen) beim Launch den bislang höchsten Umsatz und die meisten Downloads generiert haben. Doch daran, dass dieser Erfolg nachhaltig sein wird, regen sich aktuell erste Zweifel. So sind die Valorant-Streaming-Zahlen bei Twitch zuletzt erkennbar abgeflacht.

Community Building von Beginn an

Mediatonic setzte für „Fall Guys“ nicht auf Twitch Drops, sondern baute einfach ein eigenes System auf, wie auch auf dem Branchenportal Kotaku in einer lesenswerten Analyse der Launch-Kampagne nachzulesen ist. Das Mediatonic Marketing-Team habe für die Beta-Test-Phase des Spiels zum einen selbst Streamer angesprochen; zum anderen konnten sich interessierte Streamer auch per Formular um eine Teilnahme bewerben.

Die Teilnehmer an der Beta-Phase konnten das Spiel als erste testen, mussten zuvor aber eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben. Die Tests hätten nicht nur wertvolle Erkenntnisse über potenzielle Verbesserungen des Spiels geliefert, sondern es sei daraus auch eine sehr engagierte Community entstanden, so „Fall Guys“ Lead Designer Joe Walsh und Kreativchef Jeff Tanton in einem Interview. Der offizielle „Fall Guys“-Server in der Chat-App Discord etwa verzeichnet mittlerweile fast 90.000 Mitglieder, das „Fall Guys“-Subreddit (Unterforum) in der Social Community Reddit hat 25.000 Mitglieder.

200.000 gleichzeitige Zuschauer für ein unveröffentlichtes Indie-Game

Am 24. Juli hob Mediatonic dann die Verschwiegenheitsklausel für die Teilnehmer der Beta-Phase auf, um mit voller Kraft ins Marketing einzusteigen. An zwei Wochenenden hintereinander war es den Streamern nun erlaubt, „Fall Guys“ öffentlich auf Twitch und Youtube zu spielen und, von Mediatonic mit Keys versorgt, ihren Zuschauern nach Gutdünken Zugang zum geschlossenen Beta-Test und damit zum Spiel selbst zu geben. Der Umstand, dass die Tests jeweils zeitlich begrenzt waren, erhöhte die Begehrlichkeit der Codes.

Bald übertrugen Streamer mit Millionenreichweiten wie Saqib Zahid („Lirik“), Félix Lengyel („xQc“), Matthew Rinaudo („Mizkif“) und Chance Morris („Sodapoppin“) Fall Guys live auf Twitch. Schon am ersten der beiden Wochenenden verzeichnete das Spiel daraufhin mehr als 200.000 gleichzeitige Zuschauer. Kurzfristig war Fall Guys sogar das meist geschaute Spiel auf der Plattform – obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht war.

175.000 neue Twitter-Follower in fünf Tagen

Beim zweiten Playtest-Wochenende hatte die Begehrlichkeit von Fall Guys Beta Codes derart zugenommen, dass der offizielle Twitter-Account des Spiels Streamer dazu ermahnen musste, an die Herausgabe eines Beta Keys nicht die Bedingung zu knüpfen, dass der jeweilige Empfänger ein (kostenpflichtiges) Abonnement ihres Twitch-Kanals abschließt. Immer wieder hatte Mediatonic zudem mit Technik-Problemen zu kämpfen, weil der Server dem Ansturm nicht gewachsen war.

Der Twitter-Account diente während der Pre-Launch-Kampagne als zentraler Kommunikationskanal, der nicht nur die Community humorvoll und originell bei Laune hielt, sondern auch immer wieder selbst Keys verteilte. Innerhalb von weniger als einer Woche hat der Account so rund 175.000 Follower gewonnen und steht aktuell bei 256.000 Abonnenten.

Top-Seller auf Steam seit dem Launch-Tag

Mediatonic gelang es auf diese Weise, schon vor der offiziellen Veröffentlichung von Fall Guys enormen Marketingdruck und Aufmerksamkeit aufzubauen. Schon vor dem Veröffentlichungstag kletterte das Spiel die Bestseller-Liste auf dem Gaming-Marktplatz Steam hinauf; seit dem Veröffentlichungstag thront es dort auf dem ersten Platz.

Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass Fall Guys für die Teilnehmer an Sonys Gaming-Abo Playstation Plus kostenlos verfügbar ist. Das soll mittlerweile ganze 45 Millionen Abonnenten verzeichnen. Eine enorme Reichweite, die dem Erfolg der Launch-Kampagne sicher nicht abträglich war.

„Bereits ein Hit, als es rauskam“

Mediatonics Marketingstrategie für Fall Guys erinnert zum einen an die künstliche Verknappung (im geschlossenen Beta-Test), wie sie von Drops im Streetwear-Bereich bekannt ist. Zum anderen sind zuletzt ähnliche Methoden im Musikmarketing aufgekommen. Die Label und Manager hinter erfolgreichen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern wie Loredana teasern neue Songs vorab so geschickt über Social Media an, dass sie, wenn sie offiziell veröffentlicht werden, bereits ein Hit sind.

19 Millionen Stunden Fall-Guys-Streams sollen laut dem Statistik-Took Sullygnome bislang auf Twitch über den virtuellen Äther gegangen sein. Nun muss Mediatonic zeigen, dass sie diese Aufmerksamkeit langfristig halten können. Auf Twitter kündigte das Fall-Guys-Team bereits neue Level, Kostüme und Features für das Spiel an.

Danke an Fatih Öztürk für die Inspiration zum Artikel!

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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