Was macht Pendeln mit der Psyche?

Eine südkoreanische Studie legt nahe, dass Pendeln die psychische Gesundheit negativ beeinflusst. Warum die Ergebnisse nur bedingt auf Deutschland übertragbar sind.

Artikel: Was macht Pendeln mit der Psyche? Pendler*innen warten auf die Bahn
Wie gefährdet sind Pendler*innen für Depressionen? Foto: Eddi Aguirre

Eine südkoreanische Studie hat einen Zusammenhang zwischen Berufspendeln und Depressionen festgestellt. Lassen sich diese Ergebnisse auch auf deutsche Arbeitnehmende übertragen? Diese Frage klären wir mit Arbeits- und Organisationspsychologin Dr. Verena Eichel. Ein Diskurs über die “richtigen” Verkehrsmittel, den Wandel der Arbeitswelt und die Wissenschaft.

Der x-te Schulterblick beim Spurwechsel dehnt nicht nur den Kapuzenmuskel, er zerrt auch an den Nerven. Und wer das Blechlawinen-Gedränge meiden will, dem verlangt die Bahn häufig jede Menge Gelassenheit ab. Das Pendeln kann gerade zu Stoßzeiten eine Tortur sein. Für manche ist das Alltag. Trotz des neuen Arbeitsethos, der Corona-Pandemie sei Dank, sind gerade in der kritischen Infrastruktur (Pflege, Einkauf, Verkehr) viele Menschen täglich auf dem Weg zur Arbeit. Was macht das mit der Psyche?

Koreanische Beschäftigte gefährdet

“Unsere Analyse ergab einen klaren linearen Zusammenhang zwischen der Pendelzeit und depressiven Symptomen”, schreiben vier koreanische Wissenschaftler*innen in ihrer Studie. Die mehr als 23.000 Teilnehmenden (20 bis 59 Jahre alt) pendelten im Schnitt 47 Minuten zur Arbeit. Die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Symptomatik ist bei Beschäftigten, die eine Stunde oder mehr pendeln müssen, 16 Prozent höher als bei denen, die weniger als 30 Minuten zur Arbeit brauchen.

Es gibt aber auch soziodemografische Unterschiede: Bei unverheirateten und kinderlosen Männern, die mehr als die gesetzlich vorgeschriebene Arbeitszeit von 52 Stunden pro Woche arbeiten, war die Korrelation am stärksten. Bei Frauen, die wenig verdienen, Kinder haben oder Schicht arbeiten müssen, waren lange Pendelzeiten sogar stark mit depressiven Symptomen verbunden.

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Arbeits- und Organisationspsychologin Dr. Verena Eichel mahnt, die Ergebnisse leichtsinnig auf andere Arbeitskulturen zu übertragen. Quelle: privat

Vorsicht vor falscher Interpretation

Die Forscher*innen führen das auf weniger Zeit für den Stressabbau zurück. Ob Schlaf, Hobbys oder Freizeitaktivitäten – alles kommt dann noch kürzer. “Über 25 Prozent klagen in dieser Studie über depressive Symptome, bei enorm hohen, langen Arbeits- und Pendelzeiten – das sind wirklich gravierende Auswirkungen”, kommentiert Arbeits- und Organisationspsychologin Dr. Verena Eichel von der FernUniversität Hagen.

Doch das sei kein Grund, diese Ergebnisse jetzt global geltend zu machen, so wie es die Medien aktuell tun: “Da muss man vorsichtig sein, weil die Ergebnisse nicht pauschal auf unseren Arbeitskulturkreis übertragen werden können.” Anders als in Südkorea ist das Arbeiten in Deutschland bis zur Erschöpfung nicht die Norm. Die Philosophie “Wenn alle länger arbeiten, bleibe ich natürlich auch” ist hier nicht so gängig und auch die Hierarchien im asiatischen Arbeitsumfeld sind deutlich stärker ausgeprägt. “Extreme kulturelle Unterschiede” schaffen einen ganz anderen Kontext. Dennoch lässt sich auch hierzulande über eine vermeintliche Verbindung zwischen Pendeln und Depressionen diskutieren. Trotz dürftiger Studienlange, wie die Expertin anmerkt.

"Frauen leiden häufiger unter Pendelzeiten."

Denn es gab bereits wissenschaftliche Ansätze, die auch die südkoreanischen Forscher*innen aufgreifen: Eine britische Studie (5.216 Teilnehmende) hat festgestellt, dass Pendeln die Psyche bei Frauen negativ beeinflusst. In Australien (16.805) wurde das ebenfalls festgestellt – dieses Mal galt das Ergebnis für alle Geschlechter. In Schweden hat eine Längsschnittstudie ergeben, dass pendelnde Frauen eine 54 Prozent höhere Sterblichkeitsrate aufweisen als die, die nur kurze Strecken bewältigen. Auch aus dieser Perspektive gibt es erneut Hinweise auf die Gender Gap. “Frauen leiden häufiger unter den Pendelzeiten, weil sie die Doppelbelastung mehr spüren. Haushalt, Kinderbetreuung – das alles liegt dann doch eher in der Hand der Frau.” 

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Umso mehr Zeit fürs Pendeln investiert werden muss, desto eher wirkt sich das negativ auf die Lebensqualität aus. Quelle: dimap 2018; Grafik: OMR/Michalski

Pendeln macht Deutsche häufiger krank

Ergebnisse des Universitätsklinikums Düsseldorf und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zahlen auf bisherige Resultate ein: “In der Momentaufnahme konnte tatsächlich festgestellt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen Pendeln und depressiver Symptomatik gibt”, sagt die Expertin. Mussten Beschäftigte zehn oder mehr Stunden die Woche zur Arbeit fahren, wirkte sich das negativ auf die Psyche aus. Doch vor allem korrelierten diese Anzeichen mit längeren Arbeitszeiten. Die Forscher*innen konnten fünf Jahre später aber keine Kausalität feststellen. Dass sie den Zusammenhang nicht früher prüften, räumten sie selbstkritisch als Schwäche ein. 

Im Report “Mobilität in der Arbeitswelt” der Techniker Krankenkasse heißt es, dass Pendler*innen anfälliger für psychische Leiden sind. Männer, die den Weg zur Arbeit antreten, haben elf Prozent mehr Fehltage wegen Depressionen. Bei Frauen sind es sogar 15 Prozent. Die Institution geht davon aus, dass sich das bedingt und diese Gruppe häufig in Berufen arbeitet, die wenig psychisch belasten – was den Effekt begünstigt. Schon im Jahr 2018 hat die AOK ähnliches festgestellt: Mindestens 50 Kilometer bedeuten, dass Versicherte aus Gründen psychischer Symptome 3,2 Tage mehr bei der Arbeit fehlten.

Übeltäter Auto

Ein wichtiger Faktor ist jedoch auch, wie wir zur Arbeit gelangen. “Es gibt interessanterweise sogar positive Erkenntnisse”, sagt Dr. Eichel, “hauptsächlich bei Beschäftigten, die mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs sind”. Denn es tue ihnen gut, zu wissen, dass sie sich schon bewegt haben. Gerade dann, wenn nach der Arbeit keine Zeit mehr dafür ist. Der öffentliche Nahverkehr wirkt sich da eher neutral auf des Pendlers Gemüt aus, während beim Auto “klare negative Effekte” auftauchen – und das nutzen immer noch 65 Prozent der Deutschen.

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Die Zahlen belegen, dass die Deutschen immer noch überwiegend zum Auto tendieren. Öffentliche Verkehrsmittel und das Rad sind aber auf dem Vormarsch. Quelle: Statista Global Consumer Survey

“Das wirkt sich negativ aus, weil man nicht die Möglichkeit hat, etwas anderes zu tun”, weiß die Psychologin, “in der Bahn kann ich etwas lesen, eine Sprache lernen oder meine sozialen Kontakte per Whatsapp pflegen, was ich nach Feierabend sonst nicht schaffe”, nennt sie Vorzüge. Das Pkw-Pendeln bekräftige auch psychosomatische Beschwerden, denn der Berufsverkehr verlangt schon vor der Arbeit hohe Konzentration ab. Das sorgt für mehr Stress. 

Appell für modernen Arbeitsethos

Deswegen begrüßt die Unternehmensberaterin den modernen Zeitgeist: “Gerade bei den jüngeren Generationen vollzieht sich ein Wertewandel, der uns erlaubt, dass wir uns um unser Wohlbefinden kümmern wollen und auch dürfen.” Die Errungenschaft der Flexibilität fällt für sie ganz besonders ins Gewicht. “Wenn mein Arbeitgeber mir erlaubt, Stoßzeiten im Verkehr zu umgehen, bevor ich zur Arbeit muss, hilft das schon mal."

Und auch Homeoffice müsse weiterhin fest in der Unternehmenskultur verankert bleiben. Im Kontext des Arbeitswegs denkt sie da vor allem an ländliche Gebiete, bei denen das Autofahren fast alternativlos sei. Wenn es nicht anders geht, biete sich eine Fahrgemeinschaft an. Mehrere Büros in anderen Städten könnten diesem Problem ebenso begegnen. “Was ich auch sinnvoll finde, ist das Thema Dienstrad. Mit einem E-Bike kann man auch mal das Auto stehen lassen und auch längere Strecken gesünder zurücklegen.” 

Keine Neuigkeit: Die Pandemie hat den Arbeitsethos stark beeinflusst. Auch wenn manche Unternehmen hinsichtlich der Flexibilität bereits zurückrudern, hat sie sich bewährt. Weniger zu pendeln, spart Zeit – das anders zu handhaben, gefährdet offensichtlich unser Seelenheil. Egal, an welchem Ort der Welt. 

Marvin Behrens
Autor*In
Marvin Behrens

Marvin ist Redakteur bei OMR Jobs & HR. Zuerst studierte er erfolgreich Journalistik, dann wagte er einen Blick ins gymnasiale Lehramt. Seinem Abschluss in Sportwissenschaften und Germanistik zum Trotz folgte er weiterhin seiner journalistischen Leidenschaft.

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