Per Sprachnachricht bewerben: Wie die Deutsche Bahn die Weichen im Recruiting stellt

Marvin Behrens 19.1.2024

Executive Vice President Talent Acquisition Kerstin Wagner muss jedes Jahr über 20.000 Stellen besetzen – und verfügt dafür über 1.000 Mitarbeitende im Recruiting.

Kerstin Wagner, Pesonalchefin Deutsche Bahn
Kerstin Wagner (Executive Vice President Talent Acquisition) ist für die Recruiting-Abteilung der Deutschen Bahn zuständig. 1.000 Menschen verantworten Marketing, Employer Brand und Recruiting. Grafik: OMR/Michalski

Die Deutsche Bahn hat ein Imageproblem. Bei denen, die ihr Angebot nutzen wollen, ist sie nicht gerade beliebt. Dafür punktet der Staatskonzern als Arbeitgeber umso mehr – und ist unter den beliebtesten zehn in Deutschland. Trotz der vielen Streiks. Das liegt auch und vor allem an Kerstin Wagner: Der Frau, die über 1.000 Leute in der Recruiting-Abteilung des Eisenbahnunternehmens führt. Dort, wo keine Idee zu verrückt sei. Argumente dafür liefern die Bewerbung per Sprachnachricht oder Virtual Reality.

Damals, das war 2012, startete die Recruiting-Abteilung der Deutschen Bahn mit 133 Angestellten. Mittlerweile ist das Team vierstellig. Oder wie Kerstin Wagner, Executive Vice President Talent Acquisition der Deutschen Bahn, frohlockt: “Ich nutze jeden Tag 1.000 kluge Köpfe – das ist doch grandios.” Ihr Führungsstil lebt von dem Spirit, eng zusammenzuarbeiten, Raum für Gedanken und High Perfomance zu bereiten. Sie findet “keine Idee zu verrückt” und fordert den Mut, sie auszusprechen. Ohne Idee kein Fortschritt. 

Klimaschutz lockt

“Personalgewinnung ist als strategisch wichtige Säule im Konzern anerkannt – das war von Anfang an mit Martin Seiler (Vorstand Personal & Recht, d. Red.) vereinbart.” Wagner verantwortet Personal-Marketing, Employer Branding und Recruiting. “Es ist nicht mehr voneinander zu trennen, es ist eng verzahnt”, stellt Wagner die Notwendigkeit der Schnittstellen heraus, die gerade in aktueller Wirtschaftslage wichtiger denn je scheint. 

“Wir sind auf einem engen Arbeitsmarkt unterwegs, das ist kein vorübergehendes Phänomen.” Vor allem bei der Größe nicht: Der Konzern zählt 500 verschiedene Berufe. “Es ist eine Herausforderung für so einen Markt und bei all’ der Unterschiedlichkeit der Zielgruppen, alle zu gewinnen”, weiß Wagner. Denn auch die Erwartungshaltung hat sich verändert.
“Wir müssen immer einen Tick vor der Welle sein. Wir müssen Trends setzen und nicht hinterherlaufen.” Purpose und Umweltbewusstsein spielen dabei eine entscheidende Rolle, wie auch das Marketing zeigt.

“Jeder, der bei der Bahn arbeitet, ist aktiver Klimaschützer”, formuliert Wagner salopp. Laut ihr kämen gerade nach der Pandemie vermehrt Interessent*innen, weil sie “was bewegen können”, und das nicht zuletzt, weil es um Mobilität geht. Es geht um Klimaschutz. Der Blick auf eine sinnvolle Tätigkeit habe sich geschärft.  Ein sicherer Arbeitgeber ist für viele nach wie vor das Kernthema, betont Wagner. Grund genug für die DB, mit der Übernahme nach Ausbildung zu werben. In diesem Jahr können sich 6.000 Nachwuchskräfte über dieses Versprechen freuen – Rekord. 50 Ausbildungsberufe und 25 duale Studiengänge bietet die Bahn an. Die meisten Azubis (890) leiten künftig den Fahrdienst. Ein elementarer Teil des Schienennetzes. 

⁠Neue Investition gegen alte Versäumnisse

Die DB stellt sich auf 70.000 Rentner*innen in den nächsten vier Jahren ein – und will das mindestens kompensieren. Besser noch: Mehr als 20.000 Mitarbeitende sollen sich jährlich dem Staatskonzern anschließen. Im Jahr 2019 waren es noch über 206.000 Angestellte im Inland. Obwohl die Bahn bis Juni 2023 seither mehr als 130.000 Menschen eingestellt hat, stieg die Anzahl seitdem “nur” um 22.000 Fachkräfte. Der siebtgrößte Arbeitgeber Deutschlands ringt nach solchen. Angesichts der Ambitionen der Bundesregierung, im deklarierten “Deutschlandtakt” häufiger und schneller zu fahren, auch nötig.

"Es wird noch einige Jahre dauern, bis der Sanierungsrückstau aufgeholt ist (...)"

⁠Denn der Rückbau des Schienennetzes, der bis 2019 die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens sicherstellen sollte, ist eine Mühsal. Das gemeinnützige Verkehrsbündnis Allianz pro Schiene lobt die Investitionen, ordnet zugleich kritisch ein: „Die Deutsche Bahn unternimmt erhebliche Anstrengungen, um das Schienennetz fit für die Zukunft zu machen. Allerdings lassen sich die jahrzehntelangen Unterinvestitionen vonseiten des Bundes nicht von heute auf morgen aufholen​​”, sagt Geschäftsführer Dirk Flege unserer Redaktion. Der Staat habe zwar bereits begonnen, mehr in die Schiene zu investieren, doch: “Es wird noch einige Jahre dauern, bis der Sanierungsrückstau aufgeholt ist und sich die Situation für Personen und Güter auf der Schiene spürbar verbessert”, befürchtet er.

Wie der Interessenverband feststellte, stieg der Personenverkehr seit 1995 um 32,4 Prozent. Gleichzeitig sind die Züge so unpünktlich wie seit acht Jahren nicht. Das führt dazu, dass der Staatskonzern in der öffentlichen Wahrnehmung seit Dekaden ein eher schlechter Ruf zuteil wird. Oder eine musikalische Hommage der A-capella-Band Wise Guys viral geht. 

Sprachnachricht für die Zukunft

Um diesen Personalbedarf zu gewinnen, müssen Hindernisse weichen. “Schon vor vier Jahren haben wir uns gefragt, was dem Bewerbenden fehlen könnte, wenn er auf unserer Karriereseite ist”, sagt Wagner, “jetzt kann er den Chatbot direkt fragen, wenn etwas unklar sein sollte”. So wird er nicht im Prozess verloren. Danach wurde die Möglichkeit geschaffen, sich auch über die Künstliche Intelligenz zu bewerben. Dann kam die Sprachfunktion. “Wir wollen eine Antwort auf die Ansprüche der Jobsuchenden haben.”

1000 Zeichen und ein Koch

Diese nennt sich “DB Smile”. Der Chatbot ist die Alternative zum klassischen Weg, Anschreiben und Lebenslauf hochzuladen – und den Motivierten sogar empfohlen. Potenzielle Bewerbende können dort nicht nur schriftlich, sondern auch per Sprachaufnahme beantworten, warum sie die Richtigen für den Job sind. Nachdem die persönlichen Daten abgefragt sind, hat der Nutzende 1.000 Zeichen, um seine Motivation aufzuschreiben – oder er oder sie schafft es in einer Minute, sie auditiv zu erklären. Danach wird auch schon nach der Gehaltsvorstellung gefragt und ob man von einem DB-Mitarbeitenden empfohlen wurde. Absenden, fertig. 

Einen schöpferischen Rahmen, um mit den Schwierigkeiten von heute umzugehen, zimmert der “Club der Enthusiasten” im wöchentlichen Austausch. So nennt Wagner ihren 17-köpfigen Führungskreis, der deutschlandweit 19 Standorte betreut. “Unantastbare” 90 Minuten für die Chefin. “Wenn alle etwas auf den Tisch bringen, wird ein großes Bild daraus.” Im jährlichen Meeting, bei dem die gesamte Abteilung zusammenkommt, geht es, nebst der Geselligkeit, vermehrt darum, externe Impulse in Innovationen zu kanalisieren: “Wir haben letztens einen Drei-Sterne-Koch eingeladen, der sich immer wieder neu erfinden muss, immer neue Ideen braucht. Wie macht er das? Und wie können wir das auf uns übertragen?”

In der virtuellen Realität verstehen

Das ist nicht die einzige Geschichte, die Wagners Ideen-Hinhören-Zyklus nährt. 2016 ist die Deutsche Bahn mit der ersten VR-Anwendung auf den Markt gegangen, weil sie einen Gedanken wagte: “Das war ein Praktikant, der aus dem Gaming-Umfeld kam. Wir haben hingehört, verrückte Idee. Dann haben wir auf einer Jobmesse in München das ausprobiert – und es ist eingeschlagen.”

In der virtuellen Reise konnte der VR-Brillentragende die Rolle des Instandhaltenden schlüpfen und schauen, wie es unter einem ICE aussieht. Das macht das einzelne Berufsbild greifbar und liefert eine Antwort auf die Frage: “Wie kriegen wir den Job zum Menschen?” Seit 2018 ist VR fester Bestandteil der Weiterbildungsmaßnahmen und vor allem für Wagenmeister*innen, Triebfahrzeugführende, Elektroniker*innen der Betriebstechnik und Fahrdienstleitende ein nützliches Instrument.

Diversität in Gänze gedacht

“Wir müssen wirklich das komplette Potenzial des deutschen Arbeitsmarkts ausschöpfen”, lautet die Marschroute. Die Bahn setzt deshalb auch auf Diversity-Recruiting. Ende dieses Jahres sollen Frauen 30 Prozent der Führungsetage bilden. Mehr als 28 Prozent sind es bereits. Eine weitere Klientel, die ihrer Meinung nach viel zu sehr vernachlässigt wird, sieht Wagner in älteren Altersklassen. “Da spricht niemand drüber, dort liegt riesiges Potenzial.” Für Inklusion gibt es eigene Zuständigkeiten und die Integration von Geflüchteten ist der AG ein Anliegen. Unabdingbar dabei ist, die Hürden zu verstehen. Dafür sind Menschen in den entsprechenden Ländern stationiert, um die dortigen Prozesse zu durchdringen.  Seit die Bahn dieses Ziel verfolgt, konnte sie mehrere hundert Menschen aus dem Ausland anheuern.

"Es wird viel geschimpft, aber wir erleben viel Identifikation."

Das trägt Früchte: Laut Marktforschungsinstitut Trendence ist die Deutsche Bahn im Jahr 2022 auf dem zehnten Platz der besten Arbeitgeber des Landes. Trotz des Lechzens der Gewerkschaft Deutscher Lokführer nach weniger Arbeitszeit (von 38 auf 35 Wochenstunden) im anstrengenden Schichtbetrieb (SPIEGEL-Bericht), dem Ringen um mehr Geld (550 Euro brutto mehr für zwölf Monate) und einem Inflationsausgleich (3.000 Euro), was regelmäßig in Streiks mündet, sei Verlass auf die Loyalität der Angestellten:  “Es wird viel geschimpft, aber wir erleben viel Identifikation. Das Eisenbahn-Gen, der Kindheitstraum, hier zu arbeiten, ist nach wie vor ein riesiger Antrieb”, heißt es. 

Sabbaticals, Familienpflegezeit oder bis zu 42 Tage Urlaub sind weitere Gründe, die auf das positive Abschneiden einzahlen. Jährlich können die Mitarbeitenden das Modell ändern. Und, auch wenn häufig streikende Beschäftige auf Unzufriedenheit hindeuten, können jene sich gleichzeitig sicher sein, dass ein konsequenter Interessensverbund (GDL) ihre Forderungen mit einer Streikkultur durchsetzen möchte, die ihresgleichen sucht. 

Mit einer Candidate-Experience, die “sexy, innovativ und modern” ist, will einer der größten Arbeitgeber Deutschlands dem demografischen Wandel trotzen – und setzt dafür nicht nur tausend kluge Köpfe ein.

Marvin Behrens
Autor*In
Marvin Behrens

Marvin ist Redakteur bei OMR Jobs & HR. Zuerst studierte er erfolgreich Journalistik, dann wagte er einen Blick ins gymnasiale Lehramt. Seinem Abschluss in Sportwissenschaften und Germanistik zum Trotz folgte er weiterhin seiner journalistischen Leidenschaft. Parallel war er Mediengestalter, Kolumnist und Sportredakteur.

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