Referendariat im Lehramt: Verstaubte Strukturen, kaltes Wasser und Tränen
Der Lehrkräftemangel in Deutschland ist auch eine Folge der Länge und Qualität der akademischen Ausbildung und des Vorbereitungsdienstes.
Das Referendariat ist gefürchtet. Gewerkschaften und Verbände fordern, den Bildungsweg für Lehrkräfte zu reformieren. Tränen sind Zubrot, wissen Alena und Viviane. Der Druck ist enorm, bestätigen Tim und Gerrit. Wir haben mit jungen Lehrkräften aus Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gesprochen. Sie erzählen uns, was dem Referendariat fehlt, welche Mitschuld die Universität trägt und warum die Schule ein komplexes Wesen mit vielen Defiziten ist. Aussagen, die sich der Frage widmen: Welche Schuld trägt die Ausbildung am Lehrkräftemangel?
14.466 Lehrkräfte fehlen in Deutschland. So die Zahlen, die das RND - RedaktionsNetzwerk Deutschland im September 2023 veröffentlichte. 2.125 mehr als noch im Januar. Eine Krise, die sich anbahnte, hatte der Deutsche Lehrerverband doch bereits 2019 vor „einer schwerwiegenden langfristigen Bedrohung der Bildungsqualität” gewarnt. Die Pandemie traf das deutsche Bildungssystem dann endgültig in die Magenkuhle. Darauf war schließlich keiner vorbereitet – und schon gar nicht die Digitalisierung.
Ein Bilderbuch-Paradoxon, das Deutschlehrkräfte auch in den Kursen der Sprachwissenschaften als Beispiel hätte dienen können, ist außerdem folgender Kasus: Die, die lehren, werden schlecht belehrt. Beteiligte eint der Tenor: Wir brauchen mehr Praxis und weniger Druck.
Keine Zeit für Erholung
Tim ist Gymnasiallehrer in Hannover, unterrichtet Englisch und Sport. Der 31-Jährige empfindet den Umfang des Referendariats als zermürbend. „Es herrscht ständiger Prüfungsdruck”, moniert er. In Niedersachsen bereiten sich Lehrkräfte 18 Monate auf den Dienst vor. 20 bis 24 Unterrichtsbesuche (UB’s) finden dabei statt, acht bis zehn fließen in die abschließende Bewertung ein. Sie bilden die Vornote, ergänzt von einer Seminararbeit, die er verteufelt: “Wahnsinn, die in der Zeit noch irgendwie unterzubringen.”
Die restlichen Beobachtungen durch die Fachleitenden dienen offiziell der Beratung, doch sie setzen den Referendarinnen und Referendaren mehr zu, als sie sollten. „Wegen der vielen Unterrichtsbesuche kann man sich keine Erholungs- oder Krankheitspause leisten. Wenn man schwächelt, hängt man hinterher”, sagt Tim. Das Problem liegt auch im eigenen Anspruch: „Man plant diese Einheiten sehr seriös, minutios, eifrig und lang. Dadurch entsteht der fälschliche Eindruck, es gäbe nur eine perfekte Stunde. Das ist alltagsfern.”
Prüfungscharakter nur ein Vorurteil?
Ein Fachleiter aus Hannover kann das nur bedingt nachvollziehen, denn die Beratungsbesuche fließen nicht mit in die Endnote ein, das sei viel mehr „ein Vorurteil, mit dem wir zu kämpfen haben.”
Die dort erfolgenden Reflexionen sollen den Berufsneulingen ermöglichen, professioneller zu werden. „Belastend ist das schon, man wird beobachtet und man muss das schaffen, was man sich vorgenommen hat”, räumt er ein, „aber wir arbeiten jeden Tag daran, dass es nicht als Prüfung empfunden wird.” Das sei auch der Konstellation der Prüfungskommission geschuldet, findet Tim. Sie begleitet den Neuling von Tag eins an und entscheidet am Ende auch über die Examensnote. Er beklagt: „Das ist ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem es letztlich ausschlaggebend ist, wie der Kontakt, das Verständnis von Unterricht und das Verhältnis zu den Prüfenden ist.” Stattdessen fordert er eine unabhängige Prüfungskommission.
Der Unterschied in NRW
Sein Wunsch ist in Nordrhein-Westfalen Realität. Dort sind zwei der drei Prüfenden extern. Einen Menschen aus der Kommission darf die angehende Lehrkraft bestimmen, zur Wahl stehen die Ansprechpartner*innen der zwei Fächer. Aber auch das ändert sich demnächst: Wenn gewünscht, darf dieses Puzzleteil der Kommission künftig extern besetzt werden. Die Vornote setzt sich aus den sechs benoteten Unterrichtsbesuchen zusammen. Ein weiteres Viertel der Note machen Gutachten aus, die von Lehrkräften erstellt werden, deren Klassen die Lehramtsanwärter*innen während des Dienstes unterrichten. Der Rest wird am Prüfungstag entschieden: Dort gibt es eine Unterrichtsstunde in beiden Fächern und danach noch einen wissenschaftlichen Vortrag mit einem Thema der Wahl. Zumindest das eint alle drei Bundesländer.
"Leute, die einen Autonomiewillen haben, fahren damit an die Wand."
Ein Pensum, das die Frage rechtfertigt: Wie wichtig ist Resilienz? „Sehr”, antwortet Referendarin Alena aus Köln, „die ganzen Prüfungssituationen bringen einen an den Rande des Wahnsinns”. Die Vorstellung, bis zu 24 Unterrichtsbesuche wie in Niedersachsen zu bewältigen, findet sie „schrecklich”. Sie habe zwei Mal in den 18 Monaten geweint. „Eine gute Quote im Vergleich zu anderen”, kommentiert sie zynisch. Ein Grund dafür ist auch der zwischenmenschliche Aspekt: „Man unterliegt einer krassen Hierarchie. Leute, die einen Autonomiewillen haben, fahren damit gegen die Wand.” Den Umständen zum Trotz: Ihrer Leidenschaft zu lehren, tat das keinen Abbruch. Im September hat sie ihr Examen bestanden.
Ihr Kollege Gerrit pflichtet ihr bei: „Der Leistungsdruck ist extrem.” Der Sport- und Lateinlehrer hätte sich viel mehr beratende Besuche gewünscht. Nur die ersten zwei sind in NRW dieser Natur. „So war es immer sehr fachlich und es ging darum, wie sinnvoll das ist, was man gemacht hat”, bedauert er.
2011 wurde das Referendariat in NRW von 24 auf 18 Monate gekürzt. „Das führte zu organisatorischen Verwerfungen, es fehlt Zeit für die Ausbildung”, prangert Björn Dexheimer an, Leiter des Referats für Aus-, Fort- und Weiterbildung bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW (GEW). Die akademische Phase und der Vorbereitungsdienst „sind extrem reformbedürftig”. Zu stark wird sich auf das Prüfungsformat und Inhalt fokussiert, findet die Gewerkschaft, obwohl der fachlich-praktische Aspekt und das Unterrichten so viel bedeutender sind.
Philologenverband kritisiert Umgang mit Lehrkräften scharf
Das ist auch für Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutscher Philologenverbands, ein triftiger Grund für Kritik: „Ich bin eine Verfechterin von Theorie, aber man muss in die Schulen gehen und sich in alle Altersklassen reinfühlen.” Sie bedauert, dass vieles „kaputt gespart” wird und der Lehrkräftemangel auch durch folgenden Umstand befeuert wird: „Die Referendare werden für Unterrichtsabdeckung verheizt.” Nicht selten werden sie als Feuerwehrkräfte eingesetzt. Zusätzlich seien die Bedingungen für alle Angestellten ausbaufähig. Seien es die Infrastruktur, die Ausstattung oder die Digitalisierung. Daraus leite sich die Frage ab: Was ist die Beziehung vom Arbeitgeber, also dem Staat, zum Arbeitnehmenden? „Junge Leute wollen gerne im Team arbeiten, eine Flexibilität haben und vernünftige Arbeitsbedingungen vorfinden”, stellt Lin-Klitzing fest, aber diese Option gäbe es aus banalen wie bedauerlichen Gründen nicht: „Lehrkräfte haben nicht mal eine Sitzgelegenheit im Lehrerzimmer, schütten sich den Kaffee rein und gehen wieder raus. Es gibt keinen Arbeitsort, um Klausuren zu korrigieren, sich mit Kolleg*innen oder Schüler*innen zu unterhalten.” Das Problem wird durch die wachsende Anzahl an Teilzeitkräften noch verschärft. Anders die Veränderungen in der freien Wirtschaft, auf die Lin-Klitzing hinweist.
"Das System darf nicht auf Kante genäht sein."
Der Kontrast zu einem Medienjob war schon immer da, nur ist er heute entschieden größer geworden. Neben der technischen Ausstattung sind Ort und Zeit flexibel zu wählen wie nie zuvor. Es gibt eine Meetingkultur in dafür vorgesehenen Räumen wie auch virtuell. Und dazu kommt: Es kann spontan sein. „Im Team arbeiten ist kaum möglich”, sagt die ehemalige Lehrerin, „das kann erst dann passieren, wenn die eigentliche Arbeit fertig ist”, bemängelt sie. Ihr abschließender Appell: „Das System braucht Unterstützung und muss nach außen leuchten. Es darf nicht so auf Kante genäht sein.”
Die Nägel im Sarg des Lehrberufs
Die GEW schlägt vor: „Die Referendar*innen sollten ihre Ausbildung selber modulieren können, das ist doch digital möglich,” sagt Dexheimer. Dass das Wesen der Ausbildung mehr beratend als prüfend sein müsste, sei unabdingbar. „Aktuell verlieren wir durch diese Umstände Leute, die anders abbiegen”, beklagt der Gewerkschafter. Dazu kämen zweierlei Probleme: „Bei der Digitalisierung haben wir eine rückschrittliche Tendenz”, konstatiert Dexheimer, der den Effekt der Pandemie verpuffen sieht. Die Anschaffungswelle sei nun vorbei, es gäbe keinen Zwang mehr, aufzurüsten, und ohnehin sparen viele Kommunen ihre Schulen kaputt – „das sind Nägel im Sarg des Lehrerberufs”.
Zudem ist das Image des Berufs geringwertig wie falsch. „In den Köpfen sind Lehrkräfte faule Säcke. Doch alle Studien kommen zum Ergebnis, dass das nicht so ist.” Eine Arbeitszeiterhebung der GEW-Niedersachsen zeigt, dass Lehrkräfte 60 Stunden die Woche arbeiten. „Wenn wir Arbeitszeit erfassen würden, würde das System implodieren”, gibt Dexheimer zu Bedenken. Bisher fallen nur die Unterrichtsstunden in die Erfassung (22 bis 28 Stunden). Die liegen bei einem Drittel der tatsächlichen Arbeitszeit, wie die Universität Göttingen ermittelte.
Addierend dazu steigt neben der Anzahl der Arbeitsstunden auch die der Schüler*innen und die damit einhergehenden Herausforderungen. Themen wie Inklusion und Integration sind in jedem Klassenzimmer präsent. Pädagogik wird immer gewichtiger.
Während die Entwicklung der Schüler*innen-Anzahl auf einem Rekordhoch ist, schließen im Jahr 2022 so wenig Lehrkräfte wie nie in den letzten elf Jahren das Staatsexamen ab.
Konträr dazu haben 2022 über 4.500 Referendar*innen deutschlandweit weniger ihr Staatsexamen abgeschlossen als noch 2021. Naheliegend, dass nicht nur die GEW in Nordrhein-Westfalen einen Rückgang von Menschen bemerkt, die den Vorbereitungsdienst antreten, auch die niedersächsische Zweigstelle spricht von einer alarmierenden Situation. 2023 waren 600 Menschen weniger im „Ref” als noch 2021. „Offenbar wird es zunehmend unattraktiver, in den Vorbereitungsdienst einzutreten. Leider stellen wir zudem fest, dass die zeitliche und psychische Belastung im Referendariat zu Unzufriedenheit und Überforderung führen“, sagt der niedersächsische Landesvorsitzende Stefan Störmer. Eine offizielle Abbruchquote ermitteln die Länder nicht. Dass das Studium zu wenig auf den Vorbereitungsdienst vorbereitet, empfinden 84 Prozent der befragten Lehrkräfte so.
Leuchtendes Beispiel Potsdam
Das gilt offenbar nicht für Brandenburg, wenn man Viviane fragt. Die Referendarin einer Gesamtschule steckt mittendrin im Vorbereitungsdienst, der in Brandenburg sogar nur zwölf Monate lang ist. Aber das ist kein Problem, denn: “In Potsdam genießen wir eine sehr gute akademische Ausbildung”, schwärmt sie. Drei Praktika im Bachelor-, zwei im Master-Studium. Darunter ein zweiwöchiges Orientierungspraktikum am Anfang und ein fachdidaktisches Praktikum am Ende des Bachelors, in denen die Studierenden bereits unterrichten. “Zusammengefasst: Ich war oft in der Schule, bevor ich das Referendariat angefangen habe. Ich war in vier Schulen, musste 33 Schulstunden selbstständig unterrichten und 60 hospitieren.” Brandenburg habe ein tolles Konzept. Insbesondere für die, die dort studiert haben.
Zwischen Safespace und ständigen Blicken
Zur Betreuung gehören die Mentor*innen. “Die machen die Betreuung so rund”, findet Viviane, denn diese Lehrkräfte beobachten dich jeden Tag und melden dir am Ende des Schultages zurück, wie du dich geschlagen hast. Kein Gutachten, nichts Formelles. Aber einen Nachteil hat es: “Es ist anstrengend, ständig beobachtet zu werden.”
Dazu kommt der Ausbildungscoach. Er ist zweimal bei den Unterrichtsbesuchen anwesend, bewertet aber nicht. “In diesem Coaching geht es für uns mehr darum, uns zu öffnen. Wir können dort alles loswerden, es ist unser Safespace. Wir kriegen aber auch didaktische Hinweise, das ist einfach toll.”
"Es frisst viel Lebenszeit und Energie"
Ungefähr sieben Monate unterrichten die Anwärter*innen bis zur Abschlussprüfung, dabei werden sie achtmal von den jeweiligen Fachleiter*innen beobachtet, aber nicht bewertet. Heißt: Es gibt nur einen Tag mit akutem Prüfungsdruck, der zugleich das Ende des Referendariats bedeutet. Trotz Lobliedern auf die gute Ausbildung sagt auch sie: “Die Zeit ist taff, es ist anstrengend. Es frisst viel Lebenszeit und Energie.”
Verstummende Instrumente
Individualismus und Föderalismus sind die Zutaten, die auf verschiedene Geschmäcker treffen. Die einen möchten längere Vorbereitungszeit, um Versäumnisse des Studiums zu kompensieren. Die anderen halten ein kürzeres Referendariat für sinnvoll, weil sie vorweg universitär gut vorbereitet wurden. Trotzdem werden die meisten Referendar*innen enormem Druck ausgesetzt und nicht selten folgt darauf eine emotionale Reaktion – oder der Abbruch der Ausbildung. “Die Band spielt bis zum Untergang”, sagt GEW-Sprecher Björn Dexheimer spöttisch. Eine mögliche Deutung: Die Instrumente können noch so schräg klingen, solange sie einen Ton rauskriegen.