Raúl Krauthausen im Interview: "Arbeitgeber vermeiden, sich der eigenen Unsicherheit zu stellen”

Raúl Krauthausen setzt sich für Menschen mit Behinderung ein – er weiß, wie viel in Deutschland noch zu tun ist. Ein Plädoyer für Barrierefreiheit, Alltagsbeispiele und eine Politik-Schelte.

Raúl Krauthausen. Foto: Anna Spindelndreier
Raúl Krauthausen setzt sich für eine Gesellschaft ein, die keine Unterschiede macht. Quelle: Anna Spindelndreier

Raúl Krauthausen setzt sich aktivistisch für Inklusion in Deutschland ein und gründete 2004 die Sozialheld*innen. Eine Initiative, die die Gesellschaft aufklären soll und Menschen mit Behinderung zur Orientierung verhilft, indem sie zum Beispiel einen behindertengerechten Arbeitsmarkt fördert, rollstuhlgerechte Orte weltweit abbildet oder Spenden sammelt.

Nach seiner Biographie “Dachdecker wollte ich eh nicht werden” veröffentlichte er Sachbücher zu Inklusion und Aktivismus. Neuerdings arbeitet Krauthausen auch an Kinderbüchern, um bereits in jungen Jahren für eine inklusive Realität zu sorgen. Er kennt die Umstände, die sich dadurch ergeben und weiß zugleich, wie vermeidbar diese Hindernisse sind – wären da nicht gesellschaftliche Denkweisen und politische Ignoranz. Ein Gespräch über rückständige Unternehmenskultur, elektrische Zahnbürsten und Diversity Washing.

Schön, dass es geklappt hat, lieber Herr Krauthausen. Fangen wir mit einer ziemlich oberflächlichen Frage an. Wie steht es um die Inklusion in Deutschland?

Krauthausen: Die Frage suggeriert Erwartungen, aber ich bin weit entfernt von Dankbarkeit. Es ist nicht so, dass wir nichts erreicht haben. Wir müssen begreifen, dass Inklusion ein Thema ist, das immer Thema sein wird. Das ist genau wie Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. 

Wie steht es denn um die Inklusion in deutscher Unternehmenskultur, machen wir da Fortschritte?

Krauthausen: Unternehmen tun nichts freiwillig, wenn es sich nicht lohnt. Sie stellen auch nur Frauen ein, wenn sie verpflichtet werden. Sie sparen auch nur CO2 ein, wenn sie verpflichtet werden. Genauso ist es mit Menschen mit Behinderung, weil befürchtet wird, dass es mehr Arbeit bedeutet. Der Gedanke kommt daher, dass wir es als Gesellschaft nicht verstanden haben, wie wir zusammenleben. Du versuchst Gründe zu finden, es nicht zu tun. Menschen mit Behinderung müssen doppelt bis dreimal so viele Bewerbungen schreiben, als die Menschen ohne, genau so geht es auch Menschen mit Kopftuch. 

Was können Unternehmen denn tun, um sich zu verbessern? 

Krauthausen: Arbeitgeber müssen die Extrameile gehen, aber das vermeiden sie. Sie vermeiden, sich der eigenen Unsicherheit zu stellen. Das ist wie bei der CO2-Reduktion. Total logisch, dass wir das machen sollten, aber wenn es Veränderung bedeutet, dann machen wir es halt nicht. Deswegen müssen wir es regulieren und in dem Fall besteuern. Weil der Markt nicht regelt, er regelt nur zu seinen Gunsten. Die FDP findet es nur solange gut, solange es nicht kostet. OMR und Co. ist auch ein Thema, wo mir immer wieder eine Wohlfühl-Diversity auffällt. Das desillusioniert mich. Da schaue ich mir die Panels über Inklusion an und dann reden dort Menschen, die nicht behindert sind. 

Einige Unternehmen sind komplett hinterher. Der Regenbogen gilt ja fast als scheinheiliges Symbol, das zwar gezeigt, aber in seiner Bedeutung nicht gelebt wird. Wo siehst du denn authentische und aufrichtige Ambitionen? 

Krauthausen: Bei Inklupreneur zum Beispiel (wir berichteten, d. Red.). Aber gerade im Startup-Bereich wird jedes Thema ein bisschen ernsthafter angegangen. Große Konzerne wie Galeria Kaufhof, Deutsche Post oder die Telekom, die haben schon Prozesse, wo man sieht, dass das mehr ist als Washing. Es geht eben auch um die Frage, wie du deine Kolleg*innen halten willst. Die Menschen in den Betrieben werden ja auch älter und haben vielleicht auch irgendwann eine Behinderung – dann macht es schon Sinn, eine Struktur zu haben. 

Welche Kraft hat Sprache in diesem Kontext?

Krauthausen: Große Kraft. Wir reden jetzt aber vor allem darüber, wer redet. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand mit Behinderung über Behinderung redet oder ob jemand ohne Behinderung über Behinderung redet und welche Worte gebraucht werden. Sagt man Behinderung oder sagt man Handicap? Das entlarvt, ob wer Ahnung hat. Und dann ist es natürlich auch wichtig, dass man immer den Menschen sieht, nicht das vermeintliche Defizit. Wir vergessen, dass aus der Community der Menschen mit Behinderung so viele Innovationen kommen. Automatische Transkription ist eine Notwendigkeit für behinderte Menschen. Untertitel, die wir im Fernsehen sehen, sind für gehörlose Menschen gemacht worden. Das E-Book auf dem Nachttisch ist ursprünglich für sehbehinderte Menschen erschaffen worden, (Amazons, d. Red.) Alexa ist für körperbehinderte Menschen entwickelt, genau wie die elektrische Zahnbürste oder der Aufzug am Bahnhof. Aber es gibt halt super viele Profiteure dadurch. 

Das denkt ja auch die Politik mit, denn sie entscheidet über infrastrukturelle Eingriffe. Der Bundestag selbst hat eine Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung von lediglich 3,3 Prozent. Da wird Inklusion jetzt auch nicht in gewünschtem Maße vorgelebt. Was kann die Politik tun?

Krauthausen: Wir müssen an den Punkt kommen, dass das Wissen im Gesetzgebungsprozess auch angewandt wird. Zum Beispiel könnte man die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten. Man muss ja auch kein Feuerwehrmann sein, um Brandschutzauflagen zu erwirken. Du musst auch nicht behindert sein, um zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Es ist immer die fehlende Priorisierung. Bei einem neoliberalen Finanzminister ist es immer schwierig, die Privatwirtschaft zu irgendwas zu verpflichten. Momentan kommt nichts von Deutschland, das wird erst auf EU-Ebene geregelt. Es gibt den european accessibility act, der heißt hier barrierefreies Stärkungsgesetz – und das ist das Minimalste, was Deutschland machen muss, aber nicht das Maximum, das Deutschland machen kann. Hier ist es möglich, einen barrierefreien Bankautomaten zu bauen, der aber in einem Gebäude steht, das nicht rollstuhlgerecht ist. 

Sobald ein Unternehmen sensibilisiert ist für das Thema, sind die Menschen, die dafür arbeiten, auch viel offener, ihre eigenen Behinderungen zu kommunizieren. Eine Win-Win-Situation also. Warum trauen sich die meisten nicht, ihrem Arbeitgeber von ihrer Behinderung zu erzählen? 

Krauthausen: Aus Angst vor Nachteilen, aus Angst nicht befördert zu werden, aus Angst den Job zu verlieren, aus Angst, dass man mir nichts mehr zutraut, aus Angst vor Stigmatisierung von Kolleginnen. Und das kann sicherlich teilweise berechtigt sein, aber teilweise ist es auch nicht berechtigt. Und da muss man, glaube ich, einfach mit gutem Beispiel vorangehen. Es gibt sehr gute Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wenn zum Beispiel die Führungsetage mit dem Outing beginnt, dann motiviert das auch die Belegschaft, es zu tun. 

Die Gesellschaft wird offener, das Thema wird nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst. Hast du den Eindruck, dass die junge Generation die Entwicklung der Inklusion begünstigt?

Krauthausen: Es fällt mir nicht leicht, Bilanz zu ziehen. Kindergärten und Schulen werden inklusiver, von daher wächst da auf jeden Fall eine Generation heran. Als ich zur Uni gegangen bin, war ich der Einzige im Rollstuhl. Social Media hat einen großen Einfluss darauf, dass viele Menschen mit Behinderung, auch international, Öffentlichkeit generieren. Es gibt Stars mit Behinderung wie Peter Dinklage, der Tyrion Lannister (Game of Thrones, d. Red.) gespielt hat. Das hätte es vor 20 Jahren nicht gegeben. 

Wenn Ihnen nichts mehr auf dem Herzen liegt, dann bin ich sehr dankbar für Ihre Zeit. Danke!

Krauthausen: Liebe Grüße!

Das Interview wurde am 26. Juli 2024 aufgezeichnet.

Marvin Behrens
Autor*In
Marvin Behrens

Marvin ist Redakteur bei OMR Jobs & HR. Zuerst studierte er erfolgreich Journalistik, dann wagte er einen Blick ins gymnasiale Lehramt. Seinem Abschluss in Sportwissenschaften und Germanistik zum Trotz folgte er weiterhin seiner journalistischen Leidenschaft.