Zwischen Olympia und Job: Ein schlecht bezahlter Drahtseilakt
Anne Schröder spielte dieses Jahr ihre dritten Olympischen Spiele im Damen-Hockey, Carlos Nevado holte 2008 mit den Herren Gold in Peking. Beide wissen: Leistungssport reicht nicht zum Leben. Wieso nicht?
Der Traum von Olympia lebt in vielen Leistungssportler*innen auf dieser Erde. Anne Schröder und Carlos Nevado kennen das Gefühl, sie liefen für Hockey-Deutschland auf, gewannen sogar Medaillen. Sprinterin Michelle Janiak verpasste dieses Jahr die Teilnahme. Wir haben mit den drei Spitzensportler*innen gesprochen – über dürftige finanzielle Hilfe, massive Opferbereitschaft und flexible Arbeitgeber.
Die Olympischen Spiele in Paris sind in den Geschichtsbüchern. Was wir darin lesen können: die deutschen Hockey-Damen sind im Viertelfinale gescheitert. Dramatisch sogar. Nach dem Ausgleich nur 90 Sekunden vor Schluss müssen die Deutschen gegen Argentinien ins Penalty-Shootout. Anne Schröder trifft, doch nicht in den regulären acht Sekunden. Vier Schützinnen vergeben, am Ende jubeln die Südamerikanerinnen. “Das wird noch lange weh tun”, sagt Schröder.
Es war das Resultat einer intensiven Reise, jahrelanger Vorbereitung auf einen Wettkampf, von dessen Teilnahme so viele träumen. Für 429 deutsche Athlet*innen wurde es wahr. “Aber im Sport ist Input nicht gleich Output”, weiß die erfahrene 29-Jährige. “Zufall, Schicksal und Tagesform” sind gewichtige Mitstreiter. Drei Faktoren, die der Nationalmannschaft um Schröder im Jahr 2016 noch zugewandt waren: Es gab Bronze.
Ein rückständiges System
Doch wer Leistungssport betreibt, weiß, dass Erfolg von so viel mehr abhängt. Vor allem hierzulande. Leistungsportler*innen in Deutschland sind darauf angewiesen, arbeiten zu gehen. Vom Sport alleine können sie ihr Leben nicht finanzieren. Mit anderen Worten: “Den Alltag kann man damit vielleicht bewältigen, die Zukunft aber nicht.” Was kommt dabei genau rum? Zwar zahlt die Sporthilfe seit zwei Jahren 250 Euro monatlich in eine Altersvorsorge ein, für Rücklagen anderer Art reiche es aber nicht – und das will sie gar nicht der Sporthilfe vorwerfen. “Da ist das System einfach rückständig. Der Sport wird immer professioneller, aber die Versorgung kommt nicht hinterher”, kritisiert Schröder, die beim Hamburger Bundesligisten Club an der Alster spielt. Das betrifft Frauen noch viel mehr als Männer, weil sie oft in gemeinnützigen Vereinen spielen, die kein Gehalt zahlen. Maximal 500 Euro kämen dort durch Kostenpauschalen zusammen. Mit Zugaben des Hamburger Sportbunds (200 Euro) und der deutsche Sporthilfe kommt Schröder auf ungefähr 2.000 Euro – letzteres berechnet sich anhand der jüngsten Erfolge.
150 Tage unterwegs
Der Aufwand: “In einer normalen Woche komme ich auf bis zu 25 Stunden Training und ich bin 150 Tage im Jahr für diesen Sport unterwegs.” Nicht nur das, betont sie, Leistungssport sei eine Lebenseinstellung. Gepaart mit einem Pensum, das ein Arbeitsverhältnis erschwere. Was dabei rumkommt, macht einen Beruf jedoch monetär erforderlich – und wertet gleichzeitig die Perspektive nach der Sportkarriere auf. Das machte das Studium so besonders, frohlockt Schröder, weil es eine flexible und finanziell unbeschwerte Zeit gewesen sei.
"Ich habe das mit Minusstunden und allen meinen Urlaubstagen irgendwie gedeichselt."
Diese Perspektive führte die studierte Psychologin nach ihrem Master in eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Ihr Profitum hing sie nicht an die große Glocke. Ihre Leidenschaft war in dieser Zeit aber so gefährdet wie nie, hätte Bundestrainer Valentin Altenburg ihr nicht den Rücken gestärkt. Die damals 26-Jährige arbeitete 25 Stunden unter der Woche, Unterricht am Wochenende machte schließlich die 40-Stunden-Woche voll. “Ich hab das mit Minusstunden und allen meinen Urlaubstagen irgendwie gedeichselt”, erzählt sie.
Seelische Balance gab ihr das Team: “Wenn ich in dieser Mannschaft nicht auch wirklich enge Freundinnen hätte, hätte ich das nicht durchgehalten.” Das Pensum brachte sie auch physisch an ihre Grenzen: “So viele kleine Verletzungen wie in dieser Zeit hatte ich noch nie”, denkt sie zurück. Ein weiteres Fazit aus Paris: Die Medaillenausbeute Deutschlands war 2024 so schlecht wie seit der Wiedervereinigung nicht. “Ich finds gar nicht übel, dass wir so schlecht waren, denn das zeigt, wie die Priorität in diesem Land ist. Eine Uni in den Staaten hat fast mehr Medaillen gewonnen als ganz Deutschland.” Sie meint die Stanford University, die 27 Medaillen geholt hat, Team Deutschland freute sich “nur” über 33.
3.000 Euro Verdienst
Die Herren sind durch die Elite-Förderung von 1.400 Euro besser situiert, außerdem bezahlen die Vereine mehr. Davon profitierte auch Carlos Nevado während seiner aktiven Hockey-Karriere. Der ehemalige Athlet gewann 2008 in Peking Gold, war mit dem Uhlenhorster HC in der Bundesliga und international erfolgreich. 1.500 Euro monatlich erhielt er schon damals von seinem Verein. Mit Fördergeldern, Sponsoring und Medaillenprämie (20.000 Euro für Gold) lag er zu besten Zeiten bei ungefähr 3.000 Euro monatlich. Wohlgemerkt: Als Olympiasieger.
“Da kann man sich überhaupt nicht beschweren, das musst du im Beruf erstmal verdienen”, sagt Nevado. Trotzdem arbeitete er nebenbei erst beim Wirtschaftsprüfer PwC als Werkstudent, später als Senior Consultant. Dann bei Deloitte. Ein gutes Umfeld, wie er rückblickend sagt. PwC engagiert sich als Partner der Sporthilfe, ist seit 2023 “nationaler Förderer”.
Grenzen und Eingeständnisse
“Wenn du keinen Protegé findest, der dich unterstützt, wird’s nichts.” Entsprechend lang waren die damaligen Tage des Weltmeisters von 2006. “Ich wollte nicht das Maskottchen bei PwC sein und bevorzugt behandelt werden”, sagt Nevado, “mit ausreichend Schlaf war das dann ehrlich gesagt schwierig”. Er musste gelegentlich in sich reinhören, spüren, dass er am Limit ist. “Es ist unglaublich wichtig, sich das einzugestehen”, so Nevado, der seinen ehemaligen Arbeitgebern und Trainern dankbar ist. “Das Unternehmen muss auf dich als Mensch Rücksicht nehmen, aber Vertrauen ist eine ganz wichtige Komponente.” Es sei sein Ehrgeiz gewesen, der ihn abends häufig mental und körperlich “total ausgebrannt” hinterließ. Wie es richtig geht, zeigte ihm die “Hoofdklasse”, die 1. Hockey-Liga der Niederlande.
Vorbild aus der Nachbarschaft
Als er für ein PwC-Projekt 2011 ein Jahr für den SCHC in Utrecht spielte, erlebte er “viel professionellere Strukturen”, dank eines vernünftigen Gehalts und einem besseren Standing des Hockey-Sports. Auch Schröder führt die Niederlande an, wenn sie von besseren Bedingungen schwärmt. Dass die Oranje dieses Jahr Deutschland im Olympia-Finale besiegte, macht den Unterschied offensichtlicher.
Studium, Beruf, Sport und Privatleben – ein intensives Leben, das sich trotzdem absolut bezahlt gemacht hat, wie Nevado heute sagt. Nicht nur neben Usain Bolt, Lionel Messi oder Dirk Nowitzki stand der Olympionik, der 41-Jährige hat sich auch erfolgreich selbstständig gemacht – mit einem Tech-Unternehmen für Schönheitsprodukte.
Carlos Nevado neben der Basketball-Legende Dirk Nowitzki in Peking. Foto: privat
28 Stunden Leichtathletik die Woche
Michelle Janiak hat die olympischen Spiele am Eiffelturm verpasst – trotzdem liegt eine erfolgreiche Saison hinter ihr. Zwei Deutsche Meisterschaften gewann sie mit der Staffel auf jeweils 4x100 und 4x200 Metern in den vergangenen 13 Monaten. “Für den Vibe” war die Athletin des SCC Berlin trotzdem dort. Vier Stunden täglich trainiert sie, seit zweieinhalb Jahren arbeitet sie wöchentlich 32 Stunden als Eventmanagerin. “Meine Kolleg*innen verfolgen meine Wettkämpfe, fiebern mit, leiden mit mir”, freut sich die 26-jährige Sprinterin. In der Leichtathletik steht es um die Förderung noch schlechter. Janiak ist trotz jüngster Erfolge nicht im Bundeskader, was sich erheblich auf die finanzielle Förderung auswirkt.
"Du brauchst ein Unternehmen, das da Bock drauf hat."
Sie erklärt: Entscheidet man sich gegen den öffentlichen Dienst, also die Bundeswehr oder (Bundes-)Polizei, in denen Leistungssportler*innen besondere Privilegien genießen, müsse man in der freien Wirtschaft “ein Unternehmen finden, das da Bock drauf hat”. Ein Sponsor unterstützt sie dank ihrer Social-Media-Präsenz. Auch sie wirft einen neidischen Blick in die Staaten: "Viele Leute werden dort entdeckt, viele Leute werden dort gefördert.” Ironischerweise entdeckte auch Janiak in den USA ihr Talent. Ein Highschool-Trainer erkannte, was in ihr steckt. Damals war sie 16.
Leistungssport ist längst kein Hobby oder nur ein Nebenjob – obwohl die Förderung darauf schließen lässt. Das Leben der Athlet*innen ist darauf ausgerichtet. Der Tenor: Würde Deutschland besser fördern, könnte es damit ein ungesundes Pensum aus Arbeit und Leistungssport verhindern. Andere Länder machen es vor. Mehr Medaillen wären da womöglich nur ein geschmackvolles Zubrot.