Einhorn: (K)ein Schlaraffenland für die Freiheit
Freiheit in allen Belangen: Das Unternehmen Einhorn hat eine innovative Arbeitsphilosophie in ihrem Hinterhof-Büro etabliert.
Ihre veganen Kondome sind aus Malaysia, ihre Ideen aus Überzeugung. Das Unternehmen Einhorn kommt bunt und direkt daher, lebt einen offenen Umgang mit Sexualität. Doch viel interessanter als das ist ihre Unternehmenskultur. Die 25 Mitarbeitenden genießen ein Arbeitsleben der anderen Art: Urlaub, so oft und wann sie wollen, eine 32-Stunden-Woche und ein selbstbestimmtes Gehalt. Markus Wörner, People & Culture und Head of PR, hat uns erklärt, was das Büroleben im Berliner Hinterhof so erstrebenswert und erfolgreich macht. “Mein Lieblingsgeschmack: Einhorn-Single-Malt”, sagt Philip Stiefer in feinem Zwirn, ehe er vor prasselndem Kaminfeuer und mit Einhorn-Maske auf dem Hut, ein Kondom aus dem Whiskey-Glas fischt und sich in den Mund schiebt. Kauend rundet er ab: “On the rocks.” Das war eine Sequenz aus dem YouTube-Video im Jahr 2015, in dem Stiefer und Waldemar Zeiler dazu animieren wollten, das “nachhaltigste Kondom der Welt” vorzubestellen. Es gingen genug Aufträge ein, sie gründeten Einhorn. Ihr spezieller Stil ist das Gerüst – bei allem, was sie tun.
Einhorn-DNA-Sequenz
So auch bei der Arbeitsweise, die bei Einhorn gilt. Es ist Donnerstag, Markus Wörner sitzt im Homeoffice in Berlin. Er verantwortet den Bereich People & Culture und ist gleichzeitig Head of PR. Gleich beginnt sein Wochenende, die 32 Stunden sind dann rum. Siebeneinhalb Jahre ist der heute 42-Jährige beim Kondom-Hersteller. Sein aktueller Aufgabenbereich hat nur wenig mit der E-Commerce-Stelle zu tun, auf die er sich damals bewarb – in einem vor Einhorn-DNA triefendem Bewerbungsprozess.
Wer Interesse an der Stelle hatte, erhielt ein Kreuzworträtsel. Nachdem Markus es gelöst hatte, erhielt er ein Passwort, das zu einer Mail-Adresse führte, an die seine Unterlagen gehen durften. “Ich wollte es unbedingt lösen und habe zwei Tage gebraucht, dieses bescheuerte Rätsel fertig zu kriegen”, sagt er schmunzelnd. Dafür war es unerlässlich, sich eingehend mit dem Unternehmen zu beschäftigen. Er war einer von vier Menschen, die es knackten. 4.000 haben es versucht.
Tränen auf der Spielwiese
Anschließend ging es darum, ob Markus zu gelebter Kultur passt. “Wir haben heute noch die Philosophie, dass wir auf den Fit achten. Hat derjenige, der hier arbeitet, Bock auf diese Crazyness in dieser Selbstbestimmtheit?” Wann, wo und wie viel – das ist jeder Person selbst überlassen. Das gilt für Urlaub wie für Arbeit. Ein wahr gewordener Traum für alle, die es mit der Freiheit halten? Ja, und dennoch nur bedingt, bremst Markus: “Das kann auch eine Zeit kreieren, die sehr konfliktbehaftet ist, wo einfach sehr viel diskutiert wird, was sehr viel Energie zieht.”
"Es ist wichtig, dass wir ein Unternehmen gestalten, mit dem sich die Leute identifizieren."
Gründe dafür gibt es einige, Hierarchie gibt es nicht. Zumindest nicht formal. Bei Einhorn gibt es keine Menschen, die Führungsverantwortung tragen. Auch nicht Stiefer und Zeiler, die 2017 auf Papier festgehalten haben, keine Entscheidungshoheit qua Amt zu haben. Die Schwarmintelligenz erarbeitet das Ergebnis mitsamt nötiger Kompromisse. Einzig die organisch wachsende soziale Hierarchie existiert, beruhend auf Erfahrung und Kompetenz. "Das ist nicht auszuschalten und kann sogar positiv wirken", meint Markus.
Dieser Ansatz, der mit den geflügelten Strukturen wie 9-to-5 bricht, braucht eine Menge Anpassungswillen. “Wir haben auch schon richtig gestritten, es sind Tränen geflossen, weil Menschen höchst unglücklich über Dinge waren, die wir ausprobiert haben”, dämpft Markus die Euphorie. Er hat zwei Jahre gebraucht, um seinen gelernten Rhythmus abzulegen und sich anzupassen. Als er kam, war selbst das Onboarding selbstständig. Mittlerweile ist das nicht mehr so – und das ist exemplarisch für den Lernprozess bei Einhorn. Von “sehr viel Chaos” am Anfang, das sogar irgendwie gewünscht war, hin zu einer Organisation, die auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden reagiert. “Es ist wichtig, dass wir ein Unternehmen gestalten, mit dem sich die Leute identifizieren. Völlig egal, ob sie in der Lage sind, sehr selbstbestimmt zu arbeiten oder ob sie ein bisschen mehr Führung und Orientierung brauchen”, sagt Markus. Letztlich, finden die Einhörner, liegt viel mehr Potenzial als Makel in dieser flexiblen Kultur.
Selbstbestimmtes Gehalt und ein Rat
Das Stichwort Selbstbestimmtheit ist ein hohes Gut im Hinterhofbüro in der Skalitzer Straße. So auch beim Gehalt. Angestellte dürfen selbst entscheiden, was sie verdienen, geknüpft an lediglich zwei Bedingungen: Der Mitarbeitende, der am meisten verdient, darf nur viermal so viel verdienen, wie der, der am wenigsten verdient. Deswegen weiß auch jeder über das Salär des anderen. Zweiter Faktor: Es muss machbar sein. Da es jedoch nicht immer einfach zu entscheiden ist, was die eigene Arbeit wert ist, nicht mal, wenn man es selbst tut, gibt es den dreiköpfigen Gehaltsrat, dem auch Markus angehört. Anfangs wurde er gewählt, jetzt ist er ständig. Er berät die Kolleg*innen zu der Frage, wie ihre Arbeit womöglich gerecht vergütet wäre. Dieser Idee liegt die Frage nach einem fairen Gehalt zugrunde, die schon fast philosophisch behandelt werden muss. Markus ist sicher: “Faires Gehalt existiert nicht, denn jeder braucht was anderes, um glücklich zu sein. Aber es gibt ein Gehalt, bei dem man sagen kann, das bewegt sich in einem Bereich, der sich gerecht anfühlt.” Orientiert am Grundeinkommen hat Einhorn einen Sockelbetrag von 2.700 Euro Brutto festgelegt. Dennoch verdienen alle 25 Angestellten mehr. Weil ihnen vor allem eines besonders wichtig ist: “Gehalt ist nicht nur Lohn für getane Arbeit, es hat auch die Funktion, dir den Kopf freizumachen und dir Sorgen vom Hals zu halten, die dich in eine Lage bringen, in der du gute Leistungen bringen kannst.” Sorgen lähmen, meint Markus. Gerade in einem beruflichen Kontext, der Humor und Kreativität verlangt.
"Wenn du einen Kaffee trinken oder ins Kino gehen willst, mach das."
Hat jemand keine Lust, fühlt sich heute nicht nach Arbeit oder leidet unter privaten Sorgen, darf er lieber Zuhause bleiben. Nein, er soll sogar. Eine kurze Slack-Nachricht reicht. “Wir glauben, es ist wertvoller, dass du lieber mit voller Energie ins Büro kommen solltest, als dich zur Arbeit zu schleppen. Wenn du einen Kaffee trinken oder ins Kino gehen willst, mach das. Hier nur deine Zeit abzusitzen, verfehlt den Sinn, wie wir Arbeit leben wollen”, sagt der People & Culture-Manager. Harscher formuliert: “Hier muss keiner Kopfschmerzen vorspielen.”
Vieles im grünen Bereich
Nicht nur, dass die Mitarbeitenden zufrieden sind, sie sind in diesem Rahmen auch produktiv: Im Jahr 2022 hat das Unternehmen sechs Millionen Euro umgesetzt. Und wem das alles noch nicht überzeugt, der dürfte sich an dem “Fairstanability”-Gedanken des Fabelwesens erfreuen. Das Unternehmen arbeitet eng mit den 30 Bauern in Thailand zusammen daran, den Kautschukabbau fair und ethisch korrekt zu händeln. Es prüft ihre Lieferketten auf Fairness, achtet darauf, CO2-Ausstoß zu kompensieren und fördert Produktstudien und Spendenprojekte. Nicht alles im grünen Bereich, aber dafür alles transparent.
Ein Beispiel ist das Platzieren von Produkten auf Amazon – dem womöglich umstrittensten Online-Versandhändler unserer Zeit: “Wir diskutieren intern viel, und haben uns auch schon darüber gestritten, ob wir unser Produkt dort verkaufen sollen”, erzählt Markus. Bisher ist die Lösung, das Produkt beim Marktführer zumindest teurer anzubieten als im eigenen Shop. Für Markus, den es vor seinem Einhorn-Engagement nie länger als zwei Jahre in einem Unternehmen hielt, ist diese Philosophie mittlerweile alternativlos. Der Verfechter einer progressiven Arbeitswelt schätzt die maximal gelebte Freiheit, die Privat- und Berufsleben in Einklang bringt. Doch sie funktioniert nur mit einer ehrlichen Fehlerkultur und dem Anspruch, die Welt ein bisschen besser zu machen.