Von der Armut in Sevastopol zur IT-Führungskraft in Hannover – dank Netzwerk Chancen
Aus der Ukraine nach Deutschland gekommen: Olga Plotnykova bewarb sich einst vergebens bei 90 deutschen Unternehmen. Heute ist sie Führungskraft bei der HDI Group.
2013 verließ sie die Krim, heute lebt sie in Rostock und arbeitet in Hannover: Olga Plotnykovas Weg dient als Paradebeispiel für die Schwächen im Umgang mit ausländischen Fachkräften. Gleichzeitig ist er ein strahlendes Beispiel dafür, welchen Einfluss Hilfe auf den Berufsweg haben kann. Dem Netzwerk Chancen sei Dank hat Olga Karriere gemacht – weil die Organisation die Stärken einer ungeraden Biographie erkennt. Fast eine Dekade ist es her, dass Olga nach Berlin kam. In Sevastopol studierte sie Übersetzungswissenschaften aus dem Englischen und Französischen ins Russische und Ukrainische. Abschlussnote: 1,0. “Ich habe auf sehr viel verzichtet, um das zu schaffen”, sagt sie, “aber dass ich das nicht nutzen konnte, war schwierig für mich”, wirft sie einen Blick zurück. Im Geburtsland mangelte es an Geld und Perspektive.
Einserschülerin ohne Perspektive
Unzufrieden verließ sie die Ukraine. Sie hatte so viel gespart, dass es für ein Jahr Studium reichen sollte. Auf der Humboldt-Universität in Berlin erforschte sie “British Studies". Wieder schloss sie mit einer eins vor dem Komma ab. Doch dann passierte genau das, was hierzulande mitursächlich für den Fachkräftemangel ist.
90 Bewerbungen verschickte die Ukrainierin. Nur drei luden sie zu einem Gespräch. “Sehr wenige haben wertschätzend oder persönlich abgesagt”, bedauert die 33-Jährige. Nur Transparency International, ein gemeinnütziger Verein für die Bekämpfung von politischer Korruption, verhielt sich “sehr menschlich”. “Sie meinten, es haben sich 400 andere Menschen beworben und dass es nicht an meinen Defiziten lag.” Eine nahbare Candidate Journey – selbst, wenn es nicht klappt.
Akademikerin im Kundenservice
Olga jobbte drei Monate für eine Online-Reiseaplattform, ehe sie in Birmingham ein Praktikum absolviert. Im Westen des Vereinigten Königreichs lernte sie eine Zweigstelle im Stadtrat kennen, die sich mit transnationalen Angelegenheiten beschäftigte. Wieder in Berlin ging es erst ins Marketing und dann in den Kundenservice – für vier Jahre. Anfangs im altbekannten Reisebüro, anschließend bei HDI. “Der berufliche Einstieg hier war schwer”, erinnert sich die Osteuropäerin.
"Ich stand da in einer Ecke und wusste nicht wohin mit mir"
2016 dann eine schicksalhafte Begegnung. Olga folgt der Einladung ihrer Universität zu einer Veranstaltung. Es geht um britische Politik. Doch die Introvertierte Zuwanderin fühlt sich fehl am Platz: “Ich stand da in einer Ecke und wusste nicht wohin mit mir.” Das bemerkte Natalya Nepomnyashcha und ging auf sie zu. “Sie hat mich angesprochen. Ich glaube, dass sie sich damals in mir gesehen hat”, sagt die einst unscheinbare Studentin. Die Unbekannte ist selbst Ukrainierin, war elf Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach Deutschland zog. Ihr Abitur wurde ihr hierzulande verwehrt, trotzdem ist ihr der soziale Aufstieg gelungen. Wegen solcher Widerstände gründete sie das “Netzwerk Chancen”. Es ist 2020. Mittlerweile ist Olga junge Mutter von Zwillingen, ihren Mann lernte sie in Berlin kennen. Vier Jahre sind vergangen, als Olga beginnt, durch die Organisation zu profitieren. Das Netzwerk Chancen fördert sie durch Workshops und Beratung. “Ich habe gelernt, wie wichtig proaktive Karriereentwicklung ist und habe mir ein Netzwerk aufgebaut”, schildert sie, “so bin ich im Unternehmen (HDI, d. Red.) erfolgreich geworden”.
Auf der Suche nach Veränderung
Ein Mentor berät sie, um die Frage zu klären: “Wo kann ich mich als Frau und Quereinsteigerin in der IT bewerben?” Über eine Empfehlung kriegt sie einen Hospitationsplatz bei HDI. Eine extreme Zeit bricht an. Sie ist Office-Managerin, hospitiert als Scrum-Masterin und ist gleichzeitig junge Mutter. In diesem IT-Bereich steuert sie Methoden und Prozesse in einem Entwickler-Team. Nach sechs Wochen wird sie als Scrum-Masterin in einem Team angestellt, das KI-Lösungen für Input-Management erarbeitet. Fleiß ist für sie eine Tugend – und endlich macht sich das bezahlt.
Die Stärken einer ungraden Biographie
Heute ist sie Chefin von 18 Mitarbeitenden einer IT-Abteilung. Eine Karriere, die sinnbildlich für die Idee hinter Netzwerk Chancen steht. “Wir helfen, die eigenen Stärken zu erkennen”, erklärt uns Birte Balbinot, Senior Managerin im Bereich Strategie und Organisation. Die Zielgruppe sind 18 bis 39-jährige, finanzschwache und Nicht-Akademiker, die in der Gesellschaft benachteiligt sind: “Dinge, die für Menschen aus gutbürgerlicher Familien selbstverständlich sind und die Welt, in der sie sich sicher bewegen, ist für diese Menschen total neu.” Mithilfe seines Netzwerks, Coachings und Mentorings möchte das Unternehmen diesen Menschen Kompetenzen und Strukturen vermitteln, die sie für den tückischen Arbeitsmarkt wappnen.
“Viele kommen und wissen nicht, was sie gut können”, sagt Balbinot. Hier liegt nicht das Problem, sondern das Potenzial, findet sie: “Hinter einer ungeraden Biographie oder dem Aufwachsen in Knappheit steckt ganz viel, das nützlich ist. Derjenige musste Lösungen suchen, Umwege gehen, war vielleicht sogar auf sich allein gestellt.” Was vielen unangenehm ist, hat Stärken hervorgebracht, die sie nicht sehen.
"Je mehr Diversity-Dimensionen jemand mitbringt, desto schwieriger wird es hier"
Olga ging das genauso. Es fehlte die Orientierung im Berufsleben, speziell auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Den Unternehmen liege mehr an Formalien als am Potenzial des Menschen. “Es gibt viele Spielregeln, die nicht transparent sind und das finde ich unfair. Das Netzwerk hat mir Wege gezeigt, die ich gerne in meinem Studium gesehen hätte.” Ein Migrationshintergrund, ein nicht linearer Lebenslauf und ein Abschluss in Geisteswissenschaften würden die Chancen auf einen guten Job spürbar reduzieren. "Je mehr Diversity-Dimension jemand mitbringt, desto schwieriger wird es hier", sagt sie.
Die Bertelsmann Stiftung hat die Ergebnisse einer Civey-Umfrage in Unternehmen im Fachkräftemonitor 2022 veröffentlicht. Es fehle zudem an Empathie bei denen, die die Entscheidungen treffen. "Wenn du eine Frau mit Migrationshintergrund aus benachteiligten Verhältnissen bist, die ein Kind hat, sind die Chancen sehr gering, dass derjenige, der deine Bewerbung liest, ebenfalls in so einer Situation ist und weiß, worauf es ankommt." Auch wenn ihr Arbeitgeber diesen Eindruck widerlegen konnte, in der Arbeitswelt bleibt er omnipräsent. In der Vergangenheit hat sie noch nach Halt gesucht, heute möchte sie als Inspiration dienen: Deswegen ist die 33-jährige Ukrainierin seit zwei Jahren selbst ein Teil der Organisation, die ihr Leben verändert hat.