KI-Models: Der MP3-Moment der Creator Economy
Generative KI macht virtuelle Influencer immer realistischer, lässt sie chatten und in jeder Sprache sprechen. Billiger als echte Menschen sind sie sowieso. Haben die eine Chance gegen die neue Konkurrenz?
- Eine "durchoptimierte Version" ihrer selbst
- Erfolgreicher als fast alle realen Models auf Fanvue
- Fleiß und Ausdauer reichen für die KI-Model-Karriere
- Hinter großen KI-Accounts stehen meist ganze Teams
- Heute NSFW-Content, morgen Ernährungsberatung
- KI verändert die komplette Entertainment-Branche
- Kund*innen zahlen für eine "virtuelle Freundin"
- KI-Models für jedes Marktsegment
- Grenzen verschwimmen
- Nächster Meilenstein: KI-Video-Content
- 330k Follower*innen und ein blauer Haken
- Alles nicht echt! So what?
Das Influencer-Business steht vor einer Revolution: Neue KI-Tools ermöglichen die Erstellung virtueller Charaktere, deren Content von dem realer Influencer*innen nicht zu unterscheiden ist. Sie arbeiten flexibler, schneller – und vor allem billiger. Bislang verdienen die Macher*innen der Accounts vor allem mit NSFW-Content. Der nächste Schritt aber sind Kooperationen mit seriösen Brands. OMR hat mit einer Pionierin der KI-Model-Szene aus Berlin gesprochen, mit dem Onlyfans-Rivalen Fanvue, der beim Thema künstliche Intelligenz gerade all-in geht, und mit einer spanischen Agentur, die virtuelle Creator am Reißbrett entwirft.
Wenn es so etwas wie einen Turing-Test für KI-Models gibt, dann ist es vermutlich der Moment, in dem die erste Insta-DM reinkommt, in der ein Fußballprofi um ein Date bittet. "Wie ist es möglich, dass eine so schöne Frau keinen Freund hat?" Diese cheesy Nachricht soll ein deutscher Spitzenspieler neulich der Influencerin Emily Pellegrini geschrieben haben. Das behauptete zumindest ihr Macher in einem Interview. Denn den Account betreibt keine 21-jährige Italienerin, sondern ein Mann.
Eine "durchoptimierte Version" ihrer selbst
Bitten um Dates, Einladungen zum Dinner in Dubai, Heiratsanträge – hat auch Sika Moon schon alles in ihrer Inbox gehabt. Das Pseudonym nutzt eine Frau, die in der norddeutschen Provinz aufgewachsen ist, in Berlin als Lehrerin gearbeitet und dann fünf Jahre lang mit Erotik-Content auf Onlyfans viel Geld verdient hat, ehe sie eine Auszeit brauchte. Und die sich nun als KI-Model neu erfindet.
Das ist zumindest das, was die Person hinter dem Pseudonym Sika Moon schreibt. Denn zum Schutz ihrer Identität möchte sie per Email kommunizieren. Sika sei eine "durchoptimierte Version" ihrer selbst, schreibt sie: "schönere Körperformen, etwas mehr Lippen, dunklerer Teint, ein Hauch Exotik" – so "wie ich mich erschaffen hätte, wenn mich jemand gefragt hätte".
Erfolgreicher als fast alle realen Models auf Fanvue
Sie habe Sika ohne kommerzielles Interesse gestartet, sondern um mit Tools wie ChatGPT, Stable Diffusion und Midjourney herumzuprobieren. Durch die Vernetzung mit anderen KI-Model-Creator*innen, habe sie viel gelernt. Ihre Prompts wurden besser, das Thema gewann an Fahrt. "Plötzlich hatte ich 30k follower auf Insta und dachte, daraus muss sich doch was machen lassen." Viele von ihnen folgen ihr bald auch auf Onlyfans – bis die Plattform ihren Account sperrt. Onlyfans erlaubt bislang keine KI-generierten Creator*innen.
Offen dafür habe sich dann der Konkurrent Fanvue gezeigt, solange sie nicht verschleiere, dass es sich um mit KI-Tools erstellten Content handle. "So wurde ich Fanvues erstes KI-Model und bin inzwischen unter den Top 0,1 Prozent der erfolgreichen Creators bei Fanvue", schreibt Sika. "Erfolgreicher als fast alle realen Models dort." Die verdienen laut Medienberichten im mittleren bis hohen fünfstelligen Bereich im Monat. Ihr genaues Einkommen möchte die Berlinerin nicht offenlegen. "Aber es ist sehr lukrativ."
Fleiß und Ausdauer reichen für die KI-Model-Karriere
Um Missverständnisse zu vermeiden: Virtuelle Influencer*innen gibt es schon länger. Die wohl bekannteste ist Lil Miquela. Die 2016 von einer Agentur aus Los Angeles kreierte Kunstfigur hatte seitdem Dutzende Collab-Deals mit diversen Brands von Fashion Labels über Samsung bis BWM.
KI-Models heben das Game jedoch auf ein komplett neues Niveau. Zum einen sind die Gen-AI-Tools inzwischen so gut, dass die von ihr erzeugten Bilder keinen Unterschied mehr zu den üblicherweise intensiv nachbearbeitetet Foto echter Influencer*innen erkennen lassen. Vor allem sind diese Werkzeuge so zugänglich, dass interessierte Laien sie mit etwas Fleiß und Ausdauer beherrschen können. Entsprechend groß ist die Goldgräberstimmung.
"Wir haben einen Anstieg der KI-Creator auf der Plattform um 2.650 Prozent verzeichnet", sagt Will Monange. Und von Monat zu Monat würden es mehr. Der Gründer und CEO von Fanvue begrüßt die Entwicklung. Logisch, hat er seine Subscription-Plattform als eine der wenigen für KI-Content geöffnet. Im Gespräch mit OMR ist Monange aber ein anderer Aspekt wichtig, den man als Demokratisierung des Influencer-Business verschlagworten könnte.
Hinter großen KI-Accounts stehen meist ganze Teams
Generative KI ermögliche endlich allen, Teil der Creator Economy zu werden – unabhängig vom Äußeren und ganz gleich, ob hinter dem virtuellen Influencer eine Einzelperson stehe oder eine Gruppe, sagt Monange. Tatsächlich würden große KI-Modell-Accounts wie Emilia Pellegrini in der Regel von Teams betrieben. Er weiß das, weil Fanvue diese neue, rasant wachsende Gruppe aktiv anspricht und an die Plattform binden will.
Monanges Plattform hat KI-Technologie auch ins Zentrum seiner eigenen Wachstumsstrategie gerückt. Unter dem Label Fanvue AI wurden gerade mehrere Tools gestartet, die die Arbeit der Creator*innen effizienter machen und ihnen neue Möglichkeiten eröffnen. Praktisches Beispiel: Eine Art Auto-Vervollständigung für die Chat-Funktion. Die analysiert eingehende Nachrichten und gibt Antwortvorschläge. Die für die Reaktion auf Nachrichten nötige Zeit verkürzt sich von mitunter mehreren Minuten auf wenige Sekunden.
Heute NSFW-Content, morgen Ernährungsberatung
Auch wenn diese Chat-Funktion mit Blick auf die Bedürfnisse der neuen KI-Model-Macher*innen entwickelt wurde, profitiert die gesamte User-Base von Fanvue. 45 Prozent der auf der Plattform aktiven Creator*innen würden diese Funktion bereits nutzen, so Monange.
Bei denen handelt es sich zu 70 bis 80 Prozent, schätzt der CEO, um Creator*innen von Adult-Content. Dieser Bereich sei halt das größte Stück vom Subscription-Kuchen. Mittelfristig will Fanvue aber mehr Creator*innen aus anderen Bereichen ansprechen. Einige Twitch-Streamer würden die Plattform bereits nutzen. Denkbar, so Monange, dass Coaches wie etwa Ernährungsberater*innen die dank KI gut skalierbare Infrastruktur von Fanvue schätzen lernen. Am Ende gehe es um alle, die auf Reichweitenplattformen wie Instagram und Tiktok ein großes Publikum haben und dieses monetariseren wollen, so der Fanvue-Gründer. „Innerhalb der kommenden fünf Jahre wollen wir deren Heimat werden.“
KI verändert die komplette Entertainment-Branche
Sika Moon jedenfalls nutzt die Tools bereits. Neben der KI-Chat-Funktion schätzt sie vor allem die Möglichkeit, Nachrichten in diverse Sprachen übersetzen und mit einer KI-Version der eigenen Stimme gesprochen als Audionachricht verschicken zu können: "Ich habe einen Fan mit dem ich fließend japanisch spreche." Sie "umarme" die neuen Möglichkeiten und glaube fest daran, dass KI die gesamte Entertainment-Branche von Modelling und Adult Entertaiment über Schauspielerei bis zur Kunst nachhaltig verändern wird – wie VHS das Filmgeschäft, MP3 das Musikbusiness und CGI das Kino. "Man kann das mögen oder nicht – aufhalten wird man es nicht."
Auch bei Fanvue spürt man die Aufbruchstimmung. Die KI-Models kollaborieren andauernd und helfen einander, ihre Fanbase auszubauen. Es sei ein bisschen wie in den frühen Tagen des Influencings, bestätigt Max Kyte, bei Fanvue zuständig für Partnerschaften. Diese Gemeinschaft sei noch jung und stehe ganz am Anfang. "Jeder, zumindest alle Macher und alle Beteiligten, mit denen ich gesprochen habe, wollen, dass jeder Erfolg hat", sagt Kyte. "Das ist das Fantastische an der KI-Community."
Dass der gegenseitige Support so groß ist, hat aber auch praktische Gründe, ergänzt Sika Moon: "Weil wir es können!“ Sie verweist auf den Aufwand, ein gemeinsames Shooting eines deutschen und eines australischen Topmodels zu arrangieren. "Wir machen das an einem Abend, ohne unsere Couch zu verlassen."
Kund*innen zahlen für eine "virtuelle Freundin"
Gut, wirklichen Topmodel-Status kann man den KI-Charakteren zwar noch nicht attestieren, aber doch, dass sie sich in einem Umfeld bewegen, in dem eine Kundschaft unterwegs ist, die bereit ist, Geld für KI-Produkte auszugeben.
Im Jahr 2023 hat Twitch-Streamerin und Erotik-Model Amouranth auf der Plattform Fansly einen Chatbot veröffentlicht, der ihrer Persönlichkeit entsprechen soll. Nach eigenen Angaben will sie mit der "virtuellen Freundin" Amouranth AI innerhalb der ersten 24 Stunden nach Release 34.000 Dollar Umsatz gemacht haben. Die Streamerin ist aktuelle Benchmark in Sachen kinky Content. Wie lukrativ das Business ist, hat sie neulich selbst per Screenshot bei X offengelegt: Allein 2023 hat sie über Onlyfans rund 50 Millionen Dollar verdient.
KI-Models für jedes Marktsegment
So weit ist Aitana noch noch nicht lange nicht – und ohnehin bestrebt, den seriösen Pfad einer Karriere als Influencerin einzuschlagen. "Barcelona's Digital Muse", so die Selbstbeschreibung in Aitanas Insta-Bio, weist nur acht Monate nach dem Start rund 280.000 Follower*innen aus. Betrieben wird der Charakter von The Clueless. Die Agentur aus der katalanischen Hauptstadt startete das Experiment mit einem eigenen KI-Model, um eine Alternative zu immer teureren Influencer*innen auszutesten, erklärt die zuständige Projektmanagerin Sofia Novales gegenüber OMR.
Aitana Lopez und Maia Lima nennt die Agentur The Clueless ihre zwei bisher live gegangen KI-Models. (v.l., Screenshot: OMR)
Aitana ist als junge, sportliche Großstädterin mit Gaming-Leidenschaft angelegt. Für ihre rosafarbenen Haare stand die spanische Fußballerin Alexia Putales Patin. Bei Aitanas Launch kurz vor der Fußball-WM der Frauen im Sommer 2023 hatte sie diesen Look populär gemacht. Auf dem Instagram-Profil von Aitana finden sich nicht nur Selfies, sondern auch Stories, in denen ihr vermeintlicher Alltag von Abendessen bis Städtetrips dokumentiert wird. Hinter der Fanvue-Paywall gibt es außerdem freizügigere Bilder. Allerdings "relativ soften" Dessous-Content, erklärt Novales. Den Abonnent*innen scheint das zu genügen.
"Aitana erwirtschaftet sehr gute Einnahmen", so die Projektmanagerin. Sie bestätigt die in einem Artikel von Forbes aus dem November 2023 genannte Summe von 11.000 US-Dollar im Monat, betont aber, durch Kooperationen würde der Betrag stetig steigen.
Grenzen verschwimmen
Dass The Clueless für sein KI-Model ein Fanvue-Profil unterhält, scheint Werbepartner nicht abzuschrecken. Man habe bislang keine Probleme mit Marken gehabt, sobald diese das Konzept vom KI-Model als Content Creatorin verstanden hätten, berichtet Novales. Die Agentur sieht es so: "Wir sind der festen Überzeugung, dass Aitana sich durch die von ihr geschaffenen Inhalte gestärkt fühlt und ihre Persönlichkeit durchscheint", so Novales. Wenn ein KI-Model sich entscheidet, ein paar Fanvue-Euro mitzunehmen, ist das im Grunde also auch eine Art Female Empowerment, könnte die Botschaft lauten.
Tatsächlich scheinen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht nur bei den Betrachtenden zu verschwimmen. Letztlich ist es konsequentes Storytelling, wenn Novales über Maia, das zweite KI-Model von The Clueless, eine Fotografin, die bislang nicht auf Fanvue ist, sagt: "Wenn sie sich entschließt, Inhalte zu verkaufen" werde es um "ihre" Fotografie gehen, nicht um Nacktbilder.
Nächster Meilenstein: KI-Video-Content
Zugleich gehen die Katalanen extrem strategisch beim Ausbau ihres Portfolios für den Spanisch sprechenden Teil des Internets vor: "Wir streben nach Vielfalt und sprechen mit jedem unserer Modelle unterschiedliche Märkte an", so die Projektmanagerin. Weitere Charaktere sind schon in Arbeit. Mit Laila soll bald ein "curvy Model aus Mexico" starten, anschließend dann ein männliches KI-Model.
"Ich lasse niemandem in dem Glauben, die Bilder seien voll real", sagt auch Sika Moon. Und im Grunde müsste dies auch ohne expliziten Disclaimer klar sein. Denn: "Kein echtes Model kann fremde Planeten besuchen oder in der Zeit reisen", so Sika. "Oder ein Elfenvolk regieren."
330k Follower*innen und ein blauer Haken
Sie betont, dass es ihr – anders als den anonymen Agentur-KI-Models – nicht darum gehe, maximale Reichweiten aufzubauen, um diese dann durch Partnerschaften zu Geld zu machen. Sika Moon ist vielmehr ein Spiel mit der eigenen Identität und wirkt wohl auch darum so authentisch. Hinter dem Alter Ego stecke ihre echte Persönlichkeit, "mit voller Leidenschaft, nicht irgendein Bot", so Sika.
330.000 Follower*innen folgen ihr dabei inzwischen, und als bisher einzige KI-Influencerin hat Instagram ihr einen blauen Haken gewährt, weil Sika optisch wie persönlich eine reale Person repräsentiere. Das, so Sika, hebe ihren Charakter ab von den "austauschbaren seelenlosen KI-Models", die Agenturen.gerade zu tausenden auf die Plattform loslassen würden.
Alles nicht echt! So what?
Das Spiel mit der Realität ist Teil des Geschäftsmodells – auch wenn das nicht alle so sehen. Unter einem Post auf Instagram, der Aitana auf einer Reise nach Wien zeigt, fragt eine Kommentatorin: "Wie kann das erlaubt sein? Sollte diese Art Account nicht irgendwie reguliert sein?" Die lapidare Reaktion eines anderen Kommentators: "So what?"
Followerzahlen, Umsätze und Boom der Charaktere zeigen: Die Akzeptanz von KI-Models als Mitspieler*innen im Influencer-Business ist groß. Ein bisschen scheinen sie bei The Clueless selbst überrascht zu sein, wie gut die Idee ihrer KI-generierten Influencerin funktioniert. "Wir haben ungewollt ein Monster geschaffen", sagt Sofia Novales. "Allerdings ein wunderschönes."