Kommt nach Docutainment jetzt Reality-TV-Marketing?

Martin Gardt8.8.2024

Große Marken produzieren Reality-TV-Shows, um neue Zielgruppen zu erreichen. Wir erklären das Marketing-Phänomen

Sechs Frauen kämpfen um die Chance ihres Lebens. Die Unternehmerinnen sprechen Investor*innen an, pitchen ihre Ideen. Immer dabei: Ein Kamerateam und die beiden Moderatorinnen Skims-Gründerin Emma Grede und Model Ashley Graham. Im Trailer zur Show "Side Hustlers" fließen Tränen, es wird gestritten, sich umarmt. Klingt alles nach klassischem Reality TV, oder? Nicht ganz – denn produziert wurde die fünfteilige Show von einer Bank.

Große Brands scheinen sich immer stärker Richtung Hollywood zu orientieren. Sie wollen aber offenbar nicht nur mit Product Placements in großen Produktionen auftauchen, sondern produzieren jetzt Reality Shows einfach auf eigene Faust. Wir zeigen, warum Banken, Steuerberatungsunternehmen oder Kosmetikunternehmen diese neuen Wege gehen und ob sich das auch auf kleinerer Ebene umsetzen lässt.

Große Produktionen sind nicht neu

Schon länger beobachten wir den Trend, dass Marken über neue (Bewegtbild)-Wege ihre Zielgruppen erreichen wollen. Schon 2022 hatten wir das Phänomen als "Docutainment" in der OMR-Keynote State of the German Internet zusammengefasst. Was sich dahinter verbirgt? In den vergangenen Jahren haben Marken verstärkt Dokumentationen produziert, die zum Teil auf den großen Streaming-Plattformen laufen. Das naheliegendste Beispiel ist das Formel-1-Format "Drive to Survive" auf Netflix, das die Rennserie fast im Alleingang in den USA wieder populär gemacht hat. Hinter dem Format stehen keine ambitionierten Doku-Filmer*innen, sondern Formel-1-Besitzer Liberty Media.

Aber auch klassische Brands sind in das Docutainment-Game eingestiegen. Neutrogena, Pepsi, Coca Cola, Procter & Gamble, Nike – all diese Marken haben eigene Studios gegründet, die vorrangig Dokumentationen produzieren sollen. Dabei geht es nicht um verlängerte Werbespots, sondern um Inhalte, die sich um die Kernthemen der Marken drehen. Ein Beispiel: Gemeinsam mit Hollywood-Star Kerry Washington produzierte die Kosmetikfirma Neutrogena die Dokumentation "In the Sun" über sieben Familien und ihr Leben mit und in der Sonne. Das Ziel: Aufmerksamkeit für Hautkrebs schaffen – und damit potenziell für Produkte von Neutronega.

Weiteres Beispiel: Procter & Gamble hat die Doku "Coded: The Hidden Love of J.C. Leyendecker" über den legendären Illustrator mit deutschen Wurzeln produziert. Dabei geht es um dessen Werk, das auch Arbeiten für P&G umfasst und den Einfluss seiner Homosexualität auf seine Werke. Procter & Gamble kann so auf der einen Seite die eigene Geschichte miterzählen und auf der anderen Seite seinen Einsatz für die LGBTQ+-Zielgruppe bewerben. Die Doku stand auf der Shortlist der Oscars und wird bei Amazon Prime Video gezeigt.

Warum jetzt Reality TV?

Jetzt also das neue Spielfeld Reality TV. Besonders durch weltweit erfolgreiche Netflix-Shows wie "Too Hot to Handle" oder "Love is Blind" hat das Format in den vergangenen Jahren nochmals einen Hype erlebt. Viele Marken sehen jetzt ihre Chance, durch eigene Produktionen besonders die junge und klassischer Werbung eher abgeneigte Zielgruppe zu erreichen. Und das klappt derzeit eher durch Reality TV als mit Dokumentationen über legendäre Illstratoren. Schließlich gaben bei einer Studie zuletzt 75 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an, dass sie mindestens eine Stunde pro Woche Reality TV schauen.

Auch beim Reality-TV-Game spielen wieder ähnliche Marken mit ihren eigens gegründeten Studios mit. Dabei zeigen sich zwei Ansätze. Auf der einen Seite Ernst gemeinte Formate wie "Side Hustlers", das in den USA als reguläre Show auf dem Streaming-Service Roku läuft. Und auf der anderen Seite satirische Sendungen, die klassische Dating- und Reality-Show Klischees mit Witz aufgreifen. Gutes Beispiel dafür: Die Steuerberatungs-Firma H&R Block produziert die ebenfalls auf Roku laufende Sendung "Responsibility Island". Hier werden die Teilnehmenden auf einer tropischen Insel ausgesetzt und alles sieht nach "Too Hot to Handle" aus. Doch dann müssen sie ihre Steuererklärung und andere verantwortungsvolle Aufgaben erledigen. Ganz überraschend kommt das für Zane, Blaze, Jynyphr und Trinity B aber nicht – sie heißen im echten Leben ganz normal und sind Schauspieler*innen.

Aktuell gibt es viele weitere Beispiele für beide Ansätze etwa von Duolingo (wobei das nur ein Trailer ist), Shopify, Neutrogena oder NYX Cosmetics. Eine wirkliche Reality-Serie zu produzieren. Das machen nicht viele Brands, sagt Zoe Fairbourn, Head of Strategic Partnerships und Branded Entertainment bei Hello Sunshine, gegenüber Business Insider. Die von Reese Witherspoon gegründete Produktionsfirma hat "Side Husltlers" für Ally Bank entwickelt. "Hoffentlich zeigt unsere Show, das Marken eine stärke Stimme in anderen Storytelling-Formaten haben können, als nur in Dokumetarfilmen."

Auf Social weiterdenken

Die besagten Sendungen sollen aber nicht nur auf den Streaming-Services viele Menschen erreichen. Oft sind sie einfach als Fundgrube für Social-Media-Content gedacht. Besonders absurde Ausschnitte und auch ganze Folgen aus Responsibility Island landen auch auf Youtube und bei Youtube Shorts. Die Folgen kommen hier zumindest auf mehrere Tausend Views – deutlich mehr als typische Videos auf dem Youtube-Account von H&R Block. Andere Ansätze wie der von Neutrogena oder NYX Cosmetics sind komplett für Tiktok erdacht und nehmen auf der Plattform typische Dating Shows aufs Korn. Neutrogena zum Beispiel hat für sein Hydro House ehemalige Casting-Show-Teilnehmende und Tiktok-Stars unter ein Dach gebracht. Die Clips aus der Reality-Satire kommen auf Tiktok zum Teil auf über 100 Millionen Views – typische Neutrogena-Inhalte landen eher bei etwa 10.000.

Klar sind auch diese Satire-Kampagnen auf Tiktok & Co. hochwertig produziert, um den Reality-TV-Style auch komplett zu kopieren. Trotzdem zeigt der Ansatz von Neutrogena, dass kein riesiges Budget nötig ist, um als Marke auf den Reality-Zug aufzuspringen. Ähnliche Stoßrichtung: Das US-Medien-Startup Jubillee produziert sehr günstig gemachte Reality- und Dating-Formate in Lagerhallen rund um LA – und hat damit fast neun Millionen Youtube-Subscriber gewonnen. Auf Tiktok folgen dem Unternehmen über zwei Millionen Menschen. In seine Dating-Shows integriert Jubilee mittlerweile auch Dritt-Marken und die eigene Dating-App nectar.

Marken sind vorsichtiger

Insgesamt dürfte die Strategie aber auch nicht für jede Marke passen. Denn ob Satire oder echtes Reality-Format: Die oftmals schlüpfrigen Inhalte moderner und deshalb erfolgreichen Dating-Shows passen nicht zu jedem. Das zeigt sich schon bei Side Hustlers, wo die Ally Bank eher auf positive Aspekte des Unternehmertums abzielt und keinen Streit unter den Teilnehmenden auslösen will – das Brot und Butter jeder klassischen Reality-TV-Sendung.

Und selbst das eigentlich als so bissige Satire gedachte Format Responsibility Island hält sich in manchen Punkten eher zurück. Ein Charakter der Show interessiert sich deshalb allgemein für Pflanzen – von Drogen will er aber natürlich nichts wissen. "Wir sind die schmale Linie zwischen Unterhaltung und Spaß gegangen, die nicht zu einem Punkt gehen, wo es der Brand schaden könnte, sagt Jill Cress, CMO bei H&R Block, gegenüber Business Insider. Und das dürfte klassischen Reality-TV-Fans dann doch wieder stinken.

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Autor*In
Martin Gardt

Martin kümmert sich vor allem um neue Artikel für OMR.com und den Social-Media-Auftritt. Nach dem Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft ging er zur Axel Springer Akademie, der Journalistenschule des Axel Springer Verlags. Danach arbeitete er bei der COMPUTER BILD mit Fokus auf News aus der digitalen Welt und Start-ups. Am Wochenende findet Ihr ihn auf der Gegengerade im Millerntor.

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