Krise in Indien?

Indien gilt seit Jahren als das neue China - doch der Motor stottert zuletzt aus verschiedenen Gründen.

Wird Indien das neue China? Die Frage hört man seit Ende der Pandemie immer häufiger. Ein Grund dafür ist zum Beispiel, dass die Bevölkerung Indiens, die von China überholt hat, und gleichzeitig jünger ist. Dazu kommen die vielen indischen Manager, die wichtige Firmen in den USA leiten. Außerdem hat die indische Wirtschaft China bei den Exporten überholt: Setzt man die Ausfuhren ins Verhältnis zum BIP, hat Indien laut Daten von Trading Economics 2023 22% der Güter und Dienstleistungen exportiert, China weniger als 20%. Dazu ist die indische Wirtschaft zuletzt schneller gewachsen.

Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Schere in den letzten 40 Jahren eigentlich immer größer wurde – und zwar, wegen der Übermacht Chinas. Auf Sicht der letzten 40 Jahre ist die
chinesische Wirtschaft fünfmal so schnell gewachsen wie die indische. 

Doch in den letzten Quartalen hat sich das Bild gedreht. Das haben auch Anleger entdeckt, die auf den indischen Markt setzen: Der MSCI India ist in den letzten zwölf Monaten fast 25% gestiegen,
der MSCI China nur 15%. Die Dynamik war sogar so groß, dass indische Aktien im ersten Halbjahr 2024 besser performt haben als die globalen Tech-Börsen. Das zeigt eine Auswertung vom Analysehaus Scope. Demnach sind die Aktien in Indien um fast 19% gestiegen, die Tech-Werte um 17%. Dahinter folgt die Region Nordamerika mit einem Plus von 16%.

Indien enttäuscht beim Wachstum

Doch in den letzten Wochen und Monaten zieht der indische Motor Bremsspuren. Das Wirtschaftswachstum ist zwar immer noch dynamisch, liegt aber unter den Erwartungen. Ein Beispiel: Im letzten Quartal gab’s ein Wachstum von 5,4% - erwartet wurden aber von Analysten 6,5%, von der indischen Notenbank sogar 7%. Experten rechnen damit, dass die indische Wirtschaft auch 2025 langsamer wachsen wird. 

Goldman Sachs hat dazu auch die Erwartungen an die Geschäftszahlen der indischen Unternehmen und damit auch die Einschätzung für indische Aktien gesenkt. Nämlich von „overweight“ auf „neutral“. Das Ziel für den Leitindex Nifty 50 hat die Investmentbank von 27.500 auf 27.000 Punkte gesenkt. Fairerweise wäre das noch immer ein Plus von knapp 10%.

Währung gegenüber Dollar auf Allzeittief

Die erwarteten Schwierigkeiten der indischen Wirtschaft drücken auch auf die indische Währung. Die Rupie notiert gegenüber dem US-Dollar zur zurzeit sogar auf dem niedrigsten Kurs aller Zeiten.
Das liegt nicht nur an der Rupie-Schwäche, sondern auch an der Dollar-Stärke. Die US-Währung hat nach der Wahl von Donald Trump zusätzlichen Schub bekommen. 

Doch es gibt einen weiteren Grund, warum die Währung schwächelt: Investoren ziehen nämlich Geld aus Indien ab und schieben es unter anderem nach China. Dort erhoffen sich Investoren positive Aspekte durch die angekündigten Stimuli der Notenbank. Allein im Oktober hatten ausländische Investoren mehr als 10 Milliarden Dollar aus indischen Aktien abgezogen – das war der größte monatliche Kapitalabfluss seit Ausbruch der Corona-Pandemie. 

Leitindex mit schlechtestem Monat seit vier Jahren

Und ebenfalls auf die Stimmung gedrückt hat zuletzt das Geschehen rund um einen der reichsten Menschen überhaupt,
nämlich den Inder Gautam Adani. Hier ging es um eine angebliche Bestechung von indischen Beamten und vermeintlichen Wertpapierbetrug. Durch Schmiergeldzahlungen soll er sich milliardenschwere Aufträge gesichert haben – er weist die Vorwürfe aber zurück. 

Die Stimmung ist also aus mehreren Gründen nicht gut. Allein im Oktober ist der indische Leitindex Nifty 50 um 5% gefallen – das klingt nicht sonderlich dramatisch, es war aber der schlechteste Monat seit mehr als vier Jahren.

Weil es in den letzten Jahren so gut lief, ist auch die Bewertung ordentlich. Das KGV des MSCI India liegt aktuell bei 25, was nicht gerade günstig ist. Meldungen über ein schwächeres Wirtschaftswachstum können da schnell mal belasten.

Wie teuer die Bewertungen sind, sieht man vor allem auch, wenn man sich mal die indischen Töchter von ausländischen
Unternehmen anschaut. Hindustan Unilever hat ein KGV von über 50. Unilever selbst kommt auf 20. Siemens India hat ein KGV von rund 100. Siemens selbst kommt nicht mal auf 20. Nestlé India hat ein KGV von fast 70. Bei Nestlé selbst sind’s auch keine 20.

Indien bald die Nummer Drei der Welt?

Aber mittelfristig gesehen ist Goldman Sachs schon wieder optimistischer und einige Trends werden auch anhalten. Viele westliche Firmen bauen in Indien große Produktionsstandbeine
auf – zum Beispiel auch Apple. Damit wollen sich die Firmen von ihrer China-Abhängigkeit lösen. Apropos Mobiltelefone – daran kann man gut erkennen, wie sich Indien entwickelt hat. Laut Franklin Templeton hat Indien noch vor zehn Jahren quasi alle Mobiltelefone importiert. Heute kann das Land 97% des eigenen Bedarfs aus
eigener Produktion abdecken. Ähnlich ist die Entwicklung bei Halbleitern. 

Unter Präsident Narendra Modi hat es Indien so geschafft, 2022 Großbritannien als fünft-stärkste Volkswirtschaft der Welt abzulösen. Laut Morgan Stanley soll Indien bis 2027
auch Japan und Deutschland überholen und dann die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt sein. Sollte es wirklich so kommen, könnte das auch den Aktienmarkt nochmal pushen.

Christoph Damm
Autor*In
Christoph Damm

Christoph Damm beobachtet vor allem den deutschen und europäischen Markt. Seit 2021 arbeitet er für den Podcast "Ohne Aktien wird Schwer", außerdem hostet er den Podcasts "Beckers Bets". Zuvor schrieb er für das Wirtschaftsressort von "Business Insider" und stand als Moderator beim "Deutschen Anleger Fernsehen" (heute: "Der Aktionär TV") vor der Kamera.

Alle Artikel von Christoph Damm
Von Montag bis Freitag die wichtigsten Börsen-News, Aktien-Analysen und Investment-Tipps.