Meta will Whatsapp offensiver monetarisieren und tritt damit in Indien eine Spam-Flut los

Noch vor dem Metaverse werde Whatsapp "das nächste Kapitel in unserem Playbook", sagt Mark Zuckerberg

Eine junge Inderin erhält eine Werbe-Nachricht auf Whatsapp
Eine junge Inderin erhält eine Werbe-Nachricht auf Whatsapp (Bild: Dall-E, bearbeitet von OMR)

Knapp 22 Milliarden US-Dollar hat Meta (damals noch Facebook) im Jahr 2014 für die Übernahme von Whatsapp bezahlt. Bislang dürfte die Messaging-Plattform erst einen Bruchteil dieser Kosten wieder eingespielt haben. Doch nun geht Meta in Sachen Monetarisierung der Plattform in die Offensive. Einerseits eröffnet das Unternehmen neue Marketingchancen. Andererseits beschweren sich Verbraucher*innen in Whatsapps Vorzeigemarkt Indien über eine Zunahme von unerwünschten Werbenachrichten.

„Zuerst war es E-Mail, dann SMS. Jetzt ist es Whatsapp – dem Spam kann man nicht entkommen“, schreibt Aishwarya Rao im Juli auf Twitter. Ihren Tweet ergänzt sie mit einem Screenshot, auf dem zu erkennen ist, dass die junge Inderin diverse Marketing-Nachrichten per Whatsapp erhalten hat. Bei vielen indischen Firmen müssten Kund*innen bei einem Kauf oder Abschluss eines Vertrags ihre Mobilnummer für die Rechnungsstellung hinterlassen, erklärt Rao gegenüber dem US-Medium „Rest of World“. Sie sagt aber auch deutlich: „Ich erinnere mich bei den meisten Firmen nicht daran, dass ich ihnen meine ausdrückliche Zustimmung erteilt hätte, mich über Whatsapp zu kontaktieren.“

Bekannte Unternehmen spammen trotz „Stop“ weiter

Rao ist bei Weitem nicht die einzige unter den indischen Whatsapp-Nutzer*innen, die in den vergangenen Monaten unverlangte Werbebotschaften über Whatsapp erhalten hat, wie andere Tweets zeigen: „Bin kurz davor, Whatsapp einfach zu löschen. Die täglichen Spam-Nachrichten sind einfach unerträglich.“ (Tweet) – „Whatsapp ist die neueste Spam-Maschine.“ (Tweet) – „Die Leute haben damit angefangen, SMS zu meiden und zu Whatsapp zu wechseln, weil es kostenlos ist […] und man dort nur private Nachrichten bekommt. […] Jetzt spammen mich dort welche Firmen auch immer meine Whatsapp-Nummer haben Tag und Nacht zu.“ (Tweet) „Rest of World“ hat mit mehr als zehn indischen Whatsapp-Nutzer*innen gesprochen oder schriftliche Interviews geführt, die ebenfalls eine solche Entwicklung schildern.

Mehrere Betroffene berichten darüber hinaus, dass auch der „Stop“-Befehl nicht geholfen habe und die Chat-Bots ihnen weiterhin Werbenachrichten zugeschickt hätten. Die zum indischen Mega-Konglomerat Tata gehörende Elektrohandelskette Cromā beispielsweise, der indische E-Commerce-Riese Flipkart, aber auch die US-amerikanische Pizzakette Domino’s sollen darunter gewesen sein. Die Beispiele zeigen: Es sind nicht irgendwelche Ein-Personen-Unternehmen oder halbseidenen Gebrauchtwagenhändler*innen, die hinter der Whatsapp-Spam-Flut in Indien stehen, sondern etablierte, große Unternehmen und hochfinanzierte Startups, mit verifizierten und einem „grünen Haken“ versehenen Unternehmenprofilen auf Whatsapp. Andere Tweets lassen darauf schließen, dass auch Firmen wie die US-Sprachlern-App Duolingo, die indische Finanz-App Cred sowie der indische Telko Jio unerwünschte Whatsapp-Werbenachrichten verschickt haben. An Jio hält die Whatsapp-Mutter Meta seit April 2020 nach einem Investment von 5,7 Milliarden US-Dollar sogar einen knapp zehnprozentigen Anteil.

„Wir wollen das richtig anstellen“

„Unsere Regel lautet, dass die Nutzer immer erst eine Anfrage stellen müssen, bevor sie von einem Unternehmen Nachrichten erhalten können, und wir bieten den Nutzern einfache Möglichkeiten, ein Unternehmen zu blockieren oder jederzeit ein Problem zu melden“, so ein*e Meta-Sprecher*in gegenüber Techcrunch zu den Vorfällen (der Tech-Blog hatte die Berichterstatung von Rest of World aufgegriffen). Meta arbeite permanent mit den Unternehmen daran, dass die Nachrichten hilfreich und erwünscht sind. Zudem gebe es eine Obergrenze bei der Zahl der Nachrichten, die ein Unternehmen pro Tag verschicken könne. „Das richtig hinzubekommen ist sehr wichtig für uns, genauso wie für die Unternehmen und am allerwichtigsten für Menschen, den unsere Produkte dienen sollen.“

Klar ist aber auch: Meta muss irgendwann mit Whatsapp Geld verdienen. Im zurückliegenden, zweiten Quartal hat Meta mit Business-Messaging-Lösungen einen Umsatz von 218 Millionen Euro erwirtschaftet. Demgegenüber steht ein Gesamtumsatz von 29 Milliarden US-Dollar, der größtenteils mit klassischer Werbung auf Facebook und Instagram erwirtschaftet worden ist. „Unser Playbook war es immer, Dienste zu entwickeln, die so viele Menschen wie möglich nutzen, also eine Milliarde, zwei Milliarden, drei Milliarden Menschen damit zu erreichen – und danach die Monetarisierung zu skalieren“, so Mark Zuckerberg im Juni gegenüber CNBC. „Und das haben wir mit Facebook und Instagram geschafft. Whatsapp wird sicherlich das nächste Kapitel sein, mit Business Messaging und Commerce, die dort eine große Rolle spielen.“

„Die Frustration hat überhand genommen“

Bei keiner anderen Plattform hat Meta so lange gebraucht, um diese zu monetarisieren. Als Meta 2014 Whatsapp übernommen hat, geschah das zunächst einmal wohl auch, um keinen stärkeren Wettbewerber im Mobile-Bereich aufkommen zu lassen. Als es in den Jahren danach dann darum ging, ein Geschäftsmodell für die Plattform zu entwickeln, führte das offenbar zu langwierigen internen Auseinandersetzungen (Whatsapp-Gründer Brian Acton, der Werbung ablehnt, hat sich mittlerweile von Meta distanziert). „Irgendwann hatten wir intern einen Punkt erreicht, an dem die Frustration überhand nahm“, so Matt Idema, im Meta-Vorstand mittlerweile für das Thema Business Messaging verantwortlich, gerade ungewöhnlich offen gegenüber Business Insider (€). Das Geschäft mit Whatsapp zu pushen sei nun etwas, „das wir wirklich tun müssen“, so Idema weiter.

Die Vision von Meta für Whatsapp ist offenbar die einer „Super App“ nach dem Vorbild von Wechat. Die zum Konzern Tencent gehörende Plattform hat sich in China zu so etwas wie dem Betriebssystem für das öffentliche Leben entwickelt, über das Essen bestellt, Frisörtermine vereinbart und Tickets für den Nahverkehr gekauft und bezahlt werden. Ein Faktor des Erfolgs von Wechat dürfte auch der wirtschaftliche Protektionismus der chinesischen Regierung sein. Trotzdem gilt es seit Jahren für viele westliche Tech-Konzerne als der „heilige Gral“, mit ihren Plattformen den Status einer Super App zu erreichen.

Indien ist der größte Markt für Whatsapp

Bei der Weiterentwicklung von Whatsapp soll Indien offenbar als Modellmarkt dienen. „Indien befindet sich inmitten einer der dynamischsten sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die die Welt je gesehen hat, angetrieben durch die rasche Einführung digitaler Technologien. Allein in den letzten fünf Jahren haben mehr als 560 Millionen Menschen in Indien Zugang zum Internet erhalten“, so Meta bei der Bekanntgabe des Investments in Jio im April 2020. Dabei überspringt die indische Bevölkerung viele Digitalisierungsschritte der westlichen Welt: Statt eines Desktop-Rechners oder eines Notebooks nutzen Inder*innen als erstes ein Smartphone, statt E-Mails schreiben sie – Whatsapps. „Whatsapp ist in Indien eine Lebensart“, so der indische Gründer Rajeev Khera vor Kurzem im US-Podcast „Land of the Giants“. In keinem anderen Land soll es mehr Whatsapp-Nutzer*innen geben; die Schätzungen liegen zwischen 487,5 Millionen und 550 Millionen Nutzer*innen.

Wenig erstaunlich also, dass Meta eine neue Whatsapp-Funktion, der künftig eine zentrale Bedeutung zukommen soll, seit Ende August erstmals in Indien testet. Der zu Jio gehörende Online-Supermarkt Jio Mart nutzt die erste „End-to-End Shopping Experience“ auf der Whatsapp-Plattform. Die Nutzer*innen können über das Unternehmensprofil von Jio Mart Lebensmittel einkaufen und bezahlen. Die Bezahlfunktion von Whatsapp ist in Indien bislang allerdings noch unerfolgreich: Wie India Times im September berichtete, soll der Anteil von Whatsapp an allen digitalen Bezahlvorgängen in Indien noch bei unter einem Prozent liegen. Der für den indischen Markt verantwortliche Whatsapp-Pay-Manager hat das Unternehmen verlassen.

Eine Milliardenübernahme soll die Monetarisierung pushen

Abseits der eher noch wolkigen Visionen einer Super App will Meta Whatsapp bei Unternehmen offenkundig als CRM-Kanal etablieren. Die Firmen sollen darüber nach Vorstellung des Meta-Managements die direkte Kundenkommunikation abwickeln, von Service-Anfragen über Liefer-Updates bis idealerweise die Bezahlabwicklung. Dafür hat Meta im November 2020 für rund eine Milliarde US-Dollar die US-CRM-Plattform Kustomer übernommen. Die soll künftig Unternehmen als zentrale Inbox für alle Messenger-Kommunikation auf Facebooks Plattformen dienen. Doch es dauerte lange, bis die zuständigen Behörden den Deal genehmigten: erst im Januar 2022 winkte die Europäische Kommission die Akquisition durch, im Februar schloss sich das deutsche Bundeskartellamt an.

Wenige Monate später legte Meta in Sachen Whatsapp den Turbo ein: Bei „Metaconversations“, dem ersten dedizierten Messaging-Event des Konzerns, schaltete Meta die „Cloud API“ weltweit live – eine cloud-basierte Version jener Schnittstelle, über die Unternehmen per Whatsapp mit ihren Kund*innen kommunizieren können sollen. Dabei müssen die Unternehmen für den Nachrichtenversand zahlen: Wenn das Unternehmen die Unterhaltung initiiert, ist der Preis höher. Wenn der Kunde die Unterhaltung initiiert, muss das Unternehmen innerhalb von 24 Stunden für mehrere Nachrichten nur einen (günstigeren) Preis zahlen. Die ersten 1.000 Nachrichten pro Monat sind zudem kostenlos.

Wie streng prüft Meta die Aktivitäten der Unternehmen?

Offenbar hat Meta mit der Einführung der „Cloud API“ auch gegenüber Unternehmen, die bisher eng geführten Zügel ein wenig gelockert: 2021 habe Whatsapp ihm noch hohe Hürden gesetzt, als er sich mit seinem Unternehmen für die „Business API“ bewarb, so Yash Banage, Gründer der Süßwarenhändlers „Bombay Sweet Shop“, gegenüber Rest of World. „Jetzt steht die Schnittstelle jedem offen.“ Die Zunahme der Spam-Nachrichten in Indien vermittelt den Eindruck, dass Meta auch nicht so genau hinschaut, wie eine Handynummer in das Messaging-System eingespeist wird, und auch mal ein Auge zudrückt, wenn Unternehmen versuchen, über Whatsapp Neukund*innen zu akquirieren.

Denn eigentlich soll es auf der Plattform zumindest vorrangig um die Kommunikation mit Bestandskunden oder zumindest die Beantwortung von Inbound-Anfragen gehen. Wer mit Whatsapp potenzielle Neukunden gewinnen und zu diesen Kontakt aufnehmen will, soll dafür eigentlich so genannte Click-to-Message-Ads auf Facebook oder Instagram schalten. Wie die mittlerweile ausgeschiedene COO Sheryl Sandberg im jüngsten Earnings Call zum zweiten Quartal erklärte, sollen diese Click-to-Message-Ads schon ein Multi-Milliarden-Business für Meta seien.

Ein TKP von 5,50 Euro

Dass in Indien viele Unternehmen Whatsapp nutzen, um ungefragt Werbenachrichten zu verschicken, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Preise dort deutlich günstiger sind. Während in Deutschland eine einzelne Nachricht im Rahmen einer vom Unternehmen initiierten Unterhaltung mit 11 Cent zu Buche schlägt, liegt der Preis in Indien bei etwas mehr als einen halben Euro-Cent pro Nachricht – das entspricht einem Tausender-Kontakt-Preis von 5,50 Euro. Nun beträgt das Pro-Kopf-Brutto-Inlands-Produkt von Indien auch etwa nur ein Vierundzwanzigstel von dem Deutschlands (wer in Indien ein Smartphone besitzt, dürfte immerhin nicht zu den Allerärmsten des Landes gehören). Trotzdem scheinen sich für große Firmen und Startups, die Millionen oder teilweise sogar Milliarden an Funding eingesammelt haben, die Investition in den Massenversand per Whatsapp trotzdem zu rechnen.

In Indien ist es für Unternehmen deutlich günstiger als in Deutschland, über Whatsapp Nachrichten an Kund*innen zu verschicken (Preistabelle: Meta, bearbeitet von OMR)

Unbestritten ist, dass Whatsapp für indische Unternehmen und die indische Wirtschaft auch ein Wachstumsmotor ist. Der indische Versucherungsanbieter Verak führte im April die Möglichkeit zum Abschluss einer Police auf Whatsapp ein, wie Gründer Rahul Mathur auf Twitter schreibt. Zwei Monate später vermeldet er an selber Stelle: Fast 85 Prozent der Verak-Umsätze werden über Whatsapp erwirtschaftet. Auch „Bombay Sweet Shop“-Gründer Bhanage erklärt gegenüber Rest of World, dass Whatsapp seine Umsätze deutlich gepusht habe. Ein Artikel von Business Insider Indien listet diverse Beispiele von Einzelunternehmer*innen auf, die mit Whatsapp wachsen konnten.

Kommt als nächstes Brasilien?

Diverse Tweets (1, 2 und 3) lassen darauf schließen, dass zuletzt auch in Brasilien der Versand unerwünschter Werbenachrichten zugenommen hat. Das brasilianische Online-Medium Núcleo hat unter seinen Leser*innen nachgefragt, von denen mehrere von ähnlichen Erfahrungen berichtet haben (hier die Übersetzung des Berichtes von Google Translate). Im Mai hatte Whatsapp in Brasilien ebenfalls den Zahldienst Whatsapp Pay eingeführt.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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