Playrix: Kaum einer kennt diese milliardenschwere Gaming-Firma, aber alle kennen ihre Ads

Wie zwei russische Brüder mit Candy-Crush-Verschnitten und umstrittener Werbung die zweitgrößte Mobile-Gaming-Firma bauten

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Dmitry und Igor Bukhman, die Gründer von Playrix (Quelle: Playrix auf Youtube)

Zwei russische Brüder fangen in ihrem Kinderzimmer an, Spiele zu entwickeln und bauen im Laufe von fast zwei Jahrzehnten ein milliardenschweres Unternehmen auf: Obwohl die Geschichte von Playrix vergleichsweise spektakulär ist, ist sie außerhalb der Mobile-Gaming-Branche, in der das Unternehmen mittlerweile hauptsächlich tätig ist, bislang nur wenig wahrgenommen worden. OMR zeichnet die Geschichte des stillen Riesen Playrix nach und zeigt, mit welchen, teils kontrovers diskutierten und kritisierten Marketinghebeln das Unternehmen zum größten europäischen Spiele-App-Publisher geworden ist.

Es war ein lautloser Siegeszug: Relativ unbemerkt hat sich Playrix laut dem App-Analytics-Dienstleister App Annie in der globalen Rangliste der umsatzstärksten Mobile-Gaming-Unternehmen im Jahr 2020 von Platz sieben auf Platz zwei vorgeschoben. Damit steht das in Russland gegründete Unternehmen (der Hauptsitz befindet sich mittlerweile in Dublin) vor bekannten Branchenschwergewichten wie Activision Blizzard, Zynga und Supercell. Nur der chinesische Digitalriese Tencent hat in den ersten drei Quartalen 2020 mehr Geld mit Spiele-Apps eingenommen.

Das Ranking der umsatzstärksten Mobile-Gaming-Publisher der Welt für die drei ersten Quartale von 2020 (Quelle: App Annie)

1,75 Milliarden US-Dollar Umsatz in acht Monaten

Das jüngste Wachstum von Playrix ist sicherlich auch stark Corona-bedingt. Beflügelt davon, dass in diesem Jahr Menschen rund um die Welt wochen- oder sogar monatelange zu Hause bleiben mussten und in Games Zerstreuung suchten, sind die weltweiten Mobile-Gaming-Umsätze laut dem App-Analytics-Dienst Sensor Tower im zweiten Quartal 2020 überdurchschnittlich gewachsen: um 27 Prozent auf nun 19,3 Milliarden US-Dollar.

Offensichtlich ist es Playrix aber gelungen, von dieser Entwicklung stärker zu profitieren als Mitbewerber. In den ersten acht Monaten des Jahres sei der Umsatz des Unternehmens um 60 Prozent auf 1,75 Milliarden US-Dollar gestiegen, wie die beiden Gründer Dmitry und Igor Bukhman (35 und 38 Jahre alt) im September gegenüber Bloomberg erklärten. Somit hatte Playrix bis Ende August 2020 so viel Umsatz erwirtschaftet wie im gesamten Jahr 2019. Dabei geholfen hätten auch stark gesunkene Klickpreise auf den großen Digitalplattformen (über die wir im März ebenfalls berichtet hatten).

Der Großteil von Playrix‘ Umsatz stamme aus In-App-Käufen, so Dmitry Bukhman im Jahr 2019 gegenüber Bloomberg. Nur drei Prozent der Einnahmen kämen aus der Werbevermarktung der Apps. Zum Gewinn, den Playrix erwirtschaftet, lassen sich keine öffentlichen Angaben finden.

Vom Schüler und Student zu Milliardären

Schon in den Jahren vor 2020 war Playrix extrem stark gewachsen; und parallel dazu auch der „Personal Net Worth“ der beiden Gründer. Im Jahr 2019 wurden beide erstmals in den jährlich von Bloomberg erstellten „Milliardärs-Index“ aufgenommen. Zum damaligen Zeitpunkt schätzte das US-Wirtschaftsmedium die beiden Bukhmans und ihr Vermögen (das größtenteils auf dem Wert ihres Unternehmens fußen dürfte) jeweils noch auf 1,4 Milliarden US-Dollar. In diesem Jahr soll sich der Wert laut Bloomberg-Schätzungen auf jeweils 3,9 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppelt haben.

Erneut dürfte dieses Vermögen größtenteils auf den Wert von Playrix zurückzuführen sein. Das Unternehmen beschäftigt mittlerweile 2.500 Mitarbeiter weltweit und ist offensichtlich mehrere Milliarden US-Dollar wert. Das ist umso beachtlicher, weil Dmitry und Igor Bukhan in ihrer gesamten Unternehmerlaufbahn nach eigenen Angaben nie Fremdkapital aufgenommen haben. Playrix befindet sich offenbar alleine in ihrem Besitz.

Ein Uni-Professor als Ideengeber

Die Anfänge waren klein: Mitte der 90er Jahre bekamen die Dmitry und Igor Bukhman von ihren Eltern einen Pentium-100-PC in ihre Kinderzimmer gestellt und kommen so erstmals mit Gaming in Berührung, wie sie im Frühjahr 2019 in einem Interview erzählen. Im Jahr 2000 nimmt Igor, der ältere der beiden, in Wologda, der nördlich von Moskau gelegenen Heimatstadt der Brüder, ein Mathematikstudium auf (Dmitry ist zu dieser Zeit noch Schüler). An der Uni lernt Igor einen Professor kennen, der selbst entwickelte Spiele über das Internet verkauft und Igor zeigt, wie das funktioniert.

Igor und Dmitry fangen an, eigene Spiele zu programmieren und sie ebenfalls im Netz anzubieten. „Damals bestand das Modell, nach dem Spiele verkauft wurden, darin, dass man einige Minuten kostenlos spielen konnte und danach zahlen musste“, so Igor. Nach und nach steigen ihre Umsätze. Als sie im Jahr 2004 erstmals mehr als 10.000 US-Dollar im Monat einnehmen, gründen sie ein Unternehmen – Playrix ist geboren.

Von Browser- über Facebook- zu Mobile-Games

Das russische Startup macht in den kommenden Jahren alle Entwicklungsstufen der digitalen Gaming-Branche mit, angefangen mit Casual Gaming im Browser auf Seiten wie Majorgeeks.com und Download.com, später Yahoo und AOL. Später wechseln die beiden Brüder auf das „Free-to-play“-Modell, bei dem die Spiele an sich kostenlos sind, die Spielenden aber für bestimmte Funktionen oder Artikel bezahlen (um schneller voranzukommen, Zeit zu sparen oder Vorteile gegenüber Mitspielern zu gewinnen).

Dann machen sie den Boom des Social Gaming über Facebook mit (bekanntester Vertreter zu der damaligen Zeitpunkt sicherlich das Spiel „Farmville“ von der Firma Zynga) und steigen früh, im Jahr 2010, in den Mobile-Gaming-Markt ein. In den Jahren darauf bringen sie viele Spiele heraus, die noch heute für den Großteil der Einnahmen sorgen: „Township“ (2013, eine Mischung aus Farmville und dem Städte-Bau-Spiel Simcity), „Fishdom“ (2015), Gardenscapes (2016) und Homescapes (2017).

Ein Candy-Crush-Verschnitt nach dem anderen

Die drei letztgenannten Spiele sind so genannte „Match 3“-Games, bei denen die Spielenden drei gleiche Symbole in einer Reihe anordnen müssen. Das Konzept hat eine lange Geschichte in der Gaming-Branche, deren Wurzeln bis in die 80er-Jahre zurückreichen. In den beiden vergangenen Jahrzehnten feierte zunächst das Browser-Game „Bejewelled“, dann „Candy Crush Saga“ von King Games (aus dem Jahr 2012) auf Facebook und Mobile große Erfolge.

Offenbar vom „Candy Crush“-Erfolg inspiriert, bringen die Gebrüder Bukhman ab 2015 jährlich jeweils ein „Match 3“-Spiel auf den Markt. „Wir sagen nicht, dass wir die innovativste Firma der Welt sind“, so Igor Bukhman 2016 gegenüber Venturebeat. Das Unternehmen wolle Hit-Spiele produzieren. „Wir klonen nicht. Wir erschaffen etwas neues, das auf etwas basiert, das sich bereits als erfolgreich erwiesen hat.

„Meta-Games“ für die Dopamin-Ausschüttung

Die größte Neuerung, die die Bukhmans in der Welt der „Match 3“-Spiele ist die des so genannten „Meta Games“ – eine zweite Spiele-Ebene. In den „Bring drei in eine Reihe“-Runden erarbeiten sich die Spielenden „Sterne“, die sie dann im Anschluss gegen etwas eintauschen können. In Gardenscapes richten sie einen Garten wieder her, dekorieren und bepflanzen diesen; in Homescapes renovieren und verschönern sie ein Haus. „Diese Genre-Variation wurde sehr erfolgreich, und andere Firmen begannen, uns zu kopieren“, so Dmitry Bukhman 2019 gegenüber Bloomberg.

Mittels der Storytelling-Elemente des Meta-Games gelingt es den Playrix-Team, lange so genannte „Core Loops“ zu erstellen. „Core Loops“ bezeichnen in der Gaming-Entwickler-Sprache den Grundkern eines Spiels und bezieht sich auf eine Abfolge von Aktionen, die die Spielenden immer wieder absolvieren müssen. Das Konzept auf ein Prinzip aus der Verhaltenspsychologie auf: So genannte „Compulsion Loops“ (deutsch: Zwangsschleifen) zielen auf das Belohnungszentrum im Hirn und auf die Freisetzung des Glückshormons Dopamin ab. Auf diese Weise gelingt es den Playrix-Entwicklern, die Spielenden dazu zu animieren, immer wieder die App zu öffnen und zu spielen.

„LiveOps“ sollen die Rückkehr-Rate steigern

Ebenso zur Spielerbindung sollen so genannten „Live Operations“, oder auch verkürzt LiveOps, beitragen: Mit diesem Begriff bezeichnet die Mobile-Gaming-Branche die Praxis, Spiele auch wenn sie schon auf dem Markt sind, dauerhaft immer wieder zu verändern und zu erweitern und durch Messung der jeweiligen Ergebnisse zu optimieren. „Der Schlüssel ist es, unsere Spiele immer wieder zu updaten und zu verbessern“, so Dmitry Bukhman gegenüber Venturebeat. „Wir verwenden viel Aufmerksamkeit darauf, die Spieler dazu zu bekommen, immer wieder ins Spiel zurückzukehren.“ Manche Spieler würden Playrix‘ Spiele deswegen über Jahre hinweg spielen.

Auf Marketingseite setzt das Playrix-Team auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Werbemitteln, deren Ergebnisse ebenfalls konstant gemessen werden. Rund 650 verschiedene Anzeigenvarianten weist die „Facebook Ads Library“ aktuell beispielsweise für Gardenscapes aus, 760 sind es für Homescapes.

„Ads versus Reality“

Immer wieder wird Playrix für irreführende Werbeanzeigen kritisiert, nicht nur in App-Store-Rezensionen und Online-Foren, sondern zuletzt beispielsweise von der britischen Werbeaufsichtsbehörde ASA. Denn häufig zeigen die Anzeigen Szenen und Spielvarianten, die mit dem eigentlichen Spielprinzip von Playrix‘ Games nichts zu tun haben. Aktuell sind es meist logische Puzzles (häufig so genannte „Pull the Pin“-Rätsel), die die User (nicht selten in so genannten „Playable Ads“) dazu reizen sollen, sich selbst an die Lösung zu wagen. Doch mit dem zugrundeliegenden „Match 3“-Gameplay der meisten Playrix-Hits haben diese nichts zu tun.

Nun ist irreführende Werbung nichts neues – auch nicht in der Gaming-Branche. Doch offenbar hat die Verbreitung dieser Praxis im Mobile-Gaming-Bereich in den vergangenen zwei Jahren stark zugenommen; diverse Branchenmedien und -experten haben sich zuletzt mit dem Phänomen der „Fake Ads“ auseinandergesetzt. Sogar ein anonymer Youtube-Kanal hat sich alleine dem Thema Fake Ads gewidmet und stellt in seinen Videos, die teilweise siebenstellige Aufrufzahlen verbuchen, nach dem Motto „Ads vs. Reality“ Werbeanzeigen der Spiele dem eigentlichen so genannten „Gameplay“ gegenüber.

Eine Reihe von „Fake Gameplay“-Ads zu Playrix-Spielen (Quelle: Deconstructor of Fun)

Komm für die Puzzle-Lösung, zahl für die virtuelle Gartenbank

Grund für diese Praxis dürfte sein, dass mit Logik-Puzzles Nutzer deutlich leichter dazu zu bringen sind, ein Spiel herunterzuladen (weil sie unbedingt die Lösung ausprobieren wollen); die so aufgebaute Reichweite aber mittels des „Match 3 Core Loops“ deutlich besser monetarisierbar ist. Das größte Problem dürfte jedoch sein, dass die Nutzer, so bald sie feststellen, dass dem Spiel, das sie heruntergeladen haben, eigentlich ein vollkommen anderes Prinzip zugrundeliegt, die App nicht mehr öffnen oder sogar deinstallieren.

Wie Playrix die App Icons und App Store Screenshots den Anzeigen anpasst (Quelle: Deconstructor of Fun)

Die Playrix-Macher haben das Prinzip der „Fake Ads“ deswegen offenbar in der Art perfektioniert, dass sie die „Fake Ads“ wieder „defaken“, wie die beiden Gaming-Experten Buğrahan Göker und Michail Katkoff im Branchenblog „Deconstructor of Fun“ in einer lesenswerten, ausführlichen Analyse zeigt. Sie passen nicht nur sowohl das App Icon als auch den App-Store-Eintrag (inklusive Screenshots) den in den erfolgreichsten Werbemitteln gezeigten Puzzle- oder anderen Spielprinzipien an, sondern integrieren das jeweilige Puzzle als „Mini Game“ in ihre Hitgames. Ziel ist es, den Nutzer über das „Mini Game“ an das Spiel zu binden, und ihn dann über die Basis-„Match 3“-Mechanik zu monetarisieren.

Mit angesagten „Mini Games“ zu neuen Zielgruppen

Möglicherweise hilft die Einbindung von gerade angesagten „Mini Games“ den Playrix-Marketern sogar dabei, neue Zielgruppen zu gewinnen, die sie sonst gar nicht erreichen würden, wie Jonathan Fisher vom App-Store-Optimization-Tool-Anbieter Storemaven in einem Blog-Beitrag spekuliert. Denn die großen digitalen Plattformen (vor allem Facebook und Youtube), auf denen die Gaming-Firmen ihre Nutzer einkaufen, spielen Anzeigen automatisiert jenen Nutzenden aus, die schon Interesse an bestimmten Spielarten gezeigt haben. Werbung für „Match 3“-Spiele würde daruch vor allen jenen Nutzenden angezeigt, die schon „Match 3“-Fans sind.

Durch das Zusammenspiel dieser Methoden ist Playrix in den zurückliegenden Jahren enorm stark gewachsen. Zum Wachstum beitragen haben dürften zum einen auch eine starke (für westliche Gaming-Firmen nicht automatisch gegebene) Position in Asien (die Playrix offenbar vor allem über Kooperation und eine starke Lokalisierung aufgebaut hat). Zum anderen haben die beiden Playrix-Gründer über die Jahre hinweg zwölf Mobile-Gaming-Studios aufgekauft, u.a. den zyprischen Publisher Nexters, der mit seinem Rollenspiel Hero Wars Pionier in Sachen „Pull the Pin“-Fake-Ads gewesen ist und möglicherweise Inspiration für die Adaption des Prinzips auf die großen Erfolgs-Games von Playrix.

„Für drei Miliarden verkaufen wir nicht“

Wenig erstaunlich also, dass The Information bereits 2019 über Gerüchte berichtete, laut denen ein Verkauf von Playrix zum Preis von drei Milliarden US-Dollar im Raum stehe. Gegenüber Bloomberg dementierten die Bukhman-Brüder kurz darauf den Bericht. Zwar hätten ihnen viele dazu geraten, sich mit einem großen Unternehmen zusammenzuschließen oder an die Börse zu gehen; es hätten sich aber auch diverse Investment-Banken bei ihnen gemeldet. Aber: „Für drei Milliarden verkaufen wird nicht“, so Dmitry Bukhman lächelnd gegenüber dem US-Wirtschaftsmedium. Seitdem dürfte der Wert des Unternehmens noch einmal deutlich gestiegen sein. Einen Anhaltspunkt für die aktuelle Bewertung des Unternehmens bietet die Einschätzung des „Personal Net Worths“ von Bloomberg von jeweils 3,9 Milliarden US-Dollar.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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