Der Kampf um den Nutzerzugang: Ist das Mobile Keyboard der Gatekeeper der Zukunft?

Warum die US-Digitalkonzerne plötzlich in Keyboard Apps investieren

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Ob Google, Microsoft oder Pinterest – mehrere namhafte US-Tech-Konzerne haben innerhalb der vergangenen Wochen und Monate Geld und Ressourcen in Keyboard Apps für Smartphones gesteckt. Warum interessieren sich diese Konzerne auf einmal für einen Markt, in dem auf den ersten Blick wenig zu holen scheint? Wir erklären die Kämpfe hinter den Kulissen der Branche – und warum das Startup Slash von Machtverschiebungen profitieren könnte. Als Google Mitte Mai die App Gboard vorstellte, reagierten weltweit nicht wenige Android-Fans verwundert bis verärgert. Die App, mit der Nutzer direkt aus ihrer Smartphone-Tastatur heraus, ohne die aktuell gerade geöffnete Anwendung verlassen zu müssen, in Google suchen sowie Emojis, GIF-Bilddateien und andere Elemente in Chat-Nachrichten integrieren können, ist bislang nur für iOS-Nutzer verfügbar. Treue Google-Fans, die Android-Geräte nutzen, schauen in die Röhre.

Rajan Patel, der für Gboard verantwortliche Entwickler bei Google, rechtfertigte sich gegenüber Wired dafür, dass Google Gboard nur für iOS entwickelt hat: Auf Android-Geräten sei es mit Funktionen wie der Quicksearch-Leiste und Google Now on Tap für die Nutzer bereits zuvor leicht gewesen, an Informationen zu kommen. „Auf iOS-Geräten fanden wir es im Rahmen unserer eigenen Nutzung ein wenig schwerer, schnellen Zugang zu Informationen zu erhalten.“ Im Klartext: Google versucht mit Gboard einen besseren Zugriff auf die Nutzer von Konkurrent Apple zu erhalten. Dieser bremst Googles Suchdienste auf den eigenen Geräten immer häufiger aus und hat zuletzt eigene Suchfunktionen in iOS integriert. Mit Gboard geht Google nun wieder in die Gegenoffensive. Bislang ist die App außer in den USA auch in Australien, Großbritannien, Indien und Kanada verfügbar. Weitere Länder sollen nach Unternehmensangaben folgen.

Wird das Keyboard zum umkämpften „Estate“?

Gboard mag nur einer von vielen Schauplätzen im Kampf um den Zugang zu Nutzern sein, der in der digitalen Welt zwischen den großen Tech-Konzernen permanent schwelt. Aber vielleicht ist er exemplarisch: Weil die Nutzung des Internets auf mobilen Endgeräten jene auf Desktop-Rechnern immer mehr in den Schatten stellt, wird das Smartphone-Keyboard in Zukunft möglicherweise zum umkämpften „Estate“.

Zumindest deuten darauf Ereignisse der vergangenen Monaten hin: Mitte Juni übernahm etwa die Bilder-Plattform Pinterest das Entwickler-Team hinter der Keyboard-App Fleksy, die bis dahin zwölf Millionen Mal heruntergeladen worden war. Pinterest wolle die Nutzererfahrung auf mobilen Endgeräten so gestalten, dass die Nutzer auf jedem Gerät und an jedem Ort der Welt mühelos durch Pinterests „Ideenkatalog“ gleiten könnten, so Manager Scott Goodson gegenüber dem Wall Street Journal zur Motivation für die Übernahme.

Zuvor hatte IT-Riese Microsoft gleich zwei Keyboard-Apps in den Markt gebracht: Word Flow, die Keyboard-Software des unternehmenseigenen mobilen Betriebssystems Windows Phone, die dem Nutzer durch Vorschläge während dem Tippen und durch ein ergonomisches Tastatur-Layout die Eingabe erleichtern will, ist seit Mai auch als App für iOS-Geräte verfügbar. Die Keyboard-App Hub, mit der die Nutzer leichter Links und Dateien aus Office 365 über das Smartphone mit anderen Nutzern teilen können, ist seit April für iOS und seit Februar für Android erhältlich. Dass Microsoft in diesem Segment nicht nur kleine Experimente unternehmen will, hatte zuvor eine Akquisition bewiesen: Im Februar hatte Microsoft das Unternehmen hinter der etablierten Smartphone-Keyboard-App Swiftkey aufgekauft – laut der Financial Times für 250 Millionen US-Dollar.

Zugegeben: Bei den genannten Entwicklungen und Übernahmen dürften auch jeweils andere Gründe eine Rolle gespielt haben: die Verbesserung von plattformeigenen Suchfunktionen wie bei Pinterest, oder den Ausbau der personellen Kompetenz im Bereich künstliche Intelligenz wie bei Microsofts Übernahme von Swiftkey. Letztendlich dürfte es den Unternehmen aber auch immer darum gegangen sein, mit den so erreichten Verbesserungen Nutzer an ihre Eingabeoberfläche und damit die eigenen Dienste zu binden.

Wer beherrscht die Einfallstore in die digitale Sphäre?

Schon immer ging es in der digitalen Welt darum, wer ihre Eingangstore beherrscht – weil die Position als Gatekeeper stets lukrative Geschäfte verspricht. In den Anfangszeiten des Webs waren Zugangsanbieter wie AOL und Portale wie Yahoo wichtige Player, bis sie schließlich von Google abgelöst wurden. Zuletzt konnte sich Facebook mit dem Newsfeed in der immer mobiler werdenden digitalen Welt eine beachtliche Position erarbeiten.

Heute ist auf den mit Touch-Display ausgestatteten Smartphones die Tastatur kein Teil der Hardware mehr, sondern Software – also modifizierbar. Weil das Keyboard somit in der aktuellen Phase, wo sich sprachbasierte Interfaces wie Siri oder Amazon Echo (zumindest noch) nicht in der Breite durchgesetzt haben, der erste Berührungspunkt des Nutzers mit der digitalen Sphäre ist, verspricht die Vorherrschaft über diese Domäne enorme Macht.

In der US-Branche wurde in den vergangenen Monaten viel über das Nutzer-Interface der Zukunft diskutiert. Manche, wie Sarah Guo vom renommierten US-Venture-Capital-Unternehmen Greylock, glauben, dass ein schlichtes Eingabefeld, die „Command Line“, das Interface der Zukunft sein wird. Chris Messina, der für die Nutzererfahrung von Taxi-Dienst Uber verantwortlich ist, prophezeite dass 2016 das Jahr des „Conversational Commerce“ sein wird und Nutzer künftig in Chat-Form auch mit Unternehmen kommunizieren werden. Messinas Artikel wurde viel diskutiert, mehrfach übersetzt und von Tageszeitungen übernommen.

Sind Chat-Apps die Plattformen der Zukunft?

Die Debatte muss auch vor dem Hintergrund der „Messaging Wars“ gesehen werden. Weil die Mobile-Nutzung der Verbraucher von Chat-Apps dominiert wird, wird aktuell in der Branche viel darüber spekuliert, wer die Plattform der Zukunft stellen wird – und damit aus den Messengern ein Business entwickeln kann: Facebook, mit dem selbstentwickelten Facebook Messenger sowie der Akquisition WhatsApp, der asiatische Platzhirsch Tencent mit Wechat oder doch vielleicht der junge Herausforderer Snapchat?

In dieser Situation ist es durchaus denkbar, dass Unternehmen wie Google und Microsoft mit ihren jüngsten Maßnahmen versuchen, sich über das Keyboard tiefer und betriebssystemübergreifend in die mobile Infrastruktur einzugraben als es eine Messaging-App könnte. Über viele Jahre lag dieses Machtpotenzial relativ ungenutzt in der Hand der Betriebssystem-Entwickler, also vorrangig Apple und Google. Bei Google ist es Nutzern schon länger möglich, externe Keyboard-Apps zu nutzen; bei Apple ist dies seit 2014 mit iOS 8 erlaubt – wenn auch die Installation und Nutzung hier ein wenig umständlicher sind als bei Google-Geräten.

Wenn künftig – wie Google dies bereits mit der Integration der eigenen Suchmaschine in die Gboard-Tastatur angedeutet hat – der Zugriff auf Funktionen anderer Apps in das Keyboard integriert wird, so bietet dies zudem die Chance, die bislang fragmentierte Nutzererfahrung auf mobilen Endgeräten zu „heilen“. Lange waren Apps wie Silos, die kaum miteinander kommunizierten. Wenn man sich über eine Chat-App mit einem Bekannten zum Essen verabredete, suchte man möglicherweise über eine App wie Yelp oder Google Maps nach einem passenden Restaurant oder Café. War eine Verabredung getroffen, wechselte man in die Kalender-App, um den Termin eintragen. So müssen die Nutzer permanent umständlich zwischen diversen Apps hin und herswitchen.

Slash Keyboard bricht die App-Silos auf

Eine Ahnung davon, wie dies in Zukunft anders ablaufen könnte, bietet die App Slash. Das von einem US-Startup entwickelte Smartphone-Keyboard integriert gleich diverse Dienste in nur eine Nutzeroberfläche: Googles Suchmaschine, Youtube, Amazon, Foursquare und die GIF-Suchmaschine Giphy. Durch Eingabe des Schrägstrichs („Slash“) lassen sich entsprechende Erweiterungen aufrufen und via dem Tastatur-Interface beispielsweise über Foursquare ein Café in der Nähe, oder über Amazon ein Produkt heraussuchen.

Gründer und Erfinder von Slash ist Cem Kozinoglu, der zuvor unter anderem für Microsoft an Suchdiensten wie Bing arbeitete. Eigentlich habe er eine Messaging App programmieren wollen, wie Wired schreibt. Aber Kozinoglu habe befürchtet, dass viele der Services, die er in die App integrieren wollte – wie Facebook, Google und Instagram – Slash als Mitbewerber sehen und deswegen den Zugang blockieren würden. „Ich musste ein trojanisches Pferd finden, mit dem ich die Gefahr ausgesperrt zu werden umgehen konnte.“ Er überlegte und stieß auf „das einzige Stück Software, das sich zwischen dem Nutzer und den Apps befindet“: das Keyboard.

Seit September 2015 ist Slash in der iOS-Version verfügbar; im Februar 2016 folgte die Android-Version. Stand heute ist Slash sicher noch nicht perfekt: Die Autokorrektur-Funktion der Tastatur etwa ist noch nicht so gut wie jene der betriebssystemeigenen. Und hat man beispielsweise die deutschsprachige Version der Slash-Tastatur ausgewählt, so durchsucht man trotzdem automatisch die US-Version von Amazon.

Trotzdem hat Slash viel Aufmerksamkeit in der US-Tech-Szene erhalten. Nachdem zum Launch Community-Gründer Ryan Hoover Slash bei Product Hunt postete, bekamt dort viele Upvotes; im Dezember wählte die Product-Hunt-Community, in der hochrangige Vertreter der internationalen Digitalbranche aktiv sind, Slash mit deutlichem Abstand zum „Tech Product of the Year“. Zwei Wochen zuvor hatten die Slash-Gründer da schon eine Seed-Funding-Runde im Umfang von 1,3 Millionen US-Dollar abgeschlossen; zu den Investoren sollen Betaworks (u.a. bereits bei Medium, Kickstarter und Product Hunt investiert) und die drei Gründer von Giphy gehören.

Auf dem Weg zur mobilen Suchmaschine

In Zukunft soll Slash nicht eine reine Keyboard-App bleiben, sondern langfristig zur besten mobilen Suchmaschine werden – so der Vorsatz, den die Betreiber angesichts der jüngsten Funding-Runde gegenüber Techcrunch äußerten. „Keyboard ist nur der erste Distributionskanal.“

In puncto Nutzerzahlen ist dieser derzeit jedoch noch weit davon entfernt, eine kritische Masse erreicht zu haben. Gegenüber Techcrunch erklärte das Unternehmen im vergangenen Dezember, bislang mehr als 100.000 Installs zu verzeichnen. Der Berliner Mobile-Analytics-Dienstleister Priori Data schätzt die Zahl der Slash-Downloads mittlerweile auf knapp 300.000: 234.000 auf iOS und rund 59.000 auf Android-Geräten. Googles alleine für iOS in nur wenigen, großen Märkten seit Mai verfügbare Keyboard-App Gboard verzeichnete demgegenüber bislang nach Priori-Data-Schätzungen 580.000 Downloads. Gegenüber Business Insider gab Slash im Februar dieses Jahres an, pro Monat fünf Millionen Suchen zu verzeichnen. Die Zahl der monatlichen Suchanfragen von Googles Suchmaschine wird von Experten auf rund 167 Milliarden geschätzt.

Dass nun Google mit Gboard aber gerade eine App gelauncht hat, deren Konzept stark an Slash erinnert, lässt zumindest den Schluss zu, als sehe auch der Spitzenverdiener unter den US-Digitalkonzernen hinter dem Grundgedanken von Slash Potenzial – selbst wenn dies am Ende Slash „nur“ zu einem interessanten Übernahmekandidaten in den „Messaging Wars“ für Größen wie Facebook oder Apple machen sollte.

Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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