„Eine KPI, sie alle zu knechten“: Wird Verweildauer im Netz zur entscheidenden Metrik?

Der Aufstieg von Tiktok zeigt: "Vanity Metrics" könnten weiter an Relevanz verlieren

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Clicks, Views, Impressions, Follower, Likes, Shares, Comments – wer im Netz versucht, Sichtbarkeit und Reichweite zu generieren, kann dabei den Erfolg mit diversen Kennzahlen messen. Viele dieser Metriken bilden jedoch nur kurzfristige Impulse der Nutzer:innen ab. OMR-Chefredakteur Roland Eisenbrand glaubt: Wer künftig im Netz sichtbar sein will, ohne dafür zu bezahlen, muss die eigenen Inhalte darauf optimieren, dass die Menschen möglichst lange auf diesen verweilen. Getrieben wird diese Entwicklung von immer intelligenteren Empfehlungsalgorithmen – allen voran von dem Tiktoks.

Normalerweise sprechen börsennotierte Unternehmen in ihren Earnings Calls (den Telefonkonferenzen mit Analysten zur Veröffentlichung der jüngsten Quartalszahlen) äußerst ungern über Mitbewerber. Umso beachtlicher also, dass Meta-Gründer Mark Zuckerberg im Februar dieses Jahres bei der Vorstellung der Zahlen zum zurückliegenden Geschäftsjahr den Mitbewerber Tiktok gleich fünf Mal erwähnt hat. Tiktok sei bereits jetzt eine sehr große Konkurrenz und wachse weiterhin auf Basis einer bereits großen Nutzer:innenschaft, so Zuckerberg. Der Streaming-Dienst Netflix hatte Tiktok bereits im Juli 2020 in einem Brief an die Shareholder als Konkurrenten im Kampf um die Mediennutzungszeit der Nutzer:innen benannt.

Vergleich der Gesamtnutzungsdauer sowie der Produktionsbudgets von Tiktok und Netflix

Mehr als die doppelte Sehdauer mit einem Bruchteil des Budgets: Tiktok ist ein Content-Schwergewicht, das anderen Plattformen wie Netflix die Mediennutzungszeit der Nutzer:innen streitig macht (Quelle: No Mercy, No Malice von Scott Galloway)

Nutzungsdauer in vier Jahren verfünffacht

Eine Milliarde Nutzer:innen öffneten die Tiktok-App im September 2021 mindestens einmal im Monat (Monthly Active User, MAU) laut Unternehmensangaben. Zum Vergleich: Meta verzeichnet über alle Plattformen hinweg 3,6 Milliarden Nutzer:innen. Im ersten Quartal soll die Plattform Hochrechnungen des Statistik-Dienstes Data.ai zufolge fast 1,6 Milliarden Monthly Active Users verzeichnet haben. Über das gesamte Jahr 2021 hinweg soll Tiktok erneut die weltweit am häufigsten heruntergeladene App gewesen sein.

Aber nicht nur bei der Nutzer:innen-Zahl wächst Tiktok rasant, sondern auch bei der Nutzungsintensität: So sollen im Jahr 2018 die Nutzer:innen der Android-Version von Tiktok laut Data.ai weltweit noch durchschnittlich 4,2 Stunden im Monat in der App verbracht haben. 2021 soll die Nutzungsdauer dann 19,6 Stunden betragen und sich somit nahezu verfünffacht haben. Nur Facebook verzeichnet im globalen Durchschnitt noch eine ähnliche Nutzungsintensität.

Die durchschnittliche monatliche Nutzungsdauer der größten Social Apps im Vergleich – weltweit, in den USA und in Deutschland (Quelle: Data.ai)

Tiktok muss Nutzer:innen an Pausen erinnern

In diversen westlichen Ländern führt Tiktok schon in Sachen durchschnittlicher Nutzungsdauer. Sowohl im Heimatmarkt in den USA als auch in Deutschland hat Tiktok schon 2019 Instagram überholt; im darauffolgenden Jahr folgte Facebooks Hauptplattform. In den USA und Großbritannien liegt Tiktoks durchschnittliche Nutzungsdauer auch vor der von Youtube.

Was treibt die Nutzung von Tiktok? Wichtigster Faktor ist mutmaßlich Tiktoks Algorithmus, mit dem es dem chinesischen Betreiberunternehmen Bytedance offenbar dauerhaft gelingt, den Nutzer:innen auch innerhalb kürzester Zeit nach ihrer Anmeldung genau jene Kurz-Clips auf ihrer „Für Dich“-Seite auszuspielen, die bei diesen gut ankommen und die sie dazu bringen, immer noch ein weiteres Video anzuschauen. Viele Nutzer:innen verbringen offenbar so viel Zeit in der App, dass Tiktok im Februar 2020 damit begann, innerhalb der App Videos auszuspielen, die die Nutzer:innen nach längerer Nutzung dazu bringen sollen, eine Pause zu machen.

Die Watchtime als „Königsmacher“

Entscheidendes Kriterium, damit Videos auf Tiktok häufig ausgespielt werden: die Watchtime, also wie häufig und oft ein Clip von den Nutzer:innen angesehen wird. Das belegt ein internes Dokument von Tiktok, das der New York Times vorliegen soll und über das die US-Zeitung im Dezember 2021 berichtet hat. „Je häufiger der User das Video anschaut, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, das ein Video viral geht“, berichtete auch Younes Zarou, Deutschlands erfolgreichster Tiktok Creator, beim OMR Festival 2022.

Damit unterscheidet sich Tiktok deutlich von bisherigen Social-Media-Plattformen. Viele andere Feed-basierte Plattformen haben Inhalte lange größtenteils abhängig von dem „Social Graph“ der Nutzer:innen ausgespielt, also abhängig davon, welchen Accounts sie folgen. Bei der Klassifizierung und dem Auffinden von Inhalten halfen und helfen Hashtags; algorithmische Filter haben Inhalte nach Engagement gerankt (also Likes, Kommentaren und Shares).

Der Social Graph: veraltete Brückentechnologie?

Der Erfolg von Tiktok lässt all diese Methoden wie eine Brückentechnologie wirken. Denn die aus China stammende Plattform benötigt alle genannten Informationen nicht mehr, um einen Feed zu erstellen, der die Nutzer:innen fesselt. Auf der einen Seite macht dies die Reichweite auf Tiktok für alle, die auf der Plattform Inhalte einstellen, deutlich weniger verlässlich. So gibt es zwar einen „Folge ich“-Feed für Videos von Accounts, denen die Nutzer:innen folgen. Aber die App öffnet sich mit auf der „Für Dich“-Seite;  Experten schätzen, dass hier 90 bis 95 Prozent des Contents konsumiert werden.

Auf der anderen Seite macht dies neuen Nutzer:innen den Einstieg in Tiktok sehr komfortabel. Die User müssen niemandem mehr umständlich folgen, sondern bekommen gleich Videos angezeigt. Weil in der Tiktok-App Videos den gesamten Bildschirm ausfüllen, kann der Algorithmus eindeutig identifizieren, welchen „Content Pieces“ die Nutzer:innen wie lange Aufmerksamkeit widmen. Und mittels künstlicher Intelligenz gelingt es Tiktok, alleine aus dem Nutzer:innenverhalten so viel Wissen über deren Content-Präferenzen abzuleiten, dass die Nutzer:innen gar nichts mehr selbst tun müssen, um Clips ausgespielt zu bekommen, die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit interessieren.

Youtube, Linkedin & Meta ranken nach Verweildauer

Mit diesem Fokus auf die „Watchtime“ gelingt es Tiktok aktuell, enormes Wachstum zu generieren und so das Gros der anderen Digitalplattformen vor sich her zu treiben. Viele der US-Tech-Firmen haben zwar die Relevanz der Nutzungs- oder Abrufdauer selbst bereits vor einigen Jahren erkannt. Auf Youtube (wo 70 Prozent der Gesamtsehdauer auf empfohlene Videos zurückzuführen sein soll) ist die Watchtime schon seit 2012 wichtigstes Ranking-Kriterium. Auch im Zusammenhang mit der „Hauptplattform“ von Youtubes Mutterkonzern Alphabet, also Google, diskutiert die Szene der Suchmaschinenoptimierer schon seit mindestens 2018 darüber, dass die „Time on Site“ oder „Dwell Time“ ein zentraler, möglicherweise sogar der wichtigste Ranking-Faktor ist.

Das Business-Netzwerk Linkedin hat 2020 erklärt, die „Dwell Time“ noch stärker beim Priorisieren von Inhalten im Feed der Nutzer:innen berücksichtigen zu wollen. Meta spielt auf Facebook und Instagram verstärkt Content-Empfehlungen aus (also von Accounts, Seiten und Gruppen, denen die Nutzer:innen nicht folgen bzw. angehören). Instagram CEO Adam Mosseri führt in einem Blog-Eintrag und einem Video die Zeit, die Nutzer:innen mit einem Post verbringt, als ersten Ranking-Faktor an.

Reichweite immer wieder neu verdienen

Doch bisher hat keine andere Plattform diese Fokussierung auf die Präferenzen der Nutzer:innen ähnlich radikal wie Tiktok umgesetzt. Nun ziehen die US-Plattformen nach: Mit Instagram Reels, Youtube Shorts und Snapchats Spotlight wurden in den vergangenen Monaten Konkurrenzformate zu Tiktok gelauncht, denen die Konzerne immer wieder öffentlich enorme strategische Relevanz beimessen. Wer aktuell auf Instagram oder Youtube noch Reichweitenzuwächse generieren will, der kommt an diesen Formate kaum vorbei.

Es ist also mehr als plausibel, dass die Verweil- bzw. Abrufdauer („Watchtime“, „Time Spent“ oder „Dwell Time“) künftig die zentrale Metrik für all jene sein sollte, die im Netz auf organische Sichtbarkeit optimieren möchten. Alle Firmen, Marken und Medien, mit deren Inhalten die Nutzer:innen nur wenig Zeit verbringen, werden in einem Netz, das künftig immer stärker von algorithmischen Empfehlungen geprägt sein wird, weniger sichtbar sein – wenn sie nicht bereit sind, für die Reichweite zu bezahlen.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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