„Swiping is booooooring“ – wie Dating-Apps für die Gen-Z Jagd auf Tinder machen

Innovative Newcomer wie "Feels" und "Snack" wollen den König der Kuppel-Apps vom Thron stürzen

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Manchmal reicht eine einzelne gute Idee, um einen Milliarden-Markt zu beherrschen. Bestes Beispiel: Tinder. Die App hat es geschafft, mit ihrer Swipe-und-Match-Logik zum Standard-Tool aller zu werden, die die große Liebe oder den schnellen Sex suchen. Doch wo ein (Quasi-)Monopol besteht, sind Angreifer nicht weit, die es mit einer neuen guten Idee brechen wollen. OMR hat mit den Macher:innen zweier Next-Gen-Dating-Apps darüber gesprochen, warum gerade eine gute Gelegenheit für Newcomer ist, an welchen Stellen Tinder sich verwundbar zeigt und mit welcher Marketing-Strategie sie aus dem Schatten des dominierenden Players treten wollen.

Der Blick von außen hilft ab und an, wenn Gründer:innen erkennen wollen, was für ein Produkt sie da gerade eigentlich wirklich erschaffen. Wenn der Pariser Daniel Cheaib anderen das Besondere an seiner Dating-App Feels nahebringen wollte, hätte das lange nämlich so geklungen: „Das ist die App, um authentische Beziehungen einzugehen.“ Die Leute hätten darauf dann immer gleich reagiert, sagt Cheaib: „Okay, das sagen alle. Wie macht ihr das? Was ist bei eurer App anders?“

Die selbsterklärte "Anti-Dating-App" Feels

Die selbsterklärte „Anti-Dating-App“ Feels. Screencast: OMR

Cheaib und seine drei Mitgründer hätten dann ausführlich erklären können, dass Feels ganz anders als Tinder funktioniert, dass im Zentrum Videos stehen, dass es keine Algorithmen gibt, die Profile abgleichen. Aber erst die Mittzwanziger von der Pariser Gen-Z-Agentur Socialclub, die mit dem Rebranding von Feels beauftragt worden waren, hätten ihre App schließlich auf den Punkt gebracht.

„Too cool to match“

Die jungen Werber:innen kickten nicht nur die Dating-typische rot-orangefarbene CI. Sie dachten sich auch einen neuen Slogan für Feels aus. In dem kam weder das Wort „authentisch“ noch der Begriff „Beziehungen“ vor. Dafür zeigt der neue Claim Haltung: „Too cool to match“. „Das wäre mir nie im Leben eingefallen“, sagt Cheaib, „das ist ein Generationending.“ Als er den Claim zum ersten Mal gehört habe, wusste er: „Das ist genau, worum es bei Feels geht.“

Anders als bei Tinder swipen die User keine Personen nach rechts oder links, sondern sie scrollen vertikal durch Profile. Diese bestehen aus Full-Screen-Videos und Texttafeln mit Antworten auf Fragen wie der nach der TV-Serie, in der jemand gerne leben würde. Die Selfie-Clips können mit Stickern aufgehübscht werden. Es gibt kein Matching, stattdessen kommentieren die Nutzenden die Videos mit Emojis oder schreiben einander direkt an. Je aktiver die User sind, desto sichtbarer wird ihr Profil im Feed. Feels ist bunt, schnell, unmittelbar – ein Tiktok für Dating.

Zwanglose Interaktion

Das boomende soziale Netzwerk Tiktok ist der gemeinsame Referenzpunkt einer neuer Generation von Dating-Plattformen. Auch Snack, eine aus dem kanadischen Vancouver stammende und bislang in Nordamerika sowie Großbritannien verfügbare App, stellt einen Video-Feed ins Zentrum. Interaktionen erfolgen durch Likes und Kommentare. „Wir bilden das Social-Media-Erlebnis nach, mit dem die Gen-Z vertraut ist“, sagt Kim Kaplan, Gründerin und CEO von Snack gegenüber OMR. Die Nutzenden würden angehalten, bei Snack denselben Content zu teilen, den sie auf Instagram, Snapchat, Tiktok posten.  

Anders als bei Feels verfügt Snack über eine Matching-Funktion. Diese diene dazu, dass gematchte Personen gegenseitig ihre neuen Videos in die Feeds gespielt bekämen. Außerdem seien nur zwischen Matches Direktnachrichten möglich, erklärt Kaplan. Die entscheidende Veränderung zu Tinder und Bumble liege vor allem in der Kommentarfunktion: „So können die Leute zwanglos mit dem Content der anderen interagieren und Gespräche auf eine natürlichere Weise beginnen.“

Dating-Workaround bei Tiktok

Die Idee zu Snack sei ihr beim Scrollen durch Tiktok gekommen, sagt Kaplan. Sie habe den Clip einer Frau gesehen, die ihren Namen, ihr Alter, ihren Wohnort und ihr Sternzeichen zeigte. „Da hatte ich einen dieser Aha-Momente und begriff, dass sie versuchte, TikTok fürs Dating zu nutzen“, so die Snack-Gründerin. Die Plattform sei aber nicht für diesen Zweck entwickelt worden. Es gebe keine Angaben zum Standort, zum Alter oder ob jemand Single sei. Der Originalton des Videos der Frau sei dann 130.000 Mal von anderen Usern verwendet worden; der Hashtag „Single“ habe zu dem Zeitpunkt 13 Milliarden Views verzeichnet, erzählt Kim Kaplan. „In dem Moment wusste ich, hier liegt eine massive Opportunity.“  

Nun ist es natürlich nicht so, dass die etablierten Player tatenlos zuschauen, wie ein paar Newcomer das Dating-Feld aufrollen. Aber es ist fast so; war es zumindest bis vor wenigen Tagen. Denn erst im Juni 2021 kündigte Branchenprimus Tinder an, Bewegtbild werde in der App künftig eine größere Rolle spielen. 

Tinder entdeckt die Gen-Z

„Video gibt der Gen-Z eine neue Möglichkeit, ihre authentischen Geschichten zu erzählen und repräsentiert die Entwicklung von Tinder zu einem multidimensionalen Erlebnis, das widerspiegelt, wie Dating im Jahr 2021 aussehen wird“, heißt es in der Mitteilung. Und ein bisschen klingt es danach, als wolle ein an totale Dominanz gewöhnter Marktführer dezent verschleiern, einen Mega-Trend in seiner eigenen Branche beinahe verschlafen zu haben und sich im Gegenteil als Innovator inszenieren.  

Nachdem Tinder vor einigen Monaten bereits Videos im Chat ermöglicht hatte, können Nutzer:innen der App nun auch ihre Profile um Clips ergänzen. Am übrigen Look der Dating-App ändert sich nichts

Nachdem Tinder vor einigen Monaten bereits Videos im Chat ermöglicht hatte, können Nutzer:innen der App nun auch ihre Profile um Clips ergänzen. Am übrigen Look der Dating-App ändert sich nichts. Quelle: Tinder

Das ganze erinnert ein wenig an ein Video, in dem Instagram-CEO Adam Mosseri neulich wortgewandt begründete, warum seine App künftig kein Ort mehr sein soll, an dem man Fotos teilt, sondern eine Unterhaltungsplattform, deren Zentrum Videos bilden. Zwar benennt auch Mosseri Tiktok nicht als Vorbild, erwähnt die App aber immerhin als starken Mitbewerber.  

Verändertes Verhalten der Nutzenden

Snack-CEO Kim Kaplan sieht tatsächlich eine Parallele zu Instagram: Vor ein paar Jahren sei Tinder die App gewesen, die den Status Quo zerschmettert habe. Doch seitdem sei eben viel Zeit vergangen, die Bedürfnisse der Kund:innen hätten sich verändert. „So wie sich unsere Instagram-Interaktionen von statischen Feed-Bildern zu Stories und Reels verschoben haben, sehnen sich die Menschen nach einer ähnlichen Erfahrung mit ihren Dating-Apps“, sagt Kaplan. 

Auch beim Pariser Dating-Startup Feels schauen sie genau, was Tinder macht – oder eben nicht. „Als wir vor drei Jahren über Feels nachgedacht haben, haben wir uns direkt gefragt: Was, wenn Tinder morgen dasselbe macht?“, sagt Daniel Cheaib. Nun ist dieser Worst-Case mit reichlich Verspätung eingetreten. Doch die Nachricht scheint den Gründer nicht nervös werden lassen. „Ich bin nicht sicher, ob es funktioniert“, sagt Cheaib. Die Leute hätten sich an die Funktionsweise von Tinder gewöhnt. 

Tinder dominiert auch bei jungen Menschen

Glaubt man den Zahlen der Match Group, hat Tinder allerdings ein gutes Argument, den Wettstreit um die Gen-Z letztlich für sich entscheiden zu können. Diese Altersgruppe mache mittlerweile über 50 Prozent der Nutzenden aus, schreibt Tinder in der Mitteilung zum Video-Update. Bei geschätzt 66 Millionen Nutzenden beträgt die Userzahl also schon vor der Einführung von Bewegtbild-Profilen ein Vielfaches dessen, was die Angreifer auf sich vereinen. 

Feels nennt auf seiner Website aktuell 150.000 User. Diese stammten zum größten Teil aus dem Heimatmarkt Frankreich, so Cheaib. Allerdings ist das Wachstum der App beeindruckend und verweist auf einen möglichen Hebel, wie sich die Newcomer behaupten können. Es habe drei Jahre gedauert, die ersten 50.000 Nutzenden zu erreichen, erklärt Cheaib. Für die nächsten 50.000 brauchten die Franzosen allerdings nur drei Wochen. Verantwortlich dafür war das bereits erwähnte Rebranding der App im April 2021. „Dein Produkt besteht aus den Features“, sagt Cheaib, „aber auch aus der Story, die du erzählst.“ 

„Die Anti-Dating-App“

Beim Launch der ersten Version ihrer App vor drei Jahren haben die Gründer eine Party geschmissen und ihre 500 Gäste gebeten, Feels auszuprobieren. So hatten sie am Beginn einen Altersdurchschnitt von 30 – „exakt unser Alter“, sagt Cheaib. Mit der Zeit hätten sie aber gemerkt, dass die App umso besser angenommen wird, je jünger die Nutzenden waren. Offensichtlich waren diese User eher bereit, Videos von sich zu teilen und den vergleichsweise langen Onboarding-Prozess abzuschließen. Nach und nach habe sich das Durchschnittsalter auf ihrer Plattform auf 25 reduziert, so Cheaib. Irgendwann hätten sie geahnt, dass ihre Zielgruppe nicht unbedingt Leute wie sie waren – vom Daumen hoch, Daumen runter bei Tinder Genervte – sondern eine ganz neue Generation. Also gingen sie all-in, änderten Design und Markenauftritt, positionierten Feels als „Anti-Dating-App“ neu. 

Natürlich gehe es um Dating, sagt Cheaib. Aber die Betonung von Interaktion und der Verzicht auf Matching hätten eine Wirkung gezeigt. Innerhalb von wenigen Tagen sei das Durchschnittsalter gefallen. Aktuell liege es bei 19 bis 20 Jahren. Auch die für die Attraktivität einer Dating-App extrem bedeutsame Balance zwischen Frauen und Männern sei mittlerweile deutlich ausgewogner. Laut Cheaib liegt sie bei 40 zu 60, was ein extrem guter Wert wäre. Dass sie sich getraut haben, das Branding ihres Produkts jüngeren Menschen zu überlassen, „das war vermutlich die beste Entscheidung, die wir je getroffen haben“, sagt Cheaib, der wie seine Mitgründer der Kohorte der Millenials entstammt. 

Erfahrung im Kosmos der Tinder-Mutter

Kim Kaplan hat ihre App von Beginn an auf die Gen-Z ausgerichtet. Eine Gruppe von Gen-Z-Techies und -Investoren hat sie bezüglich des Namens beraten und sie auf die Idee gebracht, als Logo eine Brezel zu nehmen. Snack ist nicht die erste Dating-Plattform, an der Kaplan mitwirkt. Vor Jahren hat sie Plenty of Fish mit aufgebaut, war für Produkt und Marketing verantwortlich. Unter ihr vervierfachte die Seite ihre Userzahl, der Umsatz stieg von zehn auf über 100 Millionen Dollar. Nach Übernahme von Plenty of Fish durch die Match Group im Jahr 2015 war Kaplan noch ein Weile für den Konzern tätig, wo sie unter anderem auch für Tinder gearbeitet hat. 

Sie weiß also, wie man Zielgruppen strategisch erschließt. In Fall von Snack bedeutet das: durch eine möglichst enge Verzahnung mit Tiktok. Auch wenn Kaplan derzeit noch keine validen Zahlen nennen kann, dürfte zum möglichen Erfolg ihrer App beitragen, dass Snack zu den ersten Partner-Apps gehört, die „Login with Tiktok“ nutzen. Darüber bekommen die User auch die Möglichkeit, ihre Tiktok-Videos direkt in die Dating-App zu übernehmen.  

Allerdings scheint der Aufbau von Sichtbarkeit für Dating-Brands auf Tiktok selbst nicht so einfach zu sein. Kurz vor dem Launch im Februar 2021 hat Snack auch einen eigenen Brand-Kanal auf der Plattform eingerichtet. Bislang hat der aber nur knapp über 4.300 Follower gefunden. Mit wenigen Ausnahmen erreichen die Clips hier allenfalls mittlere dreistelligen Views. Man wolle künftig verstärkt auf „Influencer Ambassadors“ setzen. So nennt Kaplan Creator wie Creed McKinnon, der „als eine Verlängerung des Marketing-Teams“ Content für den Kanals von Snack produziert.  

Auch Feels ist in sozialen Medien präsent. Mit dem Relaunch habe das Startup allerdings alle Aktivitäten auf Instagram eingestellt und konzentriere sich nun auf Tiktok, erklärt Daniel Cheaib. Eine junge Mitarbeiterin agiert auf dem französischen Profil als Gesicht der Marke. Bald 66.000 Menschen folgen dem Kanal. Diese im direkten Vergleich mit Snack hohe Zahl dürfte allerdings Folge des Umstands sein, dass Feels Werbung auf Tiktok schaltet. Über diesen Weg würden – neben neuen Followern – bis zu 40 Prozent des täglichen Wachstums von aktuell 1.500 Downloads am Tag generiert, so Cheaib. 

Anmeldungen aus Deutschland

Feels bespielt derzeit aktiv nur den französischen Markt, trotzdem meldeten sich regelmäßig neue User aus Deutschland an, so Cheaib. Diese würden die App aufgrund der wenigen deutschsprachigen Profile allerdings schnell wieder verlassen. Deutschland sei für die App ein potentielles Wachstumsfeld. Doch zunächst würden die Pariser ihren Heimatmarkt in den Fokus nehmen. Wichtiger als die Erschließung weiterer europäischer Länder, sagt Cheaib, sei ohnehin der angestrebte US-Launch. 

„Wenn du den Anspruch hast, Tinder und Bumble Marktanteile abzunehmen, musst du in die USA“, sagt Cheaib. Zum einen probierten Amerikaner mehr neue Apps aus und hätten im Schnitt vier Dating-Apps auf dem Smartphone. Zum anderen sei „die Aura“ einer in den USA erfolgreichen App größer, was eine Expansion in Europa und anderen Regionen der Welt wiederum erleichtern würde. 

Wann der US-Launch ansteht, kann Cheaib nicht sagen, das Ziel ist „mittelfristig“. Das Go dürfte zudem daran hängen, ob es den vier Gründern gelingt, mehr Wagniskapital einzusammeln als die bislang eingeworbenen 1,8 Millionen Euro. Das Geld stammt von den Gründern selbst und einer Handvoll Angel-Investoren. Unter anderem seien die Ex-Europachefin von Bumble sowie der französische Fußballprofi Blaise Matuidi bei Feels investiert, so Cheaib. 

Paid-Pakete spielen bislang keine Rolle

Das kostenpflichtige Premium-Paket von Feels, mit dem sich unter anderem zu bereits weggescrollten Profilen zurückehren oder die eigne Sichtbarkeit steigern lässt, dürfte vorerst keine Rolle spielen. Mit zehn Euro die Woche, monatlich 20 Euro, beziehungsweise 40 Euro für drei Monate sind sie für eine App, die auf die Gen-Z zielt, eher ambitioniert bepreist. Cheaib mag das mit Blick auf Tinders Preispolitik zwar nicht ganz teilen, tatsächlich spielten Abos derzeit aber kaum eine Rolle, bestätigt er. 

Am Ende wird über den Erfolg von Snack und Feels ohnehin etwas anderes entscheiden. Ihre Funktionalität und Branding müssen stark genug werden, um auch nach Tinders Einführung der Video-Funktion bei der Zielgruppe als die bessere Lösung zu gelten und so in der Gen-Z schneller wachsen zu können als der Marktführer. In den Augen von Daniel Cheaib wird allerdings noch ein anderer Faktor eine Rolle spielen: Auf ihn wirkten viele Dating-Apps wie ein Club in New York. Dort tummelten sich hübsche, aufgestylte Leute. Aber alles ist ein bisschen oberflächlich. Feels dagegen sei eher wie ein Club in Berlin. „Du musst ein bisschen kreativ sein“, sagt Cheaib, Dinge teilen, deine Persönlichkeit zeigen. Wer in diesem Club eine grandiose Nacht haben will, muss mehr draufhaben als nur gut auszusehen. Früher hätte man wohl gesagt: zu cool für Tinder sein. 

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Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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