Wie Snapchat zur Größe im Fashion-E-Commerce werden will
Spezielle Profile für Marken, neue Shopping-Features, Millionen-Investments in Augmented Reality: Was plant die Social-Media-App?
- Alle Plattformen setzen auf E-Commerce
- Heimat für Legacy-Marken und DTC-Newcomer
- Von der Dickpic-App zur Shoppingmall
- AR-Ambitionen verschlingen Millionen
- Der kommende Hype um die AR-Brillen
- AR-Shopping und virtuelle Popup-Stores
- Übernahmen im Fashion-Sektor
- Steigerung der Kaufwahrscheinlichkeit um den Faktor 2,4
- Erlebnisse in immersivem 3D
4,4 Billionen Dollar beträgt die Kaufkraft der „Generation Snapchat“ – sagt Snap. Mit der gigantischen Zahl buhlt das Unternehmen hinter der in Deutschland oft übersehenen, bei US-Teenies nach wie vor extrem beliebten App gerade um Werbekunden. Dabei sieht es so aus, als ob Snap künftig nicht mehr nur Werbung verkaufen will, sondern selbst zum E-Commerce-Player werden möchte. Was konkret dahinter steckt, wird erst nach Snaps Developer-Konferenz im Mai klar sein. Doch schon jetzt häufen sich Indizien. OMR fasst zusammen, welche Aktivitäten der Plattform in Richtung E-Commerce weisen, und erklärt, mit welchem technologischen Ansatz Snap seinem Ruf als Social-Media-Company mit wegweisenden Innovationen endlich wieder einmal gerecht werden könnte.
Alle Plattformen setzen auf E-Commerce
Das Thema E-Commerce ist durch die vergangenen Pandemie-Monate bei allen großen Plattformen auf der Prioritäten-Liste nach oben gerutscht: Tiktok hat die Integration von Shopify angeschoben und pusht das Thema Live-Shopping. Auf dem Heimatmarkt China werden damit bereits Millarden umgesetzt. Facebook hat im Laufe des vergangenen Jahres auf seinen Plattformen gleich mehrere Shopping-Features live geschaltet – wenn auch mit offenbar eher durchwachsenem Erfolg.
Bei Snap erschöpfte sich das Thema Shopping in der Vergangenheit eher in Experimenten, Show-Cases und Nischenlösungen. Mal wurde ein Feature gelauncht, über das Snapchat-User Produkte auf Fotos direkt bei Amazon ordern können, mal mit Adidas ein Baseball-Spiel in der App veröffentlicht, über das sich Sneaker kaufen ließen. 2018 launchte das Unternehmen einen eigenen In-App-Shop, um darüber Strandtücher, Plüschgespenster und anderen Snapchat-Merch zu verhökern.
Doch parallel zu diesen eher auf Buzz als auf Business zielenden Projekten hat Snap kontinuierlich eine Infrastruktur aufgebaut, die auf E-Commerce zugeschnitten ist. Beispielsweise, indem die Amerikaner die von der chinesischen Allround-App WeChat bekannten „Mini“-Programme geklont haben. Durch diese Apps in der App wird vermieden, dass die User für den Shopping-Prozess auf eine externe Website oder App wechseln müssen. Im vergangenen Jahr sollen über Mini-Programme bei WeChat umgerechnet rund 250 Milliarden Dollar umgesetzt worden sein.
Heimat für Legacy-Marken und DTC-Newcomer
Mitte des vergangenen Jahres führte Snap sogenannte „Brand Profiles“ ein; zunächst für ausgewählte Werbekunden und nur in den USA. Dort können Sie an einem zentralen Ort ihre Content-Highlights und von ihnen erstellte „Lenses“ – AR-Filter, mit denen sich Gesichter verändern oder Objekte im Raum platzieren lassen – versammeln. Außerdem gibt es durch eine Partnerschaft mit Shopify die Möglichkeit, dass die Unternehmen in der App einen eigenen Shop mit ihren Produkten erstellen.
Mit den Brand Profiles wolle Snap großen Marken und aufstrebenden DTC-Anbietern ein „dauerhaftes Zuhause“ in der App bieten, erklärte Snaps Chief Business Officer Jeremi Gorman beim Investorentag im vergangenen Februar. Diese Werbekunden investierten in Content und Werbung auf der Plattform, ihre Erwartung sei darum, dass sie „einen Dollar hineinstecken und mehr als einen Dollar herausbekommen“, so Gorman. Das klingt nach: Weg vom Buzz, hin zum Business. Snap will mehr sein als die Plattform für die spektakulären – und entsprechend kostspieligen – Show-Cases und Drops experimentierfreudiger Marken. Es geht um dauerhafte Partnerschaften, während Snap es zugleich den Usern so einfach wie möglich macht, ihr Geld direkt in der App bei diesen Marken auszugeben.
Von der Dickpic-App zur Shoppingmall
Beim Launch von Snapchat vor bald zehn Jahren war nicht wirklich abzusehen, dass die App einmal zur Shopingmall werden könnte. Die App hatte ein User-Interface, das Personen jenseits des Teenager-Alters zur Verzweiflung trieb. Und die zentrale Innovation, gepostete Fotos nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden zu lassen, brachte Snapchat schnell den Ruf ein, in erster Linie ein Tool zum Versenden von Dickpics zu sein. Trotzdem – oder deswegen – wuchs die Plattform rasant. Darum waren Übernahmeangebote nur eine Frage der Zeit. Marc Zuckerberg wollte den aufstrebenden Konkurrenten zwei Jahre nach dem Start kaufen – für damals absurd erscheinende drei Milliarden Dollar. Noch absurder war, dass Snapchat-Gründer Evan Spiegel das Angebot ausschlug.
Spiegels Eigensinnigkeit und Selbstvertrauen sind legendär. Statt im Silicon Valley, siedelte er sein Startup in Venice Beach an. Das Image seiner Firma und die Coolness der Produkte waren ihm immer wichtiger als alles andere. Und vermutlich wäre auch niemand sonst auf die Idee gekommen, das erste, mit Millionenaufwand entwickelte Hardware-Produkt des Unternehmens anfangs ausschließlich über Automaten zu verkaufen, die ohne Vorankündigung irgendwo zwischen L.A. und Berlin aufgestellt wurden. Wobei, vielleicht würde Spiegel diese Idee in der Rückschau doch überdenken.
AR-Ambitionen verschlingen Millionen
Denn der erwartete Hype um die Spectacles-Sonnenbrillen, mit denen sich Videos aufnehmen und automatisch ans Smartphone senden und dann posten ließen, blieb aus. Zwar gab es die Kamera-Brillen irgendwann bequem online zu kaufen, doch nur sehr wenige Kund*innen wollten sie haben. 2017 musste Snap 40 Millionen Dollar für nicht verkaufte Spectacles abschreiben. Was Spiegel allerdings nicht an der grundsätzlichen Idee einer Kamera-Brille zweifeln ließ. Trotz des fulminanten Fehlstarts des im September 2016 eingeführten, unverkäuflichen Urmodell folgten bis heute zwei weitere Versionen (und genauso viele Neubesetzungen der Head-of-Hardware-Position bei Snap). Die aktuelle dritte Iteration kann mittlerweile sogar HD-Videos in 3D aufnehmen.
Mit einem Verkaufspreis von 370 Euro und einem Design, das dem Träger einen gewissen Hang zur Exzentrik abverlangt, sind die Spectacles noch immer kein Produkt für den Massenmarkt. Doch das könnte sich demnächst ändern. Nach Informationen des bezüglich Snap stets sehr gut unterrichteten US-Tech-Nachrichtenportals „The Information“ soll das Unternehmen an der vierten Spectacles-Generation arbeiten. Und die könnte endlich das Feature bringen, das aus der Kamerabrille ein Killer-Gadget macht: Augmented Reality. Die Gläser der Brille fungieren zugleich als Displays, in denen reale Welt und virtuelle Inhalte vor den Augen des Trägers verschmelzen.
Der kommende Hype um die AR-Brillen
Snap ist nicht die einzige Tech-Company, die an einer massentauglichen AR-Brille arbeitet. Bei Facebook sollen sich 10.000 Mitarbeiter*innen – ein Fünftel der Belegschaft – mit den Themen VR und AR befassen, Google hat gerade einige Jobs ausgeschrieben, die auf die Entwicklung einer AR-Brille hindeuten, und Apple wird schon länger als das Unternehmen gehandelt, dem es gelingen könnte, so ein Gadget vielleicht nicht für jeden bezahlbar, aber doch begehrenswert zu machen.
Snap ist jedoch die einzige Firma, die das Thema AR seit Jahren konsequent vorantreibt und zum Mittelpunkt seiner Ad-Produkte und zunehmend auch E-Commerce-Ambitionen gemacht hat. 2018 launchte die Plattformen ein „Shoppable AR“ genanntes Produkt, das Lenses mit einem „Shop-Now“-Button verknüpft. So konnten die Nutzenden erstmals unterstützt von AR-Gimmicks Adidas-Sneaker kaufen oder Pizza bestellen, ohne die App verlassen zu müssen.
AR-Shopping und virtuelle Popup-Stores
Neben Face-Lenses für das Gesicht und World Lenses, die das mit der Frontkamera des Smartphones aufgenommene Bild um virtuelle Objekte erweitern, gibt es bei Snapchat auch sogenannte Portal Lenses, über die die Nutzenden der App virtuelle Räume betreten können. Im Februar 2019 eröffnete Lego Wear, die Fashion-Linie des Spielzeugherstellers, über diese Funktionen einen kompletten Popup-Store (Case-Study), den Kund*innen nur über Snapchat betreten und dort nur über den „Shop Now“-Button einkaufen konnten.
Weniger spektakulär aber deutlich wegweisender für das Thema Shoppable-AR war dann im Juni 2020 eine Kooperation von Snap mit Wanna, der Firma hinter Wanna Kicks, einer App für virtuelle Try-Ons von Schuhen. Für eine „Shoppable AR“-Kampagne des Luxuslabels Gucci verknüpfte Snap erstmals die Möglichkeit, einen Schuh über die App virtuell in Echtzeit auf dem Display „anzuprobieren“ und dann direkt das reale Produkt zu bestellen. Die Gucci-App bot dieses Feature schon länger ebenso wie die zugrundeliegende App Wanna Kicks. Doch dank Snap erreichten virtuelle Try-ons erstmals eine signifikante Audience außerhalb von Luxus- und Sneaker-Nischenzielgruppen.
Übernahmen im Fashion-Sektor
Der nächste Schritt dieser Entwicklung ist absehbar: Nach Schuhen, Sonnenbrillen und Hüten können Snapchats User*innen demnächst wohl auch Kleidung virtuell anprobieren und die realen Produkte in der App kaufen. Zu entsprechenden Plänen wollte sich das Unternehmen auf Anfrage von OMR nicht vor dem für den 20. Mai terminierten „Partner Summit“ äußern. Doch die Indizien deuten klar in die Richtung, dass Snapchat im nächsten Schritt zu einer E-Commerce-Plattform für Fashion ausgebaut wird.
Mitte Mai 2021 bestätigte Snap die Übernahme des Berliner Unternehmens Fit Analytics. Das Startup hat ein Tool zur Ermittlung von Kleidergrößen entwickelt, das mittlerweile bei 18.000 Retailern im Einsatz ist, darunter große Namen wie The North Face, Asos, Calvin Klein, Patagonia und Puma. Fit Analytics mit seinen 100 Mitarbeitenden soll weiter unabhängig operieren. Wichtigstes Ziel der neuen Snap-Einheit dürfte künftig allerdings die Integration des Tools in die Social-Media-Plattform sein.
Ins Bild passt auch eine weitere Übernahme, die vor wenigen Tagen publik geworden ist. „The Information“ meldete , Snap habe das oft als „Shazam für Bekleidung“ umschriebene Startup Screenshop gekauft. Es heißt, Snap werde auf der Entwicklerkonferenz im Mai ein neues Feature launchen, das auf Screenshop basiert. Konkret werde es im Bereich der App, wo Nutzer*innen ihre Fotos und Videos ablegen, die Möglichkeit geben, sich automatisch generierte Shopping-Empfehlungen geben zu lassen, die auf den eigenen Aufnahmen basieren.
Steigerung der Kaufwahrscheinlichkeit um den Faktor 2,4
Wie weit der Weg von dort zu AR-Try-ons der empfohlenen Produkte ist, das muss sich zeigen. Zumindest gibt es gute Argumente, ihn schnell zu gehen. Auf Snaps jüngstem Investorentag erklärte ein Produktmanager nicht nur, dass virtuelle Try-ons die zentrale Rolle in der Shopping-Strategie des Unternehmens spielen. Er berichtete auch von Beta-Tests, die ergeben hätten, dass AR-Anproben die Kaufwahrscheinlichkeit um den Faktor 2,4 steigern.
Vermutlich wird Snap mit der vierten Spectacles-Generation nicht auch noch gleich die Revolution des Modekaufs als AR-Experience vorstellen. Doch selbst wenn Evan Spiegel und seine Leute das kommende Modell erneut weitgehend unverkauft werden einstampfen müssen, es wird ein Nachfolgemodell der Spectacles geben. Denn die AR-Brille ist das zentrale Versprechen, das Snap seinen Geldgebern auf dem jüngsten Investorentag gegeben hat. Neben einer erfreulichen Entwicklung der User-Zahlen und einer verringerten Cash-Burn-Rate hatte die Vision einer AR-Shopping-Plattform einigen Anteil daran, dass Snaps Aktienkurs in den Stunden nach dem Event um mehr als 20 Prozent in die Höhe schoss.
Erlebnisse in immersivem 3D
Das derzeit wachsende Interesse für das Thema AR auf dem Smartphone sei „ein Ausgangspunkt, um sich AR jenseits des Mobiltelefons vorzustellen“, verkündete Bobby Murphy, Snap-Mitgründer und CTO beim vergangenen Investorentag. „Im Laufe der Zeit werden die gleichen Linsen, die wir bereits auf den heutigen Smartphones sehen (…) in der Lage sein, in vollem, immersivem 3D erlebt zu werden.“ Als erste der möglichen Anwendungen nannte Murphy: „neue Outfits shoppen“.