r.h. sin: Wie es ein Typ mit Instagram-Lyrik auf Amazons Bestseller-Liste geschafft hat

Eine Million User lesen die Gedichte im Visual-Statements-Stil

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Tättowierung eines r.h. sin Fans (Foto: r.h. sin auf Instagram)

Ein Dichter, der in der heutigen Zeit mehrere Hunderttausend Bücher verkauft? Reuben Holmes, alias r.h. sin, hat obwohl – oder vielleicht auch gerade weil der digitale Medienkonsum immer noch zunimmt, eine erfolgreiche Autorenkarriere aufgebaut. Ob seine Werke hohe Kunst oder doch eher seichte Erbauungslyrik in Häppchenform sind, ist Ansichtssache. Sicher ist: Ein großer Teil des Erfolges dürfte auf der cleveren Vermarktung durch den US-Dichter selbst fußen. Wir zeigen, wie sie funktioniert. „So viele starke Frauen haben als gebrochene Mädchen begonnen“ – 338.000 Likes. „Du hättest sie lieben sollen, als es ihr noch wichtig war.“ – 153.000 Likes. „Verschwende niemals Deine Zeit, Liebe oder Energie an einen unsicheren Mann.“ – 102.000 Likes. Mit „Gedichten“ wie diesen hat Reuben Holmes eine Reichweite von mehr als einer Million Followern bei Instagram aufgebaut. 

 

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you are not your past | you are far more greater than whatever or whoever attempted to break you down

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Zielgruppe: Die unzufriedene Frau

Der Look seiner Posts ist immer relativ ähnlich: Wenig Schrift, so dass die Nutzer die Beiträge, wenn sie durch ihre Feeds wischen, schnell erfassen können. Viel Weißfläche, die den wenigen auf ihr arrangierten Wörtern zusätzliches Gewicht verleihen zu scheint: Poesie im Visual-Statements-Stil. Visual Statements waren lange Jahre ein Trick, mit denen Seitenbetreiber bei Facebook Reichweite aufgebaut haben. Weil bei Bildern die Wahrscheinlichkeit größer wahr, organische Sichtbarkeit zu erzielen, packten die Publisher einfach ihre Schriftinhalte in ein Bild. Mittlerweile haben sich Visual Statements als Stilmittel etabliert – auch auf anderen Social-Media-Plattformen.

Die Vermutung, dass ein Großteil von Holmes‘ Followern weiblich ist, ist durchaus legitim. Denn Holmes wendet sich in seinen Werken doch überwiegend an Frauen – und zwar offenbar vorrangig an jene, die mit ihrem Beziehungsleben allgemein oder speziell ihrem Partner unzufrieden sind. „Ich wollte einfach die Chance haben, zu jenen Frauen zu sprechen, die so sind, wie jene, die ich mein ganzes Leben über kennengelernt habe. Die alle mit etwas kämpfen, die alle etwas durchleben. Meine Kunst, meine Poesie ist mein Weg, all diesen starken Frauen, die mich inspiriert oder mir dabei geholfen haben, ein besserer Mensch zu werden, etwas zurückzugeben“, heißt es auf seiner Website.

Start als Viral-Twitterer

Mit dieser Zielgruppenausrichtung hat Holmes es zeitweilig auf die Bestsellerlisten von Amazon und Barnes & Noble, der größten Buchhandelskette der USA, geschafft. Er ist hauptberuflich „Instapoet“: Bis zum vergangenen November hatte der 27-Jährige mehr als 300.000 Bücher verkauft, wie er zum damaligen Zeitpunkt gegenüber Quartz erklärte. 

" ALGEDONIC " is officially in the top 100 at Barnes & Noble, this is my 7th best selling book in less than 2 years and I just want to say thank you for helping me get to this place, this moment, these accomplishments. I work so hard, nonstop. this feels good!

— r.h. Sin (@byRHSin) December 6, 2017

Lange hat sich Holmes offenbar mehr oder minder durchs Leben geschlagen: 2006 schließt er die Schule ab, verspürt aber wenig Lust, wie seine Freunde zur Uni zu gehen und sich zu verschulden, wie er einer Reporterin des New Yorker erklärte. Als im selben Jahr Twitter online geht, fängt er an, dort mehrere Accounts aufzubauen. Der erfolgreichste: „I Tweet Facts“, mit dem er „erstaunliche Fakten“ twittert und mehrere Hunderttausend Follower aufbaut. Mit einem Job beim Discounter Target hält er sich finanziell über Wasser. 

despite what you may think, I am no where close to being perfect. I have my flaws, I’ve made my mistakes but one thing I’m truly proud of is my ability to devote my life, my energy, my attention and love to one woman. I need you to understand that they want you to believe that everything you’re asking for or expecting from your significant other is somehow impossible. They want you to think that you’re asking for too much and this is why so many of the women who are reading this have either settled or are in a relationship with someone who doesn’t even represent the type of relationship you say you want. For 1,140 days I’ve been completely honest, transparent, devoted, faithful and supportive in terms of my relationship with the woman who is now my wife. From the beginning of our relationship to this very moment, I’ve consistently chosen this ONE WOMAN with every decision I’ve ever had within our relationship. I say this because there is someone out there reading these words thinking that a good man or significant other doesn’t exist. There is someone reading this while entertaining a relationship with someone who isn’t choosing them. Someone who isn’t supportive, someone who isn’t reliable or trustworthy. I know I’m not the only capable of being loyal and or 100% committed to a relationship because there are so many loyal souls reading these words right now. If I can do it, so can the person you’ve decided to be with and if all they offer is excuses…if all they ever do is refuse to choose only you…then it’s time to move on because something better awaits you. Love yourself and if you want to, if you decide to….only give that love to the person who is willing to prove time and time again that they deserve you. – Sin | photo taken by @samantha.king #portraitphotography #portraitmood #portraits #shotoniphone

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Sprüche statt Fakten

Später landet er bei Speakr, einer Firma, über die Werbetreibende Posts auf Accounts von Influencern und anderen Betreibern reichweitenstarker Social-Media-Accounts kaufen können. Dort lernt er das „Social-Media-Handwerk“: „Ich habe gelernt, die Nutzer zu verstehen – und wie viel Arbeit es ist, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.“ Weil er sich auf seinen eigenen Twitter-Accounts darüber ärgert, dass immer häufiger andere Accounts seine Posts klauen, fängt er an, sich Sprüche auszudenken. Ein Beispiel: „Die Psychologie sagt, du hast nicht Angst davor, zu lieben, du hast Angst davor, nicht geliebt zu werden.“ Holmes ist zu dieser Zeit in einer unglücklichen Beziehung. Dieser Umstand, und sein schlechtes Verhältnis zu seiner Mutter, prägen seine „Epigramme“.

Offenbar merkt er, dass diese Art von Inhalten in Social Media auch gut funktionieren: Er nimmt den Künstlernamen r.h. sin an („sin“ beziehe sich auf den „mesopotamischen Gott des Mondes“, wie er gegenüber dem New Yorker erklärt – er schreibe oft nachts). Auch seinen Twitter-Handle ändert er in „byRHSin“ und übernimmt mit diesem die Follower von „I Tweet Facts“. Bald fängt er an, seine Gedichte bei Instagram crosszupromoten. Endes des Jahres 2014 wird Twitter in puncto Nutzerzahlen von der Bilderplattform überholt.

So funktioniert das Engagement Baiting

Die Methoden, mit denen er seine Reichweite auf Instagram auf- und ausbaut, hat er vermutlich bei Speakr gelernt. Es sind die typischen Hebel, die auch andere Social-Publisher bedienen: Holmes ist sich nicht zu schade, seine Follower explizit dazu aufzufordern, seine Inhalte zu teilen oder andere Nutzer in seinen Posts zu taggen. Das funktioniert offenbar gut: Seine „Gedichte“ lesen sich oft wie ein Ratschlag, den eine gute Freundin erteilt („Wenn er Dich nicht zu schätzen weiß, ist er deiner nicht wert!“) – also markieren häufig Frauen ihre Freundinnen unter den Bildern.

Dazu kommen weitere „Engagement Baiting“-Methoden. So postet er häufig ein „Mini Game“: Die Nutzerinnen sollen ihren Namen posten und der zuvor Kommentierenden ein Kompliment machen. Bis zu 10.000 Kommentare generieren einzelne dieser Posts. Oder er bittet seine Leserinnen, ihm mitzuteilen, was sie im Jahr 2017 gelernt haben.

this is a hate free zone | all good things

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Never change a winning poem

Gedichte und Statements, die besonders viele Likes einsammeln, postet er im Abstand von einigen Wochen oder Monaten immer wieder: Sätze wie „so many strong women began as broken girls“, „you can be Queen with no king“ und „you’re to good for someone who isn’t sure about you“ scheinen seinen Leserinnen besonders aus den Herzen zu sprechen.

Wer bei Facebook nach Posts zu r.h. sin sucht, stößt auf diverse reichweitenstarke Viralseiten, die Statements von Holmes‘ Alter Ego gepostet haben. Schon im Jahr 2015 posten beispielsweise „A Gentlemen’s Lounge Club“ (243.000 Fans) und „Lessons Learned in Life Inc.“ (14,6 Millionen Fans) „Visual Poems“ von r.h. sin. Teilweise generieren diese dabei fünfstellige Sharing-Zahlen, wie beispielsweise die Facebook-Seite „Evolver Social Movement„. Auch Influencer posten vereinzelnt Gedichte von Holmes. India Love, in den USA ein Tumblr-Promi, Model und zeitweise auch Reality-TV-Star, zitiert und verlinkt r.h. sin mehrfach in Instagram-Posts.

Eingekaufte Posts bei alten Kollegen

Ob diese Beiträge auf der eigenen Motivation der jeweiligen Betreiber gepostet wurden, oder ob Holmes dafür bezahlt hat, ist von außen nicht zu erkennen. Über gute Kontakte zu Social-Media-Publishern dürfte der Instagram-Dichter aus seiner Zeit bei Speakr jedenfalls verfügen. Und das Unternehmen „The Good Media Agency“, das vier Zitat-Accounts bei Instagram betreibt (der größte von ihnen mit elf Millionen Followern) und diese Reichweite auch verkauft, führt r.h. sin als Referenz an: 700.000 Likes habe das Unternehmen für den „Instapoet“ generiert.

Im Dezember 2015 veröffentlich r.h. sin sein erstes Buch: „Whisky, Words, and a Shovel“. Bis heute sammelt es 439 Reviews bei Amazon und 3.500 Bewertungen auf dem Buchbewertungsportal Good Reads. Mit seinem Verlag ist Holmes offenbar unzufrieden: Im Juni 2016 erscheint bereits das zweite Buch, in einem anderen Verlag. In kurzen Abständen folgen sechs weitere Werke.

Mit einem cleveren Manöver in die Bestseller-Liste

Den Absatz der Bücher treibt Holmes ebenfalls über seine Social-Media-Accounts an. Er retweetet bei Twitter Follower, die ihr gekauftes Exemplar zeigen, die darüber schreiben, wie seine Lyrik ihnen geholfen hat, oder sogar ein Foto mit einer Tättowierung mit einem seiner Zitate posten. Auf Instagram animiert er sogar mit einem Gewinnspiel zu diesem Verhalten. Außerdem informiert er seine Follower über Rabatt-Aktionen, oder darüber, wenn ein Buch ein neues Cover bekommt – denn die Ausgabe mit dem alten Cover könne „ja möglicherweise ein Sammlerstück“ werden.

tag either @r.h.sin or @samantha.king to be featured | let your creativity shine. #bookstagram

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Im November veröffentlicht er „I hope this reaches her in time“, eine neue Zusammenstellung von bereits veröffentlichten Gedichten im Eigenverlag, für knapp vier US-Dollar bei Amazon. Beim Marktplatzgiganten stößt er damit in den USA in die Top 10 der Bestseller-Liste vor und dürfte so zusätzliche Aufmerksamkeit, Bekanntheit und vielleicht sogar zusätzliche Sales generiert haben. Auf seinem Instagram-Account bezeichnet er sich als „#1 Best Selling American Poet“. Der Link, mit dem Holmes‘ auf seinen Accounts auf sein neuestes Buch im Online-Shop von Barnes & Noble verweist, ist innerhalb eines Monats rund 20.000 Mal angeklickt worden

Eine neue Generation von Lyrik?

Holmes ist Teil einer ganzen Generation von „Instapoets“: Zu diesen gehören neben seiner Frau Samantha King, die ebenfalls Bücher veröffentlicht, vor allen Dingen Dichterinnen wie Rupi Kaur, die es auf die Bestseller-Liste der New York Times schaffte und deren Bücher in mehrere Sprachen übersetzt worden sind, sowie Lang Leav und Amanda Lovelace. Sie alle eint die visuelle Aufbereitung der Gedichte im Visual-Statements-Stil und die Nutzung von Social Media für den Aufbau einer Leserschaft. 

So produktiv wie Holmes dürften aber nicht alle von ihnen sein: 7.222 Wörter schreibt r.h. sin pro Tag, wie er gegenüber dem New Yorker erklärte. Für dieses Jahr hat er bereits zwei weitere Bücher angekündigt. Am Ende ihres vierstündigen schriftlichen Interviews erkundigte sich die Journalisten des New Yorkers, ob und wie viele Gedichte er nebenher verfasst habe: Es waren elf.

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Roland Eisenbrand
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Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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