Wie Fake-Crime-Creator mit inszenierten Entführungen und Verschwörungstheorien abkassieren

So läuft das Geschäft mit den falschen Verbrechen

Quelle: Tiktok/Bebopandbebe
Das Mutter-Tochter-Duo Bebop und Bebe aus Georgia, USA. Quelle: Tiktok/Bebopandbebe

Ob Podcast, Youtube-Serie oder Print-Magazin: Millionen von Menschen lassen sich regelmäßig von True-Crime-Content begeistern. Doch der Hype um die düsteren Machenschaften hat auch seine Schattenseiten. Es geht um Influencer, die im Verdacht stehen für Views ihre eigene Entführung oder den Missbrauch vorzutäuschen. Um Internet-Detektive, die Verschwörungstheorien streuen und dann abkassieren. Und um Social-Media-Plattformen, die tatenlos dabei zusehen, wie ihr Algorithmus Fakes und Gerüchte immer mehr verbreitet. OMR gibt einen Einblick in das Ökosystem der Fake Crime Creator.

Wenn Tiktokerin Bebe vor ihrer fliederfarbenen Wand sitzt, auf dem Kopf einen Haarreif mit weißen Hasenohren, in die Kamera spricht und sich dabei mit den Fingern immer wieder aufgeregt durchs wasserstoffblonde Haar fährt – ist das dann ein Hinweis oder nur Zufall? Immerhin flatterten kurz zuvor unzählige sorgenvolle Aufrufe über den Bildschirm: „Wenn du in Gefahr bist, streiche dir durch’s Haar“, kommentieren die Zuschauenden des Tiktok-Livestreams. Während Bebe sich durch’s Haar fährt, spricht sie weiter freundlich in die Kamera. Von Gefahr oder gar Gewalt, die ihr widerfährt? Kein Wort.

Im Zentrum der Spekulationen

Das US-amerikanische Mutter-Tochter-Gespann Bebop und Bebe, deren bürgerliche Namen nicht eindeutig belegt sind, zählt zu den erfolgreichsten Influencerinnen auf Tiktok. Fast fünf Millionen Menschen folgen ihrem Account. Ihre Videos, in denen sie oft singend und tanzend zu sehen sind, werden teilweise bis zu 60 Millionen Mal aufgerufen. So weit ein gewöhnliches Unterfangen. Wären da nicht die unzähligen bizarren Verschwörungstheorien, die sich um die beiden Influencerinnen aus Georgia ranken.

Mittlerweile finden sich auf Plattformen wie Youtube, Instagram, Tiktok oder Reddit tausende Videos und Beiträge, in denen eine Schar selbst erkorener Drehsessel-Detektive ihre Theorien rund um Bebop und Bebe verbreiten. Manche davon besagen, es handele sich bei den Beiden um Opfer von Menschenhändlern. Andere sind überzeugt, der Bruder der Mutter habe die Beiden entführt. Und wiederum Andere glauben, es handele sich bei ihnen um die verschwundene Aranza Maria Ochoa Lopez, die 2018 von ihrer Mutter Esmeralda Lopez-Lopez in einer Einkaufshalle in Washington entführt wurde.

Fake Crime hat Tradition

Fakt ist: Die Existenz der Verschwörungstheorien sind kein Zufall. Denn Bebop und Bebe stehen im Verdacht Straftaten vorzutäuschen, um Reichweite zu generieren. Und damit sind sie längst nicht die Einzigen. Die Masche hat Tradition. Schon 2016 steht die britische Beauty-Influencerin Marina Joyce im Verdacht, sich falsche blaue Flecken geschminkt, „save me“ in einem Video geflüstert und ihre eigene Entführung vorgetäuscht zu haben. Der Hashtag #savemarinajoye trendete damals weltweit auf Twitter, Joyce erhielt enorme mediale Aufmerksamkeit. Echte Anzeichen für ein Verbrechen fand die Polizei nie.

In Tiktok-Videos der russischen Influencerinnen Mimikliff und Innkastar, 12 Millionen Follower, tauchte eine Zeit lang regelmäßig das von der Canadian Women Foundation ins Leben gerufene Handzeichen für häuslichen Missbrauch auf. Und Kate Yup, eine dem Anschein nach französische Youtuberin, übermittelte über auffällige Buchstaben in den Bauchbinden ihrer Videos ihren Fans die Botschaft “HELP ME”.

Und tatsächlich finden sich auch in den Videos von Bebop und Bebe zahlreiche mysteriöse Hinweise. Mehrfach zeigen sie das Notfallhandzeichen für missbräuchliche Gewalt. Kommentiert ein User mit „Zieht orange-weiß an, wenn Ihr in Gefahr seid“, trägt Mutter Bebop im nächsten Video ein orange-weißes Kleid. Die beiden Social-Media-Stars machen die Gerüchte rund um ihre eigene Entführung sogar immer wieder zum Stoff ihrer Videos: Einmal ist beispielsweise zu sehen, wie die Tochter Bebop durch einen Türspalt Zahnbürste, -pasta und andere Utensilien gereicht bekommt – so, als ob sie entführt und gerade nur mit dem Nötigsten versorgt werden würde.

900.000 Follower:innen in 30 Tagen

Die Folge: Auf Tiktok spulen Millionen von Menschen immer wieder zu denselben Stellen mit den vermeintlichen Hinweisen. Sie liken, teilen, rätseln, tauschen sich in den Kommentarspalten über ihre Funde aus. Und sagen dem Algorithmus damit, dass es sich lohnt, die scheinbar so beliebten Videos in immer mehr Feeds zu spülen. Laut dem Analysetool Infludata wurden die Videos von Bebop und Bebe seit ihrem ersten Post vor einem Jahr bisher 1,6 Milliarden Mal angesehen. Jedes der 24 jüngsten Videos ging viral, was bedeutet, dass es überdurchschnittlich vielen Zuschauenden außerhalb der eigenen Followerschaft angesehen wurde.

Allein in den vergangenen 30 Tagen sind so mehr als 900.000 Follower:innen zu dem Account hinzugekommen. Selbst die unzähligen Kurzvideos der Hobbydetektive kommen binnen kürzester Zeit auf über 30 Millionen Views. Längst ist bei der Vielzahl der Videos nicht mehr klar, welche Hinweise von dem Influencerinnen-Duo möglicherweise gezielt eingesetzt oder nachträglich von Anderen manipuliert wurden – oder ob es sich am Ende nicht nur um hysterische Überinterpretationen besorgter Fans handelt. Auch haben sich Bebop und Bebe nie öffentlich zu den Gerüchten geäußert, obwohl ihnen diese kaum entgangen sein können.

Internet-Detektiv kontaktiert Vermisstenfamilie

Einer, der von solchen Verschwörungstheorien ebenfalls profitiert, ist der österreichische Youtuber Patrick K. Eigentlich ist K. laut eigener Aussage Videoproduzent in Teilzeit für eine öffentliche Bildungseinrichtung in Österreich. K. fürchtet berufliche Nachteile, seinen vollen Namen will er deshalb nicht für diesen Artikel preisgeben. Er betreibt den Youtube-Account Mythenakte mit fast 500.000 Abonnenten, eine Art X-Faktor für Youtube. In seinen Videos recherchiert er Fälle scheinbar mystischer Ereignisse nach, wie etwa UFO-Sichtungen, angebliche Zeitreisen – und natürlich den vermeintlichen Missbrauch von Influencerinnen wie Bebop und Bebe.

K. vertritt die These, dass es sich bei den Beiden um die seit 2015 vermisste Amerikanerin Kathryn Baldwin und ihre Tochter Ava Baldwin handelt – eine beliebte Verschwörungstheorie, von der in diversen Internet-Foren immer wieder zu lesen ist. In gleich vier Videos legt er den Fall dar, anhand von Hinweisen, die er drei drei Monate lang im Internet gesammelt hat. Hinweise, die er später für so eindeutig hält, dass er sich damit nicht nur an die für den Fall zuständige Polizeibehörde in San Antonio, Texas, wendet, sondern sogar die Familie der seit 2015 vermissten Ava kontaktiert.

Den entscheidenden Beleg zu dem Fall liefern weder K. noch andere Verschwörungstheoretiker. Die Tante der verschwundenen Ava bestätigt in einem Facebook-Beitrag zwar eine Ähnlichkeit zwischen der Influencerin Bebop und ihrer entführten Nichte. Allerdings glaubt selbst sie nicht, dass es sich bei dem berühmtem Tiktok-Duo um ihre Schwägerin und deren Tochter handelt – das Alter ihrer Nichte passe nicht mit dem Aussehen des jungen Tiktok-Stars zusammen.

Kein Platz für die Wahrheit

Dennoch, die Spurensuche lohnt sich für K. Die Videos über das mysteriöse Tiktok-Duo Bebop und Bebe kommen zusammen auf rund 140.000 Aufrufe. Ein ähnliches, zwei Jahre zuvor veröffentlichtes Video, in dem er vermeintliche Beweise für den Missbrauch der Hilfebotschaften versteckenden Youtuberin Kate Yup sammelt, verzeichnet bisher rund 420.000 Aufrufe. Über Werbeeinnahmen verdient K. mit seinem Youtube-Account laut eigener Aussage einen vierstelligen Betrag im Monat.

Seine Recherche betreibt K. zumeist alleine vom Bürostuhl aus. Er beginnt bei Google, wühlt sich durch Foren, folgt verworrenen Klickpfaden. Hat er genug Fragen aufwerfende Details gesammelt, fügt er diese zu einem scheinbar objektiven Video zusammen, in dem das Für und Wider jener mysteriösen Ereignisse sorgsam abgewogen wird. Dabei unterschlägt er allerdings wichtige Informationen, wie etwa in einem Video über eine angebliche UFO-Sichtung während eines Tagesschau-Interviews.

In diesem Video etwa vermittelt K. den Eindruck, die ARD würde den scheinbar mysteriösen Vorfall verschleiern wollen. Tatsächlich handelte es sich bei dem verschwommenen schwarzen Fleck im Himmel um ein Insekt auf der Kameralinse. Das erwähnt K. zwar in dem vierminütigen Video am Rande, auf die Frage, weshalb er die kurz danach erschienene Auflösung der ARD nicht nachträglich einbaut, erklärt er, es sei ihm „zu schade um das Video“. Immerhin müsste er es neu hochladen. Dann wären die mehr als 30.000 Aufrufe hinfällig, die das Video bis heute erzielt hat – und seine Werbeeinnahmen würden zunächst sinken.

Wie viel Verantwortung tragen die Plattformen?

Es sind Stories wie die von K. und von Bebop und Bebe, die die Frage aufwerfen, weshalb vor allem Plattformen wie Tiktok, Instagram und Youtube nicht ihrer Verantwortung nachkommen, Falschinformationen und Verschwörungstheorien zu unterbinden. Meist ist sogar das Gegenteil der Fall: Algorithmen befeuern den oft gesehenen, viel geklickten und kommentierten Content zusätzlich. Sie sorgen dafür, wie im Fall von Bebopandbebe, dass sich nicht nur zweifelhafter Content, sondern auch darum gesponnene Fake News und Verschwörungstheorien rasend schnell und unkontrolliert im Internet verbreiten.

Sollten Creatorinnen wie Bebop und Bebe tatsächlich ihre eigene Entführung oder den eigenen Missbrauch auf perfide Art inszenieren, um Klicks zu generieren, wäre das zumindest in Deutschland eine Straftat. Darüber hinaus stellt sich eine moralische Frage: Trägt eine Person, die etwa den umschlossenen Daumen, das Zeichen für häusliche Gewalt, verwendet, nur um Klicks zu generieren, nicht dazu bei, dass echte Opfer häuslicher Gewalt vielleicht bald nicht mehr ernst genommen werden? Ebenso wie die tausenden Videocreator, die die dreisten Reichweitenmanöver auf der Jagd nach Views immer wieder reproduzieren? Und zerstört Tiktok, die Plattform, auf der das Symbol einst berühmt geworden ist, und bereits zur Rettung von Menschen beigetragen hat, mit der Verbreitung solcher Videos nicht das eigene Wirken?

Bebop und Bebe laden weiter seltsame Videos hoch

Inwiefern Bebop und Bebe, das US-amerikanische Mutter-Tochter-Duo, sich mit ihren 4,8 Millionen Followern in dieser Verantwortung sehen, ist nicht klar. Eine entsprechende OMR-Anfrage an die kalifornische Social Media Agentur „Six Degrees of Influence“, bei der die Beiden unter Vertrag stehen, bleibt bis zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung unbeantwortet, ebenso wie die Anfragen der Redaktion an Youtube und Tiktok.

Bebop und Bebe haben in der Zwischenzeit längst weitere Videos hochgeladen, auf die sich die Internet-Detektive stürzen werden. Im Neuesten trägt die Mutter eine schwarze Maske, schminkt ihre Tochter düster und zerrt sie an den Haaren. Das Video ist versehen mit dem Hashtag „#ifeellikesomebodyiswatchingme“. Ein Hinweis auf Missbrauch? Vielleicht. Vielleicht aber auch Teil einer zwielichtigen Marketingstrategie. Ganz gleich, welcher Theorie man folgt, das Opfer steht längst fest: Ein minderjähriges Mädchen aus Georgia, das ins Epizentrum der Aufmerksamkeoit von Fans und Fanatikern manövriert wurde, wo sie sich nun bestaunen lassen muss. Sie singt dabei und tanzt. Und hält vielleicht schon bald den nächsten Hinweis auf ihren Missbrauch in die Kamera.

InfluencerInfluencer MarketingInstagramTikTokYoutube
Florian Heide
Autor*In
Florian Heide

Florian arbeitet seit fast zehn Jahren als Print-Journalist. Angefangen beim Lokalblatt, später als Praktikant und Freelancer für DIE ZEIT und GEO. Seit 2020 ist er Redakteur bei OMR, wo er über Startups, Viraltrends, den Wandel von Social Media Plattformen und neue Technologien berichtet. Er hat nie Bargeld dabei und verbringt die Wochenenden am liebsten weit weg von Technologie in der Natur.

Alle Artikel von Florian Heide

Ähnliche Artikel

Aktuelle Stories und die wichtigsten News für Marketeers direkt in dein Postfach!
Zeig mir ein Beispiel