The Mobile Wars: Wie Facebook seine Rolle als Gatekeeper aufrecht erhalten will

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Mehr als 200 Mitarbeiter sollen Facebooks mobile Zukunft sichern

version2 Es war ein geheimes Projekt in einer frühen Testphase, das nur gerüchteweise existierte, doch in der vergangenen Woche haben zwei US-Blogs erste inoffizielle Informationen und Screenshots zu Facebooks neuer App Notify geleakt. Bislang war Notify als „Realtime News“-App bezeichnet worden: Publisher-Partner von Facebook sollen via Notify die Nutzer mittels Push Notifications über wichtige Neuigkeiten informieren können. Doch nun zeigt sich, dass hinter dem Experiment womöglich weit mehr steckt. Wir haben für Euch einen Blick hinter die Kulissen von Facebooks Mobile-Strategie geworfen. Erste handfestere Informationen zur Funktionsweise von Notify, inklusive einem Screenshot, veröffentlichte der Business Insider im vergangenen August: So sollen die Nutzer Publisher und Themen (Facebook nennt dies „Stations“ und „Substations“, also „Sender“) auswählen können, denen sie folgen möchten. Die Publisher können dann an die jeweiligen Abonnenten bei „Breaking News“ über Notify eine Push Notification von maximal 100 Zeichen versenden, die auf ihre Website führt. Den Gerüchten zufolge testet Facebook die App derzeit mit wenigen Startpartnern aus den USA.

Das Publisher-Interface zum Verschicken von Push Notifications über Notify (Quelle: Business Insider)

Das Publisher-Interface zum Verschicken von Push Notifications über Notify (Quelle: Business Insider)

Der Blog „The Awl“ veröffentlichte vor etwa einer Woche nun erste Bilder der Nutzeroberfläche der App. Die Screenshots zeigen: Am derzeitigen Test nehmen nicht nur Medien im klassischen Sinne teil, wie die Huffington Post, Buzzfeed und der Tech-News-Aggregator Techmeme, sondern auch andere Publisher, die zwar auch von Medienhäusern betrieben werden, aber stärker auf ein transaktionsbasiertes Modell setzen: der zu NBC gehörende Ticket-Dienst Fandango („Neue Kinotrailer online!“) und das Gutschein- und Produktpröbchenportal Allyou („Kostenlose Produktproben und Deals des Tages!“) von Time Inc.

Zwei Screenshot der Benutzeroberfläche von Facebook Notify (Quelle: The Awl)

Zwei Screenshot der Benutzeroberfläche von Facebook Notify (Quelle: The Awl)

Es geht Facebook also offenbar nicht nur darum, eine App für „Breaking News“ (also dringliche Eilmeldungen) zu etablieren – sondern möglicherweise darum, eine übergreifende Infrastruktur für Push Nachrichten zu schaffen, die von Facebook kontrolliert wird. Die großen Player im Markt versuchen bereits seit Längerem, ihre Claims in diesem Bereich abzustecken.

Welches Interesse sollten Publisher nun daran haben, durch eine Teilnahme an Notify Kontrolle an Facebook abzutreten? Noch ist Notify nicht offiziell verfügbar und sind keine Details zur Funktionsweise bekannt – eine Antwort auf diese Frage bleibt deswegen Spekulation. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Publishing-Partner von Notify darauf hoffen, über die App neue Leser zu erreichen, die deren eigene App nicht installiert haben. Falls die Nutzer sich für Notify mit ihrem normalen Facebook-Konto anmelden müssen, könnte Facebook zudem personalisierte Push Nachrichten verschicken – auf Basis des Datenschatzes aus dem Facebook-Nutzerprofil. Damit könnten die Publisher potenziell bessere Response- und Klickraten auf ihre Inhalte erzielen.

„Tippe zwei Milliarden Menschen auf die Schulter!“

Für App-Anbieter sind Push-Nachrichten bereits heute ein äußerst wichtiges Instrument, um Nutzer ins eigene Angebot zu führen und nach einem Download zu reaktivieren. „Zum ersten Mal in der Geschichte besteht die Möglichkeit, zwei Milliarden Menschen auf die Schulter zu tippen, und ihnen zu sagen ‚Hey, das musst Du Dir anschauen!’“, schrieb der israelische Mobile-Unternehmer Ariel Seidman einmal. Push Notifications erreichen eine extrem hohe Aufmerksamkeit – weil der Kanal noch nicht so stark durchdrungen ist wie etabliertere Marketingkanäle, und weil die App Notifications auf derselben Fläche stattfinden wie persönliche Nachrichten (wie WhatsApp-Nachrichten oder SMS).

Um diese Fläche bespielen zu dürfen, müssen die Publisher jedoch eine Hürde nehmen: dem Nutzer die Erlaubnis abzuringen, ihm Push Nachrichten schicken zu dürfen. Laut einer Erhebung des US-Dienstleisters Urban Airship (der dafür mehr als 3.000 Apps und 100 Milliarden Push-Nachrichten an 500 Millionen Nutzer untersucht hat), liegt die Opt-in-Rate bei 42 Prozent. Publisher, die sich mit dem Einholen des Opt-in schwer tun, könnten durch Notify möglicherweise davon profitieren, dass Facebook bei vielen Smartphone-Nutzern zur Top 5 der meist genutzten Apps zählt.

Wie viel Prozent derjenigen, die eine App heruntergeladen haben, nutzen diese auch noch nach mehreren Monaten? Push Notifications machen hier einen deutlichen Unterschied (Quelle: Urban Airship)

Wie viel Prozent derjenigen, die eine App heruntergeladen haben, nutzen diese auch noch nach mehreren Monaten? Push Notifications machen hier einen deutlichen Unterschied (Quelle: Urban Airship)

App-Entwickler, die sich ein Opt-in erarbeitet haben, werden mit Traffic und Engagement belohnt: Nutzer, die dem Erhalt von Push-Nachrichten zustimmen, seien im Vergleich zu jenen, die dies nicht tun, vierfach aktiv und zweifach loyaler, so Urban Airship. Für Publisher können die Notifications damit ein starker Traffic-Hebel sein. Dass bei der New York Times teilweise drei Mitarbeiter an den äußerst kurzen Texten für einen „Mobile Alert“ feilen, zeugt von der Wichtigkeit des Kanals.

Die App Wish erzeugt mit Push Notifications Kaufdruck

Aber nicht nur für Medienhäuser sind Push Notifications ein wichtiger Hebel. Auch E-Commerce-Plattformen nutzen dieses Mittel, um Kaufdruck zu erzeugen und ihre Absätze zu steigern. Die App Wish beispielsweise informiert ihre Nutzer fast täglich über Rabattaktionen. Das Betreiberunternehmen soll mittlerweile drei Milliarden US-Dollar wert sein.

Ein Screenshot einer Push Notification von Wish

Ein Screenshot einer Push Notification von Wish

Facebooks Notify dürfte ein früher Test sein, der scheitern kann. Das Netzwerk hat eine lange Historie von Projekten, die relativ schnell wieder eingestellt worden sind, nachdem festgestellt wurde, dass diese nicht funktionieren. Trotzdem zeigt das Experiment die Stoßrichtung von Facebooks Mobile-Strategie.

Derzeit ist Facebook im mobilen Segment eine Macht. US-Nutzer beispielsweise verbringen in keiner anderen App mehr Zeit, der Anteil von Mobile an den Werbeeinnahmen des Unternehmens liegt mittlerweile bei beachtlichen 76 Prozent.

Doch ist dieser Erfolg nicht langfristig gesichert, denn auf den Mobile-Geräten ist Facebook vom Goodwill der Betriebssystem-Anbieter abhängig – also Apple und Google. „Mobile ist keine neutrale Plattform“, erinnert Ben Evans vom renommierten Venture-Capital-Unternehmen Andreessen Horowitz in einem Artikel auf seinem persönlichen Blog. Für ein oder zwei Jahrzehnte habe das Internet aus einem Browser, einer Maus und einem Keyboard bestanden. Der Browser sei eine neutrale Plattform, die keinen Einfluss darauf habe, wie Nutzergewinnung und –bindung funktioniert.

Apple und Google haben Mobile das letzte Wort – durch ihre Betriebssysteme

Bei Mobile läge die Situation anders: Dort regulieren die OS-Anbieter die Interaktionsmöglichkeiten und ändern diese stetig. Zuletzt haben Apple und Google in den Benutzeroberflächen ihrer mobilen Betriebssysteme eigenen Diensten mehr Platz eingeräumt: links vom Homescreen finden sich neue Suchsysteme. Zudem versuchen die beiden Branchengrößen offenbar, Inhalte und Funktionen aus anderen Apps immer stärker zu entbündeln: durch Apples „Force Touch“ oder Googles „Now on Tap“ beispielsweise. Gelingt es ihnen, diese Nutzungsformen zu etablieren, steigt ihre Relevanz als Mobile Gatekeeper.

Für Facebook waren auf dem Desktop Notifications ein wichtiger Erfolgsfaktor, der Nutzeraktivität und –bindung angetrieben hat. Auf dem Smartphone kontrollieren nun die OS-Anbieter diese Infrastruktur. „Es ist zu spät für Facebook, ein eigenes Betriebssystem zu schaffen, deswegen versuchen sie, einen eigene Ebene über diesem Machtgefüge zu schaffen“, so Evans gegenüber Wired.

Mit „Home“, einem eigenen Facebook Home Screen für Android Smartphones, ist Facebook bereits einmal mit einem solchen Vorhaben gescheitert. Die App ist zuletzt am 14. Januar 2014 aktualisiert worden; die Download-Rankings in Googles Play Store lassen auf eine absolute Irrelevanz schließen.

Der Facebook Messenger soll die Mobile Plattform werden

Nun soll der Messenger Facebooks mobile Zukunft sichern – „Zuckerbergs App für alles“, wie Wired einen lesenswerten Insider-Bericht über das Projekt betitelt. Der ehemalige Paypal-Manager David Marcus ist für den Messenger verantwortlich und leitet ein Team von 200 Mitarbeitern, die daran arbeiten, den Messenger als eine Plattform zu etablieren, über die Unternehmen mit ihren Kunden kommunizieren.

Bislang sei das Nutzererlebnis in der Kundenkommunikation mehr schlecht als recht, so David Marcus gegenüber Wired. „Sogar ein Restaurant anzurufen ist kompliziert – aber eine Airline anzurufen oder eine Buchung zu ändern, ist ähnlich angenehm wie ein Zahnarztbesuch.“ Facebook wolle deswegen ändern, wie Smartphones genutzt werden: „Wenn heute kein Telefon existierte, würde man keine App-zentrische Betrachtungsweise schaffen, sondern eine Menschen-basierte“, so Marcus gegenüber Wired.

„Ganze Firmen werden nur auf dem Messenger leben“

Im März dieses Jahres hat Facebook die App für externe Entwickler geöffnet. Zunächst wurden über externe Partner eher Spielereien eingebunden, wie die Erstellung und das Versenden von GIFs und Emojis oder kurzen Videofilmchen. Doch als nächstes soll es ernst werden: Bald sollen Handels- und Reiseunternehmen über den Messenger mit Kunden kommunizieren und Transaktionen abwickeln können. Andere Bereiche sollen folgen. „Eines Tages wird es Firmen geben, die alleine auf Basis des Messengers aufgebaut wurden“, meint Julien Codorniou, bei Facebook für die Plattform-Partnerschaften verantwortlich. „Es wird Firmen in allen Bereichen berühren: E-Commerce, Dienstleistungen, Reise, Dating – ich bin an jeder App interessiert.“ Facebook wolle mit dem Messenger gesamte Geschäftsfelder integrieren können, schreibt Wired.

Warum sollten Unternehmen Facebooks Plattform nutzen, wenn sie damit sich und ihr Geschäft noch stärker von Facebook abhängig machen? „Organischen Traffic zu bekommen, ist Mobile sehr viel schwerer als auf dem Desktop“, so Codorniou. Facebook will in dieser Situation mit der Reichweite von nach eigenen Angaben 700 Millionen aktiven Messenger-Nutzern punkten. Zudem liege die Retention (also der Anteil an Nutzern, die regelmäßig zur App zurückkehren) bei Messaging Apps zwischen 50 und 60 Prozent.

Die größte Hürde: Mobile verkaufen

Der größte Reiz an Facebooks Angebot liege darin, über den Messenger auf dem Smartphone verkaufen zu können, so Michael Preysman, CEO und Gründer des Mode-Shops Everlane gegenüber Wired. Everlane ist einer der ersten Testpartner aus dem Handel. Der Anteil von mobilem Traffic des Unternehmens liegt bei 45 Prozent – aber nur 20 Prozent der Verkäufe würden über mobile Endgeräte abgeschlossen.

Auf seiner Hauptplattform experimentiert Facebook bereits mit einem Kauf-Button und seit Kurzem einem eigenen Shopping-Feed. Weil das Unternehmen schon über die Identitätsdaten der Nutzer verfügt, müssten die Nutzer ihre Daten für einen Kauf nicht einem weiteren Unternehmen preisgeben. Noch dazu verfügt Facebook über eine beträchtliche Reichweite.

Mit der Hauptplattform, dem Messenger und möglicherweise Facebook Notify könnte es Facebook in Zukunft möglich sein, den gesamten Kundenzyklus von Entscheidungsfindung über Kauf- bis hin zu Aftersales abzubilden – der Erfolg des Angebots wird am Ende am stärksten von der Akzeptanz der Endverbraucher abhängen.

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Roland Eisenbrand
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Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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