Die Streaming-Plattform Twitch lockt die junge Zielgruppe immer häufiger vom Fernseher weg

(Foto: ESL, Simon Hariman)
„Es ist der Wahnsinn, was hier in den vergangenen Wochen und Monaten passiert ist“, sagt Arno Heinisch. „Wir sind noch immer geflasht. Plötzlich haben wir einen eigenen Sender, gestalten das 24/7-Programm komplett eigenverantwortlich und toben uns im Nerd-Kosmos und Entertainment-Bereich aus. Das ist irgendwie eine Mischung aus Giga Reloaded und Waynes World.“

Arno Heinisch
Das 25-köpfige Team entschied sich daraufhin zu dem radikalen Schritt, künftig ausschließlich in Eigenauftrag über das Netz zu senden – über das US-Portal Twitch. Auf der Plattform streamt das ehemalige GameOne-Team seit Januar 2015 unter dem neuen Namen Rocket Beans TV (die Namensrechte an GameOne liegen bei Viacom) nun täglich in verschiedenen Formaten vier bis fünf Stunden live. Youtube dient quasi als Mediathek. Im Twitch-Kanal werden abseits der Live-Sendungen Best-Ofs oder Wiederholungen gezeigt.
16 Milliarden abgerufene Minuten Streaming pro Monat
Twitch existiert seit dem Jahr 2011. Entstanden ist das Portal aus der themenunspezifischen Streaming-Plattform Justin.tv. Weil auf dieser alle Inhalte rund um Gaming am erfolgreichsten waren, brachten die vier Gründer für diesen Themenbereich mit Twitch ein spezialisiertes Portal online. Justin.tv ist seit dem vergangenen Jahr offline; Twitch ist heute ein Teil von Amazon und größer und erfolgreicher als es die Mutterplattform je gewesen ist. Bei vielen der Streams auf Twitch übertragen Gamer beim Spielen einfach den Inhalt ihres Bildschirms live ins Netz – nicht selten ohne eine zusätzliche Kamera. Mit dem Fokus auf eine loyale und digital äußerst aktive Zielgruppe hat die Plattform nach und nach eine massive Reichweite angehäuft. Gerüchten zufolge liegt Twitch in den USA unter allen Websites, die die meiste Bandbreite verbrauchen, auf dem vierten Platz. Jeden Monat werden von den Twitch-Besuchern beeindruckende 16 Milliarden Minuten Video angesehen, heißt es in einem Rückblick des Unternehmens auf das Jahr 2014.

Simon Koschel
Rocket Beans TV erreicht auf Twitch schon so viele Zuschauer wie im klassischen TV
Rocket Beans TV ist einer davon. Mit dem eigenen Twitch-Kanal setzt das Unternehmen auf der Reichweite der Gaming-Plattform auf. Die Zuschauerzahlen, die die Hamburger dort verzeichnen, können sich bereits durchaus mit denen der GameOne-Sendungen im klassischen TV messen lassen: Während bei MTV je nach Wochentag zwischen 20.000 und 80.000 Zuschauer gleichzeitig eingeschaltet haben, sind es auf Twitch zu Spitzenzeiten 50.000 Zuschauer. Insgesamt verzeichnen die „Bohnen“ mit ihrem Twitch-Kanal bislang mehr als 14,5 Millionen Total Views sowie nach eigenen Angaben pro Tag mehr als 200.000 Unique Visitors und eine durchschnittliche Verweildauer der Zuschauer von über zwei Stunden.

Eine Sendung von Rocket Beans TV bei Twitch – rechts der Chat, in dem sich die Zuschauer und zum Teil auch die Kanalbetreiber miteinander austauschen
Zwei US-Dollar eTKP pro Werbe-Spot?
Twitch selbst bietet den Broadcastern mehrere Einnahmemöglichkeiten. Die Bedingungen: Der Nutzer muss mindestens dreimal in der Woche streamen und ihm müssen durchschnittlich 500 Zuschauer folgen. Erfüllt der Broadcaster diese Voraussetzungen, kann er Twitch-Partner werden und in seinem Kanal Werbung ausspielen lassen. Die daraus entstehenden Einnahmen teilen sich Twitch und der Kanalbetreiber. Zur prozentualen Verteilung will Twitch keine Angaben machen. In Gaming-Foren ist zu lesen, dass die Aufteilung 50/50 sein soll und die Kanalbetreiber mit Einnahmen von bis zu zwei US-Dollar pro Spot und Tausend Werbekontakte rechnen können.
Zweite Einnahmequelle sind „Subscriptions“: Die Twitch-Zuschauer, die häufig in einer Fan-Beziehung zu den Gamern stehen, können einen Kanal für knapp fünf US-Dollar pro Monat abonnieren. Die Kanalbetreiber können die Subscription-Einnahmen entweder ohne Gegenleistung als Spende verbuchen, oder bei Bedarf ihren zahlenden Fans dafür exklusive Features bieten – etwa spezielle Emoticons, Zugang zu speziellen Streams, oder die Möglichkeit, mit ihnen oder gegen sie zu spielen.

Viele Twitch-Kanalbetreiber nutzen zusätzliche Einnahmequellen wie einen eigenen Shop und Affiliate-Links – hier ein Screenshot aus dem Kanal von TakeTV
Dazu, ob das Unternehmen mit seinen Aktivitäten im Netz bereits Gewinn erwirtschaftet, möchte sich Heinisch nicht äußern. Offenbar sieht sein Unternehmen zumindest das entsprechende Potenzial dafür, denn vor zwei Tagen hat Rocket Beans TV bekannt geben, dass die ursprünglich als Experiment gestartete Online-Offensive weitergeführt werden soll – und die Firma sogar weitere Mitarbeiter einstellen will.
Globale Stars können sechsstellige Beträge im Jahr verdienen
Auf internationaler Ebene sollen einzelne Gaming-Stars diversen Medienberichten zufolge mit Streaming schon mehrere Tausend US-Dollar pro Monat verdienen. Der US-Amerikaner Jeffrey Shih, der sich in der Szene unter dem Namen „TrumpSC“ als Spieler von „Hearthstone: Heroes of Warcraft“ einen Namen gemacht hat, erklärte bereits 2014 gegenüber dem Forbes Magazine, dass die Crème de la Crème der Star-Gamer leicht 100.000 US-Dollar im Jahr alleine mit Streaming verdiene. Hinzu kämen Einnahmen aus Sponsoring und von Youtube, durch die die Einnahmesumme noch einmal verdreifacht werden könne.
Der Starkult rund um Gamer und die finanzielle Entwicklung der Branche wird auch von der „E-Sports“-Bewegung mit angetrieben. Im E-Sport werden Wettbewerbe unter Computerspielern durchgeführt, häufig in Teams. Wie bei anderen Sportarten haben sich auch im E-Sport eigene Stars etabliert. Bei großen Turniersiegen erhalten sie nicht selten Preisgelder in sechs- bis siebenstelliger Höhe. Die Fans können die Events entweder direkt in den Locations (darunter auch große Stadien) verfolgen, oder sich die Wettkämpfe online im Stream anschauen. Das im Jahr 2000 gegründete Kölner Unternehmen Turtle Entertainment betreibt beispielsweise auf die Electronic Sports League (ESL), hat unter diesem Titel schon Turniere in Europa, Asien sowie Nordamerika veranstaltet und streamt schon seit dem Start von Twitch Wettkämpfe auf der Plattform. Die ESL konnte so ihre Reichweiten teilweise deutlich erhöhen.

Eine Impression von der ESL in Katowice, Polen, aus dem März 2015 (Foto: ESL, Patrick Strack)
Eigener Broadcaster-Support beschleunigt das Wachstum in Deutschland
Für die deutschen Gaming-Promis steht Koschel als German Partnership Associate als Ansprechpartner bereit. „Für viele unserer Partner war ein deutscher Support ein wichtiges Einstiegskriterium – das hat unsere Entwicklung auf jeden Fall beschleunigt“, so der Mittzwanziger. Ab und an schreibt der Partner Manager auch bekannte Gamer an und fragt sie, ob sie nicht über Twitch streamen wollen.

Simon Unge

Ein von OnlineMarketingRockstars auf Basis von Mount Pixel erstelltes Ranking deutscher Twitch-Kanäle
Namhafte Konkurrenten bringen sich in Stellung
Bei weiteren Wachstumsplänen in die Hände spielen dürfte ihnen der aktuelle allgemeine Hype um das Thema Streaming, in den USA derzeit angefacht von heiß diskutierten Apps wie Meerkat und das zu Twitter gehörende Periscope sowie in Deutschland von dem Portal Younow. Zudem haben andere Marktteilnehmer offenbar das Potenzial von Gaming-Streams erkannt: So sollen die in der Gaming-Branche äußerst relevante Software-Plattform Valve, das französische Video-Portal Dailymotion und gerüchteweise auch Youtube an eigenen Angeboten arbeiten.
Twitch ist es nach eigener Darstellung bereits gelungen, so genannte „Cordcutter“ an sich zu binden. Der Begriff spielt der mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „Cord“, das sowohl Kabel, als auch Nabelschnur bedeuten kann. Als „Cordcutter“ werden in den USA junge Verbraucher bezeichnet, die sich vom Kabelfernsehen und anderen kostenpflichtigen Angeboten losgesagt haben und ins Internet abgewandert sind. „Unsere Zuschauer sagen uns häufig, dass sie das Fernsehen durch Twitch ersetzt haben“, sagte Twitch-Mitgründer Emmett Shear vor wenigen Wochen im Rahmen einer Konferenz in London. „Twitch bietet eine sehr ähnliche Erfahrung wie das klassische Fernsehen. Auf anderen Videoportalen im Netz bleiben die Nutzer häufig nur fünf Minuten. Wenn sie auf Twitch sind, setzen sie sich hin und schauen mehrere Stunden lang zu.“