Chinas irres Influencer-Biz: Ein Deutscher zwischen Klon-Fabriken und Milliarden-Umsätzen

Thomas Derksens Videos werden in China millionenfach abgerufen

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Thomas Derksen, 28, hat es mit Sketch-Videos in China zu sechs Millionen Followern gebracht – jetzt vermarktet er dort deutsche Brands

Geschätzte 15,8 Milliarden Euro Marktvolumen, Trainings-Camps und sogar virtuelle Influencer: Die chinesische Influencer-Marketing-Branche ist um ein Vielfaches größer als die europäische und existiert schon deutlich länger. OMR wirft einen Blick auf ihre bizarren Auswüchse und zeigt, wie ein Deutscher im Reich der Mitte mit lustigen Videos erfolgreich für (vor allem deutsche) Produkte wirbt.

Zhongguancun (das „Tech-Stadtviertel“ von Peking) statt Silicon Valley: Die Zahl der Internetnutzer in China ist inzwischen höher als die Summe der Einwohnerzahlen (!) der USA, von Brasilien und Indonesien: 802 Millionen. Das macht China zum größten Social-Media-Markt der Welt, und Chinas dazugehörige Influencer-Industrie explodiert gerade. Setzte die Influencer-Branche in Deutschland, Österreich und der Schweiz 2017 noch geschätzt 506 Millionen Euro um, so wird der chinesische Influencer-Markt in diesem Jahr mit geschätzt umgerechnet 15,8 Milliarden Euro an Erlösen etwa 30 Mal so groß sein. Das Umsatzvolumen soll größer sein als das des chinesischen Kino-Marktes.

Eine Influencerin verkauft 100 Autos in vier Minuten

Influencer heißen in China nicht Influencer, sondern KOLs (Key Opinion Leaders) oder Wanghongs („Netz-Erfolge“). In der englischsprachigen Variante von Wikipedia existiert sogar ein Eintrag über die „Wanghong Economy„. Viele hunderttausend Wanghongs posten, promoten, posen, erklären und empfehlen sich die Seele aus dem Leib  – mehrmals täglich, auf dutzenden Plattformen, über alle nur erdenklichen Verticals hinweg.

Schwer zu sagen, wer dabei aktuell am erfolgreichsten ist, weil niemand mehr alle Plattformen im Blick hat – auch, weil immer wieder neue Mega-Apps entstehen. Die KOL-Superstars werden nicht mehr in Followerzahlen oder anderen Influencer-Analytics gemessen, sondern in Sales pro Minute. So soll die Mode-Wanghong Becky Li am 21. Juli 2017 über ihren WeChat-Account innerhalb von vier Minuten 100 türkise MINI Cooper zum Stückpreis von umgerechnet 36.000 Euro verkauft haben. Angeblich wollen 54 Prozent aller Chinesen im College-Alter Influencer von Beruf werden.

Influencer-Klon-Fabriken und konzerngroße Agenturen

Auch die Vermarktung hat schon lange gigantomanische Ausmaße angenommen. Influencer-Agenturen mit einem vergleichbaren Geschäftsmodell wie die Hamburger Agentur Pulse erreichen in China inzwischen Konzerngröße. Bei manchen von ihnen stehen angeblich über 30.000 Influencer unter Vertrag. Vollautomatisierte Influencer-Marktplatz-Startups à la Reach Hero suchten schon vor zehn Jahren in Peking nach Investoren.

Angeblich züchten über 200 Influencer-Inkubatoren, auch KOL-Klonfabriken genannt, wie am Fließband junge Mädchen zu Wanghongs heran, inklusive Trainingscamps und Schönheitsoperationen. Viele spezialisieren sich auf eine Plattform, seien es direkte Verkaufs-Channels bei Alibaba oder Livestreaming-Plattformen, und verkaufen dort ihre eigenen Produktlinien. Um aus der immer gleichförmigeren Masse der Beauty-Königinnen mit ihrer weißen Haut, den großen Augen, einem kleinen Mund und einem spitzen Kinn herauszuragen, bedienen sich Luxusmarken wie Gucci inzwischen sogar virtueller Influencer, die sie rein digital in ihre neuesten Kollektionen einkleiden.

Hohe Reichweite, aber kein „Brandfit“

Um das Marken-Engagement der reichweitenstärksten KOLs, Papi Jiang und Angelababy streiten sich Luxus-Marketing-Experten und Follower gleichermaßen leidenschaftlich: Die Comedian Papi Jiang, eine Art chinesische Carolin Kebekus, rantet über das chinesische Großstadtleben. Dabei tritt sie ohne Make-Up, teilweise ungekämmt, in Jeans und T-Shirt oder Pullover und in einem unaufgeräumten Büro vor die Kamera – wirbt aber für die Schweizer Luxus-Uhrenmarke Jaeger LeCoultre. Aus Sicht von Kritikern kein passender Marken-Fit, sondern nur ihrer Reichweite geschuldet.

Angelababy, die sich vielleicht als „Chinas Kim Kardashian“ beschreiben lässt, stand im Mittelpunkt eines bizarren öffentlichen Streits, ob sie nun schönheitsoperiert oder nicht sei. Dann wurde sie Markenbotschafterin für die französische Luxusmarke Dior – neben Hollywood-Star Natalie Portman. Aufgebrachte chinesische Dior-Fans fanden das einfach zu ordinär.

Ein Deutscher als Alpecin-Influencer in China

Solche Probleme hat Thomas Derksen nicht. Der 28-Jährige stammt aus dem Bergischen Land nahe Köln, lebt aber heute in Shanghai und ist in China eine Berühmtheit. Verantwortlich dafür sind die Sketch-Clips, die seine chinesische Frau mit ihm filmt und zusammenschneidet. In akzentfreiem Chinesisch parodierte er anfangs Chinas enkelbegeisterte Schwiegermütter, kettenrauchende Schwiegerväter und shoppingsüchtige Ehefrauen.  Inzwischen hat Derksen nach eigenen Angaben sechs Millionen Follower auf über 15 Plattformen. Was ihn in Deutschland wahrscheinlich unter die Top 10 der männlichen Influencer bringen würde, reicht in China für eine Nischenpositionierung als lustiger, authentischer Deutscher.

Diese macht ihn offensichtlich auch für Unternehmen als Werbefigur interessant. In einem Video für seinen Kunden Dr. Kurt Wolff GmbH & Co. KG (u.a. Produzent von Alpecin und Plantur) nimmt Derksen seine Fans beispielsweise mit auf eine Fabriktour nach Bielefeld. In einem elfminütigen Video zeigt er seiner Frau ausgefallene Produkte im Supermarkt, darunter das Koffeinshampoo von Alpecin, das erblich bedingten Haarausfall vorbeugen soll ­(früher Haarverlust ist ein auch unter Chinesen verbreiteter Kummer). Der deutsche Comedian tourt mit Frau durch Kantine und Fabrik, lässt sich die Firmengeschichte erzählen und die Haare mit Alpecin-Shampoo waschen. Die chinesische Ehefrau kann ihre Begeisterung über die deutsche Qualitätsvorführung kaum im Zaum halten. Bis Ende Juli hatte das Video über die Plattformen hinweg 5,2 Millionen Views, 18.000 Likes, 5.000 Kommentare und 4.000 Reposts.

Sketch-Clip generiert mehr Abverkäufe als TV-Werbung

Unter Derksens Alpecin-Video posteten augenscheinlich einige Follower ihre Tracking-Codes für Dr. Wolff-Produkte, die sie sofort auf Alibabas T-Mall-Plattform gekauft hatten, in die Kommentare. Und auch Derksen revanchierte sich für die 20 tollsten Kommentare, indem er den Schreibern Shampoo-Proben nach Hause schickte.

Das kommt auch bei Derksens Werbekunde an: „Zu jeder Marketing-Kampagne zählt für uns eigentlich nur ein KPI: Abverkäufe“, sagt Fabian Schneider, General Manager bei Dr. Wolff in Shanghai. Sein Team habe diesen Sommer die Abverkäufe über drei Zeitperioden hinweg verglichen: eine ohne Marketing-Maßnahmen, eine während eines E-Commerce-Events mit Unterstützung durch TV-Werbung, und eine mit dem Derksens Video. „Normalerweise beobachten wir in der Woche nach einer Kampagne abflachende Abverkäufe, weil die Kunden das Produkt gerade gekauft haben. Nach Ende des E-Commerce-Events und Ausstrahlung der TV-Werbung spielten wir dieses Mal jedoch direkt Derksens Video. Die Abverkäufe fielen dieses Mal nicht wie gewöhnlich unter das Level der Periode ohne Werbeunterstützung. Sie verblieben in der ersten Woche auf einem deutlichen höheren Niveau und übertrafen schließlich sogar die durch TV-Werbung generierten Abverkäufe“, sagt Schneider.

Influencer als Gegenmittel zu Adfraud

Das Dr. Wolff-Marketing-Team hatte sich aus mehreren Gründen auf dem chinesischen Markt für eine Kooperation mit dem Influencer Derksen entschieden. „China ist sehr digital, aber mit Programmatic Buying konnten wir keine wirklichen Sales-Erfolge erzielen“, sagt Fabian Schneider. Auch Werbeclips im „OTV“, also Online-TV, sehe er eher kritisch. „Jede Media-Agentur erzählt Dir hier, dass du auf den Plattfomen von Youku, Le TV usw. dabei sein musst. Aber die Streuverluste sind sehr hoch, und man zahlt für OTV wie für vieles hier in China keine Kleckerbeträge, es sind keine leichten Investitionen. Und es gibt so viele intransparente Grauzonen hier, so viele Klickbots. Wieviel von unserer Werbung tatsächlich den Endkunden erreicht, ist da fraglich.“

Derksen erzähle demgegenüber Geschichten authentisch, kreativ und bildend , lade Markenerlebnisse mit seinen selbstgedrehten Erklärvideos emotional auf. „Das Marketing von Dr. Wolff ist bekannt für sein ‚Out of the Box‘-Thinking. Wir wollten keine chinesischen Celebrities und Stars, um Aufmerksamkeit zu bekommen, wir wollten wie immer anders sein.“ Und so kamen sie auf Thomas Derksen.

Vom Sparkassen-Azubi zum Tiktok- und Bilibili-Creator

Bevor Derksen Chinesisch studierte und nach Shanghai auswanderte, machte er eine Lehre und war Bankkaufmann bei der Kreissparkasse Köln – und so bodenständig tritt er auch in seinen Clips auf. Der Kontrast zu Angelababy, Becky Li und Papi Jiang könnte nicht größer sein. Seine Videos postet er zweimal wöchentlich in unterschiedlichen Längen auf Weibo, Wechat, Kuaipai, Miaopai, TencentVideo, Youku, iQiyi, Bilibili, Acfun, Toutiao, Yidianzixun, Facebook, Youtube, HimalayaFM, Xiaoying, Ixigua, Sina, Meipai, Renren, Baidu Baijia Hao, PearVideo, QQ, Dianping, Tiktok, Netease und Quduopai.

Außer mit Dr. Wolff hat Derksen auch schon mit der Unterwäsche-Marke Triumph, dem FC Bayern, Tchibo, Schiesser und Rossmann kooperiert. „Deutsche reagieren auf Werbung genervt und empfindlich.“ Chinesen dagegen applaudierten und würden sagen ‚Mensch, diese Produktvorstellung hast du wieder einmal richtig gut hingekriegt‘. „Oder sie gratulieren mir und sagen ‚Mensch, was für eine Ehre für dich, diese Brand bekommen zu haben‘. Für unterhaltsame, kreative Werbung wird man in China belohnt.“

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ChinaInfluencer Marketing
Corinna Bremer
Autor*In
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