Flüstern, Klopfen, Kratzen – wie ASMR in der Nische zum Millionen-Business wird

Florian Rinke24.1.2023

Mit Flüster-Content generieren ASMR Miss Mi und ASMR Janina Millionen Views

Als ASMR Miss Mi hat Mina eine Millionen-Reichweite aufgebaut. Foto: ASMR Miss Mi
Als ASMR Miss Mi hat Mina eine Millionen-Reichweite aufgebaut. Foto: ASMR Miss Mi

Das Interesse an ASMR ist weltweit größer als an Taylor Swift oder Mr. Beast. Trotzdem ist das Phänomen in Deutschland noch nicht wirklich in der Breite angekommen. Zwei Creatorinnen zeigen, wie man in der Nische trotzdem rund um die Accounts ein extrem lukratives Business aufbauen kann – doch ihre Strategien könnten unterschiedlicher kaum sein.

Erst kommen die Klicks, dann die Fingernägel. Sie verwandeln sich, werden länger. Janina lädt ihr erstes Video im Januar 2018 hoch. Ihr Nägel sind damals kurz und natürlich. Heute sind die Nägel lang und künstlich. Manche glitzern, wenn das Studiolicht auf sie fällt. Auf dem Reiterhof schauten manche komisch, als sie die Nägel sahen. Pferd und Fingernägel – das passte auf den ersten Blick irgendwie nicht. Doch Janina helfen sie. Sie sind ihr Arbeitswerkzeug. Lange Fingernägel klingen besser.

Die Fingernägel helfen ASMR Janina dabei, bessere Geräusche zu erzeugen. Foto: ASMR Janina

Die Fingernägel helfen ASMR Janina dabei, bessere Geräusche zu erzeugen. Foto: ASMR Janina

Die 27-Jährige aus Niedersachsen dreht ASMR-Videos. ASMR, das steht für Autonomous Sensory Meridian Response (also unabhängige sensorische Meridianreaktion) – es geht darum, beim Zuschauer bzw. der Zuschauerin durch Geräusche ein wohliges Gefühl auszulösen. Das soll bei der Entspannung helfen. In ihren Videos benutzt ASMR Janina, wie sie sich auf Plattformen wie Youtube und in den sozialen Netzwerken nennt, zum Beispiel Gummihandschuhe, Schminkutensilien oder gefüllte Glaskolben, um Geräusche zu erzeugen. Sie benutzt auch ihren Mund, reibt ihre Finger aneinander. Trigger werden die Geräusche genannt, die bei den User*innen ein Kribbeln auslösen sollen.

ASMR wird häufiger gesucht als Taylor Swift

Weltweit ist das Internet-Phänomen ASMR in den vergangenen Jahren immer bekannter geworden (wir haben hier zum Beispiel darüber berichtet). Doch einer breiteren Öffentlichkeit ist das Thema vermutlich dennoch immer noch nicht bekannt. Dabei wird bei Youtube weltweit häufiger nach dem Begriff ASMR gesucht als nach Yoga oder Prominenten wie Sängerin Taylor Swift und dem Youtube-Star Mr. Beast. Sogar bei Netflix gibt es Videos darüber. Und Creator wie ASMR Janina können auf dem Trend komplette Geschäftsmodelle aufbauen.

Janina hat ihren Kanal bei Youtube im Oktober 2017 gestartet. Ihr damaliger Freund, ein Youtuber, hatte ihr ein paar Monate zuvor ein ASMR Video gezeigt. Damals macht sie gerade eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. Viel Arbeit für wenig Geld. Weil sie auch ASMR Videos drehen möchte, kauft sie sich von ihren letzten Ersparnissen einen Audiorecorder von Tascam. Das Gerät hat zwei Mikrofone für Stereoaufnahmen. Das ist hilfreich bei ASMR, weil man so für die Hörer*innen die Stimme und die Geräusche im Raum wandern lassen kann.

Shorts sorgen für Reichweiten-Explosion

Ihr erstes Video ist eine Art Experiment und noch als „Mikrofontest“ betitelt. Doch dann geht alles ganz schnell. „Nach einem halben Jahr konnte ich schon von meinen Videos leben“, sagt sie. Inzwischen ist ihr Kanal größer als der ihres Ex-Freundes. Mehr als 430.000 Menschen folgen ihr bei Youtube. Ihre Videos wurden fast 160 Millionen Mal aufgerufen. ASMR Janina ist lange Zeit der größte deutschsprachige Youtube-Account. Doch dann startet ASMR Miss Mi durch.

Auch Mina ist durch Zufall auf das Thema gestoßen. Genau wie Janina möchte sie ihren vollständigen Namen so weit wie möglich aus der Öffentlichkeit heraushalten, daher nennen wir die beiden Creatorinnen hier nur beim Vornamen. Mina hat 2019 ihren Kanal ASMR Miss Mi gestartet. Auch sie hat sich seitdem optisch verändert, Fingernägel inklusive. Nach und nach baut sie Reichweite auf, aber an die Reichweiten von ASMR Janina kommt sie nicht heran. Das ändert sich jedoch schlagartig, als Youtube im Juli 2021 als Antwort auf den Erfolg von Tiktok sein Shorts-Format ausrollt. Bereits am 27. Juli lädt Mina ein Tiktok-Video als Shorts hoch. Es folgen weitere – und in den darauffolgenden Monaten schnellen die Zahl der Views und auch die Zahl der Abonnent*innen ihres Kanals rasant nach oben (siehe Grafik). Inzwischen folgen ihr allein bei Youtube rund 1,13 Millionen Menschen. Ihre Videos haben dort fast 428 Millionen Abrufe erzielt.

ASMR wird für Miss Mi zum Vollzeitjob

Youtube Shorts sind dabei Fluch und Segen zugleich. Für Mina sind sie die Steigleiter, über die sie zur reichweitenstärksten deutschen ASMR-Künstlerin in knapp drei Jahren wird. Auch sie lebt inzwischen von ihren Videos, nachdem sie zuvor in einer Agentur gearbeitet hat. „Im November 2021 habe ich meine Arbeit gekündigt, weil ich einfach zu viel mit der Videoproduktion zu tun hatte. Vorher hatte ich schon die Stunden reduziert, aber das reichte nicht“, erzählt die 31-Jährige im Gespräch mit OMR. Bis heute macht sie vom Dreh über den Schnitt alles allein. Ihre Haupteinnahmequelle sind inzwischen die Werbeeinnahmen von Youtube, die sich auf einen sechsstelligen Betrag im Jahr summieren dürften. Genaue Angaben will sie dazu nicht machen.

ASMR Janina verfolgt eine andere Strategie: „Mit Shorts habe ich bei YouTube eher schlechte Erfahrungen gemacht, weil dadurch anfangs andere Videos in der Sichtbarkeit runtergerutscht sind“, sagt sie. Für Shorts baut sie parallel einen eigenen Kanal auf, ansonsten setzt sie eher auf längere Videos – und OnlyFans. „Ich habe eine Plattform gesucht, über die ich personalisierte Videos anbieten kann“, sagt sie: „Viele denken ja, dass das eine rein pornographische Plattform ist. Dabei gibt es da auch ganz viele Creator*innen wie mich, die damit nichts zu tun haben.“

Fünfstellige Summen mit OnlyFans

Inzwischen ist die Plattform für sie die wichtigste Einnahmequelle. Allein durch die Abos (15 US-Dollar pro Monat), die Nutzer*innen dort abschließen, verdient sie nach eigenen Angaben mehr als durch die Werbeeinnahmen bei Youtube. Dazu bietet sie dort personalisierte Videos an, in denen sie beispielsweise die Lieblings-Trigger der Nutzer*innen verwendet. 300 bis 400 Euro kosten Videos mit vier bis sechs Minuten Länge. Viele Nutzer*innen bestellen aber längere. Schon im ersten Monat nimmt ASMR Janina über Only Fans einen fünfstelligen Betrag ein – und spendet ihn. Seitdem hält der Erfolg an. „Der erfolgreichste Monat war bislang der Januar – und der ist ja noch nicht mal vorbei“, sagt sie.

Youtube ist für sie die oberste Stufe ihres Funnels, denn um bei OnlyFans erfolgreich zu sein, muss man Reichweite mitbringen. Andere Creatorinnen nutzen das Interesse am Thema ASMR daher ganz gezielt, um User*innen zu ihren pornografischen Angeboten bei OnlyFans zu locken. Dort gibt es dann statt „Brain Massage“ und „Ambient Sleep Music“ Dildos, Sex-Toys und „Naughty ASMR Videos“. ASMR Janina grenzt sich davon ab. Für kein Geld der Welt würde sie Pornos machen, sagt sie. Dennoch missverstehen einige ihrer Nutzer offenbar ihre Arbeit. Ihr Manager Nico Poschmann sagt: „Wir mussten teilweise auch Sachen sperren lassen. Das bleibt leider nicht aus. ASMR wird teilweise missbräuchlich verwendet, obwohl es nur zur Entspannung dienen soll. Das wollen wir verhindern!“

ASMR Miss Mi schlüpft in die Rolle der Freundin

Während ASMR Janinas Zielgruppe zu 60 Prozent männlich ist, hat sich ASMR Miss Mi eine überwiegend weibliche Zielgruppe aufgebaut. 70 Prozent ihrer Nutzer*innen sind weiblich, viele davon auch minderjährig. Sie setzt in ihren Videos sehr stark auf Rollenspiele. In ihren Videos tut sie so, als würde sie ihre Zuschauer*innen schminken, sie tröstet bei Liebeskummer, schlüpft in die Rolle einer Art Freundin. Zwei bis drei Tiktoks produziert sie pro Tag, dazu drei Youtube-Videos in der Woche. Dazu kommen Live-Streams bei Youtube und Twitch sowie der Content, den sie auf anderen Plattformen postet.

Die Beziehung zu ihren Zuschauern, die sie „Miss Mi Fam“ nennt, baut sie speziell auch über Live-Streams aus. 3,99 Euro kostet es, bei Youtube Mitglied ihrer Community zu werden. In Live-Streams wird man dafür namentlich genannt und kann spezielle Emoji-Sticker posten. „Beim ASMR hat man die netteste Community, weil alle auf der Suche nach Entspannung sind“, sagt ASMR Miss Mi im Gespräch mit OMR. Früher hat sie auch versucht, jeden Kommentar bei Instagram und Co. persönlich zu beantworten. Doch das schafft sie heute nicht mehr.

Microsoft wirbt mit ASMR Janina

Vielleicht wegen der Intimität, die die Videos von Künstlern wie ASMR Janina oder ASMR Miss Mi ausstrahlen, gibt es wenige Marken, die in diesem Umfeld werben. ASMR Miss Mi hat bereits mit Herstellern von Handyhüllen zusammengearbeitet, mit dem Smoothie-Anbieter Truefruits und der Mundpflege-Marke Dr. Best. Die Öko-Zahnbürste, die sie damals präsentierte, nutzt sie heute noch als Trigger. Auch Nico Poschmann hat mit seiner Agentur Unyque für ASMR Janina schon verschiedene Kooperationen ausgehandelt, unter anderem mit Microsoft.

In den USA gibt es aber beispielsweise auch Matratzen-Hersteller wie Helix Sleep, die die Reichweite großer ASMR-Accounts für zielgerichtete Werbung nutzen. „Ich glaube, vielen ist überhaupt nicht klar, welches Potenzial es gibt, wenn Leute flüstern, weil es immer suggeriert, dass da jetzt etwas Geheimnisvolles passiert. Deswegen hören immer alle genau zu“, sagt Mina alias ASMR Miss Mi: „Ich habe aber schon das Gefühl, dass sich inzwischen immer mehr Firmen trauen, in ASMR-Videos zu werben.“ Nico Poschmann räumt ein, dass der Markt für deutschsprachige ASMR-Accounts natürlich begrenzt sei. Dennoch sieht auch er Chancen, die Reichweite seiner Klientin weiter auszubauen – etwa durch Spotify. ASMR Miss Mi hat unterdessen einen anderen Traum. Statt alleine ASMR vor der Kamera zu machen, würde sie gerne eine Live-Tour starten.

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Florian Rinke
Autor*In
Florian Rinke

Florian Rinke ist Host des Podcast "OMR Rabbit Hole" und verantwortet in der OMR-Redaktion den "OMR Podcast". Vor seinem Wechsel Anfang 2022 zu OMR berichtete er mehr als sieben Jahre lang für die Rheinische Post über Start-ups und Digitalpolitik und baute die Rubrik „RP-Gründerzeit“ auf. 2020 erschien sein Buch „Silicon Rheinland".

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