Digitale Transformation in nur vier Wochen: Wie Artnight zum „Bob Ross der Zoom-Ära“ wurde

Christian Cohrs17.12.2020

So hat Corona dem Berliner Mal- und Backkurs-Startup geholfen, neue Kundengruppen zu erschließen

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Lieber Menschen beim Malkurs außer Haus treffen als allein auf der Couch Netflix gucken – diese Idee stand 2016 am Beginn von Artnight. Zunächst mit Erfolg: 2020 wollte das Startup mit seinen Gruppen-Kreativ-Events um 200 Prozent wachsen. Dann kam Corona, und der Umsatz fiel auf Null. OMR erklärt, wie die Berliner die Wende von offline only zum Online-Business geschafft haben.

Dafür, dass sie bei Artnight nie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hatten, was eigentlich wird, sollten physische Events einmal unmöglich sein, haben sie den Lockdown ganz gut pariert. Vor allem die Zoom-Variante des Cocktailkurs-Formats Shakenight sei „wie verrückt“ gebucht worden, sagt Artnight-Gründerin Aimie-Sarah Carstensen. Doch es gab ein Problem: Die Leute mixten unter Anleitung drei Cocktails, „und dann klappten die den Laptop zu und saßen betrunken allein zuhause“. Genau das aber hatte Carstensen nicht im Sinn gehabt hatte, als sie vor vier Jahren gemeinsam mit David Neisinger Artnight gründete. Darum wurde das Online-Besäufnis erst einmal auf Eis gelegt.

Kneipenvolkshochschule für einsame Großstädter

Vor dem Launch von Artnight hatten die Gründerin und der Gründer sich schon länger mit dem Phänomen beschäftigt, dass immer mehr Menschen allein sind oder gar vereinsamen. Diesem Trend begegneten sie mit einer Art Kneipen-VHS: Die Teilnehmer suchen sich auf der Website ein Bild aus, das sie malen wollen, treffen dann Gleichgesinnte in einem Lokal und versuchen sich dort unter fachkundiger Anleitung an dem Motiv. Also, bis Frühjahr 2020 lief das so.

Januar bis März seien die umsatzstärksten Monate in der Firmengeschichte gewesen, so Carstensen. Bis zu 40.000 Personen hätten an den Kursen teilgenommen, über 500.000 Workshop-Buchungen seien bis zu dem Zeitpunkt bereits eingegangen. Hunderte Events in den mittlerweile vier Verticals seien geplant gewesen. Zu den Artnights waren Bakenights, Shakenights und Plantnights gekommen. Weitere Formate für Sportevents und Bildungsanbgebote seien in der Pipeline gewesen, so Carstensen.

70 Prozent des geplanten Umsatzes gingen verloren

Corona traf das Startup zum unglücklichsten Zeitpunkt. Im vorangegangenen Herbst hatten die Berliner weitere vier Millionen Euro Funding eingesammelt. Damit sollte im Laufe des Jahres die internationale Expansion der Verticals des inzwischen als Realtainment Group agierenden Unternehmens vorangetrieben werden.

Der Lockdown bremste nicht nur diese Pläne aus. Zwischen März und November 2020 habe ihre Firma zunächst 70 Prozent des geplanten Umsatzes verloren, sagt Carstensen. Der Lockdown hatte das komplette Businessmodel der damals allein auf physische Live-Events ausgerichteten Realtainment Group gekippt. „Wir waren überhaupt nicht vorbereitet auf online“, so die 31-Jährige.

Bob Ross trifft auf Homeoffice: Bei Artnight Online treffen sich Instruktor und Teilnehmer via Zoom-Meeting. Foto: Realtainment Group

Bob Ross trifft auf Homeoffice: Bei Artnight Online treffen sich Instruktor und Teilnehmer via Zoom-Meeting. Foto: Realtainment Group

Also musste improvisiert werden. Sie produzierten Podcasts, nahmen Tutorials auf, entwickelten Live-Online-Kurse. Landing-Pages wurden aufgesetzt und ein eigenes E-Commerce-Business inklusive Sourcing hochgezogen, um die Mal-Utensilien zu den Kunden zu bringen. Eine komplette digitale Transformation innerhalb von nur vier Wochen.

Mit Corona rücken neue Kunden in den Blick

Die Marketing-Budgets wurden parallel zum Wechsel von Off- zu Online drastisch verschoben. Steckte das Startup vor der Pandemie noch über zwei Drittel seiner Adspendings in Anzeigen für Events in Großstädten – dem wichtigsten Markt –, sind nun durch das veränderte Geschäftsmodell auch Kunden in Kleinstädten für Artnight interessant. Die Hälfte des Budgets wird mittlerweile mit Blick auf diese Zielgruppe verwendet, die mit physischen Events bislang gar nicht erreichbar war.

Neben den beiden Hauptkanälen Instagram und Facebook testete man Pinterest, Tiktok und Twitter. Mit Blick auf 2021 sehen die Berliner in diesen drei Plattformen gute Hebel für organisches Wachstum der Realtainment Group. Überhaupt setzten die Berliner in der Krise auf neue Kunden: Die Ausgaben für Paid Search bei Google hätten sich in den vergangenen sechs Monaten verfünffacht. Außerdem würden die Online-Kurse billiger angeboten. Offenbar mit Erfolg. Die Zahl der Neukunden sei um 230 Prozent gewachsen, während sich der CPA halbiert habe, heißt es von Realtainment Group.

Malen auf Abstand: Solange es ging, wurden sogenannte "Safety ArtNights" angeboten.

Malen auf Abstand: Solange es ging, wurden sogenannte „Safety ArtNights“ angeboten. Foto: Reatailment Group

Solange es möglich war, wurde auch das Ursprungsprodukt als „Safety ArtNights“ den Gegebenheiten der Pandemie angepasst. Die unterschiedlichen Regelungen in 16 Bundesländern hätten dem Team zwar keine Ressourcen gelassen, das Auslandsgeschäft wieder anzuschieben, so Carstensen, doch immerhin auf dem Heimatmarkt schien sich die Lage zu beruhigen. „Wir waren optimistisch, dass nicht wieder so ein harter Lockdown kommt.“ 4.000 „Safety ArtNights“ habe man über den Sommer durchgeführt.

Auf der Weihnachtsfeier malen oder backen statt mit Kollegen knutschen

Doch der zweite Lockdown kam, härter als zuvor. Diesmal jedoch wurden Carstensen und ihr Team nicht kalt erwischt. Im Gegenteil: Sie nutzen die Situation, um ihr Live-Produkt als Option für die aktuell gefragten digitalen Weihnachtsfeiern zu promoten. So hätten Artnight und Bakenight im vierten Quartal um 100 Prozent zulegen können, sagt Carstensen. Stand heute 700 digitale Weihnachtsfeiern würden in anderthalb Monaten durchgeführt.

Carstensen geht davon aus, dass das Digitalgeschäft auch im kommenden Jahr stabil bleiben wird. Trotz dieses Erfolges habe die Pandemie das Geschäft aber spürbar einbrechen lassen. Von den rund 500 Workshop-Leitern der Malkurse seien aktuell gerade noch 140 im Einsatz. Im Vergleich mit den monatlich 3.000 bis 4.000 Offline-Veranstaltungen vor Corona seinen die 500 Online-Events im Monat trotz größerer Teilnehmergruppen „ein Witz“ gewesen.

Kein Umsatzwachstum, aber immerhin -stabilisierung

„Durch die Online-Produkte können wir die Verluste um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ausgleichen“, sagt Carstensen. Umsatztreiber sind die Offline-Events. Immerhin: Ihr Unternehmen werde in diesem Jahr voraussichtlich das Umsatzniveau des Vorjahres halten können. „Ziel war aber, es zu verdoppelt oder zu verdreifachen“, so Carstensen. „Und wir hätten das auch geschafft.“

Ein Gutes sieht die Gründerin jedoch in der zwangsweisen digitalen Transformation der Realtainment Group: „Wir haben dadurch einen Customer Life Circle aufgebaut.“ Und durch die digitalen Produkte hätten sich wichtige KPIs verbessert. Der Net Promoter Score (NPS) der Bakenight betrage 88, die Retention Rate sei um 15 Prozent auf nun 25 Prozent gewachsen. Der NPS der digitalen Artnight liege sogar noch darüber, bei 91. Auch die digitale Variante des Lockdown-Bestsellers Shakenight geht mit überarbeitetem Konzept im zweiten Quartal 2021 wieder live.

Eine Facebook-Gruppe mit 8.700 Mitgliedern fürs digitale Socializing

Auch hinsichtlich Community-Building hat der Schwenk Richtung Online nachhaltige Reichweite gebracht. Seit März 2020 ist die Artnight-Facebook-Gruppe um rund 20 Prozent auf 8700 Mitglieder gewachsen. Carstensen geht trotzdem davon aus, dass das Offline-Geschäft der wichtigste Pfeiler ihres Business bleiben wird. „Sobald Bars und Restaurants wieder aufmachen, lohnt sich das für uns“, sagt sie. Allerdings sei Online „eine schöne Ergänzung“. Oder vielleicht mehr. Denn Carstensen will sich nicht von der aktuellen Impf-Euphorie mitreißen lassen.

Zwar plane man, jederzeit mit den physischen Events wieder starten zu können. Aber eben auch mit dem Gegenteil: „Wir gehen von mehreren Lockdown in neuem Jahr aus“, sagt Carstensen. „Wenn wir im Herbst 2021 wieder einigermaßen verlässlich Events machen können, dann ist es schon gut.“

Christian Cohrs
Autor*In
Christian Cohrs

Editor & Content Strategist bei OMR und Host des FUTURE MOVES-Podcasts. Zuvor war er Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins Business Punk in Berlin, Co-Autor des Sachbuchs "Generation Selfie".

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