Das nächste Fortnite? Warum Animal Crossing möglicherweise das Zeug zur Plattform hat

Nintendos Konsolenspiel zieht eine massive Aufmerksamkeit auf sich

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Ein Spieler in Animal Crossing New Horizons wechselt "magisch" seine Outfits – von einem angesagten Hypebeast-Stück zum anderen (Quelle: Nutzer cjx324 auf Reddit)

Millionen von Gamern spielen seit der Markteinführung im März Nintendos Konsolenspiel „Animal Crossing New Horizons“ (ACNH). In der Corona-Krise ist das Spiel zu einer Art kulturellen Phänomen geworden – auch über die Gaming-Szene hinaus. Tut sich damit auch eine Chance für Animal Crossing als Marketingplattform auf? OMR zeigt, wie groß er Erfolg des Spieles ist und auf welch kuriose Weise Marken und „Influencer“ bereits jetzt eine Rolle in Animal Crossing spielen.

Wenn es nicht hochgradig zynisch wäre, würde man wohl aus Sicht von Nintendo wohl von „glücklicher Fügung“ sprechen. Denn die Corona-Krise dürfte enorm dazu beigetragen haben, aus dem Spiel „Animal Crossing New Horizons“ (ACNH), das der japanische Gaming-Konzern am 20. März für seine Handheld-Konsole Switch auf den Markt gebracht hat, einen riesigen Erfolg zu machen – möglicherweise den größten Gaming-Erfolg in der Corona-Krise.

Erfolgreichste Markteinführung eines Konsolenspieles aller Zeiten?

Alleine in Japan soll das Spiel am ersten Wochenende nach der Veröffentlichung fast 1,9 Millionen Mal verkauft worden sein – so viel wie kein anderes Konsolenspiel zuvor zur Markteinführung. Bis zum 26. April soll die Zahl der physischen Verkäufe in Japan dann noch einmal auf rund 3,9 Millionen Exemplare gestiegen sein.

Verlässliche Angaben zu den Gesamtverkaufszahlen weltweit existieren nicht. Das liegt auch daran, dass Switch-Besitzer Spiele entweder auf einem physischen Chip oder als Download kaufen können. Die Zahl der Digitalverkäufe aber legt Nintendo nicht offen.

Bereits jetzt in der Top 10 der meistverkauften Switch-Spiele

Der Marktforscher Superdata (mittlerweile Tochter von Nielsen) schätzt, dass ACNH weltweit schon im März fünf Millionen Mal digital verkauft worden ist. Seitdem durfte diese Zahl noch einmal deutlich gestiegen sein. Rechnet man die Superdata-Schätzung für den März mit den physischen Verkaufszahlen aus Japan zusammen, so reicht alleine diese Zahl dafür aus, ACNH schon jetzt in die Top 10 der meist verkauften Switch-Spiele zu hieven.

In Deutschland habe Nintendo wenige Tage nach Markteinführung mehr als 200.000 Exemplare von ACNH verkaufen können, gab im April der Branchenverband Game gemeinsam mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) bekannt. Der Verband verlieh dafür den „Game Sales Award“ in Platin. „Einen Platin-Award verleihen wir in der Regel nur wenige Male im Jahr. Und noch seltener generieren die Preisträger diese Verkaufszahlen mit der Geschwindigkeit, mit der Animal Crossing New Horizons das getan hat“, so Game-Sprecher Martin Puppe gegenüber OMR.

Ist Animal Crossing ähnlich groß wie Fortnite?

Ebenso beachtlich: Laut Google Trends soll in Googles Suchmaschine weltweit zeitweise häufiger nach Animal Crossing gesucht worden sein als nach dem Gaming-Mega-Erfolg Fortnite (hier im OMR Porträt). Das ist aus mehreren Gründen erstaunlich: Zum einen ist Fortnite grundsätzlich kostenlos; nur für (rein kosmetische) Skins und „In-Game-Items“ müssen die Nutzer zahlen. Wer jedoch ACNH spielen will, muss das Spiel kaufen, in der Regel zu einem Preis zwischen 45 und 50 Euro.

Zum anderen ist Fortnite für diverse Geräte und Betriebssysteme verfügbar. ACNH gibt es demgegenüber nur für die Nintendo Switch. Die potenzielle Zielgruppe des Spieles dürfte also vor vornherein sehr viel kleiner gewesen sein als die von Fortnite. Dass ACNH trotzdem so durch die Decke gegangen ist, dürfte in sehr relevanten Maße dazu beigetragen haben, dass Nintendo Switch Konsolen seit dem Beginn der Krise und aktuell immer noch bei vielen Händlern ausverkauft sind.

Trost spendende Ereignislosigkeit

Woher aber rührt aber der enorme Erfolg von ACNH? Ein Teil davon mag sicher darin begründet liegen, dass New Horizon bereits das achte Spiel im Animal-Crossing-Universum ist (das erste erschien im Jahr 2001), und sich die Reihe über Jahre hinweg eine treue Fangemeinde aufgebaut hat, die mit der Welt der Spiele mittlerweile möglicherweise schon nostalgische Gefühlt verknüpft.

Der weitaus stärkere Grund dürfte jedoch sein, dass ACNH in der Corona-Krise einfach das richtige Spiel zur richtigen Zeit ist. In einer krisengeschüttelten Welt bietet das neueste Animal-Crossing-Spiel vielen Menschen eine mehr als willkommene Gelegenheit, dem Eskapismus zu frönen. „Why Animal Crossing Is the Game for the Coronavirus Moment“, schreibt die New York Times Anfang April. ACNH sei eines der „ereignislosesten Videospiele“, das in der Corona-Krise „besonderen Trost spenden könne“, so Die Zeit: „Diese friedvolle Traumwelt kennt kein Ziel und auch keine Hast. Sie verzichtet auf jeden negativen Aspekt des Lebens.“

Zwischen Second Life und Minecraft

In der Tat – um nun endlich zum Spielprinzip zu kommen – ist ACNH in einer heilen Welt angesiedelt, deren Bewohner im Grunde keine wirklichen Aufgaben erfüllen müssen und vollkommen ohne Druck agieren können. Die Spieler finden sich anfangs auf einer einsamen Insel wieder, die sie nach ihrem Gutdünken gestalten können.

Sie können die Insel mit niedlichen, anthromorphen Tierwesen bevölkern, Einrichtungsgegenstände und Bauwerke erstellen und es sich in einem eigenen Häuschen gemütlich machen – können all das aber auch sein lassen. Damit ist das Spiel eine Mischung aus (Ältere mögen sich noch erinnern) Second Life, den Sims sowie eine kindlich-femininere Version von Minecraft.

ACNH wird zum Schauplatz von Geburtstagen und Hochzeiten

Viele Nutzer, die in der Corona-Krise in die Quarantäne gezwungen waren, haben in den vergangenen Wochen ACNH als Plattform dafür genutzt, um sich virtuell mit Freunden treffen, Geburtstage und sogar (in der „echten“ Welt abgesagte) Hochzeiten zu feiern.

In einer Zeit, in der man in der „echten Welt“ zu Hause bleiben muss, sich deswegen deutlich weniger modische Kleidung kauft, mit der man ausgehen und sich „schick machen“ kann, lebt ein Teil der ACNH-Spieler diesen Teil ihres Lebens offenbar im Spiel aus: Sie statten ihre Spielfiguren mit hippen Markenklamotten aus.

Virtuelle Klamotten von Gucci, Louis Vuitton und Fendi

ACNH stellt den Spielern dafür einen eigenen Editor zur Verfügung, in dem die Spieler selbst Kleidungsstücke designen bzw. solche aus der „wirklichen Welt“ nachbauen können. Schnell geht das nicht gerade, denn die Spiele müssen dafür quasi jeden Pixel einzeln setzen.

Doch wie so häufig im Internet ist auch um dieses Nischenthema eine rege Community entstanden, die für Abhilfe sorgt. Der Youtube-Kanal Connect Gaming beispielsweise zeigt in mehreren Videos, wie die Nutzer in ACNH Kleidungsstücke von Gucci, Louis Vuitton, aber auch von der japanischen Streetwear-Marke Bape nachstellen können.

7.300 Reddit-User tauschen sich über virtuelle Streetwear aus

Wem dazu die Geduld fehlt, der/die kann bereits von anderen Nutzern angelegte „Custom Designs“ für sich nutzen. Über Zahlen- oder QR-Codes können die Spieler jeweils die Designs anderer Spieler auf ihre Figuren übertragen.

Offenbar findet der Look von ACNH, der nahe an der Niedlichkeits-Ästhetik der japanischen „Kawaii“-Kultur liegt, vor allen Dingen die Popkultur-affine Streetwearszene Anklang. In der Social Community Reddit tauschen sich im Subreddit (Unterforum) ACNHStreetwear bereits mehr als 7.300 Mitglieder über eigene bzw. nachgestellte Designs von beliebten Streetwear-Kleidungsstücken aus.

„Animal Crossing Influencer“ mit fünfstelligen Follower-Zahlen

Innerhalb kurzer Zeit ist darüber hinaus eine kleine Subkultur an „Animal Crossing Influencern“ mit Eigenreichweiten entstanden: David Rhee aus Kalifornien beispielsweise ist aktives Mitglied des ACNH-Streetwear-Subreddits, verzeichnet auf Twitter rund 2.000 Follower und ist bereits vom US-Lifestyle-Medium Complex zum Thema interviewt worden.

Die wichtigste Plattform der Animal Crossing Influencer ist natürlich Instagram: „Animal Crossing Fashion Archive“ (betrieben von der philippinische Modefotografin Kara Chung, die anfangs einfach die Outfits ihrer Freunde dokumentieren wollte) verzeichnet 35.400 Follower, „Nook Street Market“ von drei New Yorker Animal-Crossing-Spielerinnen verzeichnet 18.800 Follower und „Crossing the runway“ 9.500 Follower.

Eine Plattform zum gesehen und gesehen werden?

„Animal Crossing ist der neue Rote Teppich“, tweetete Lawrence Schlossman, Marketingchef des Streetwear-Marktplatzes Grailed, bereits im März. Der Vorteil für viele: In der virtuellen Welt von ACNH können die Nutzer auch „Grails“ (wie Streetwear-Fanatiker ihre begehrtesten Stücke nennen) zur Schau tragen, die sie in echt gar nicht besitzen – ob aus finanziellen Gründen, oder weil die Stücke ausverkauft sind.

Der größte Teil der virtuellen Mode in Animal Crossing beruht damit auf „User Generated Content“. Dass Marken aktiv in Animal Crossing werben, ist zwar von Nintendo offiziell nicht vorgesehen. Doch relativ schnell haben kleinere Modemacher und Streetwear-Marken die Chance ergriffen und auf die Reichweite von ACNH aufgesetzt.

30 Prozent mehr Verkäufe wegen Animal Crossing?

Julian Consuegra beispielsweise erstellte digitale Versionen von Kleidungsstücken des von ihm gegründeten Streetwear Labels Stray Rats und teilte die Codes dazu über Instagram. Viele Fans der Marke hätten danach gefragt, so Consuegra gegenüber Business of Fashion (Paywall). Sie hätten über das Spiel aber auch Menschen erreicht, die die Marke bisher noch nicht gekannt hätten.

Auch die retro-futuristische Streetwear-Marke Happy99 soll laut Business of Fashion eine eigene Kollektion in ACNH herausgebracht haben; Mitgründerin Nathalie Nguyen habe diese dann über Social Media geteilt. Cogründer Dominic Lopez erklärte gegenüber BOF, dass danach die Verkäufe um 30 Prozent gestiegen seien. „Ich glaube, es besteht ein enger Zusammenhang zwischen einem Hoodie besitzen und dann später zu entscheiden, diesen auch wirklich zu kaufen, damit man zum Avatar passt“, so Lopez.

Net-A-Porter verkauft virtuelle Designs über Tmall

Anfang April stellte die US-Marke 100 Thieves ihren Fans ihre gesamten bisherigen Kollektionen in ACNH zur Verfügung. 100 Thieves ist als E-Sports-Team gestartet und wird jetzt zur Lifestyle-Marke ausgebaut. Zu den Anteilseignern gehören Dan Gilbert (Investor u.a. Inhaber des US-Basketball-Teams Cleveland Cavaliers), Rapper Drake und Musikmanager Scooter Braun (u.a. Entdecker von Justin Bieber).

Der französischstämmige Luxusmoden-Shop Net-A-Porter hat laut Jing Daily von chinesischen Designern für ACNH virtuelle Versionen von Stücken aus ihrer Frühjahrs-/Sommerkollektion anfertigen lassen und diese über den Marktplatz Tmall verkauft (hier einige Screenshots der Stücke). Wenige Tage später ist ACNH jedoch in China offenbar von der Regierung verboten worden, weil Nutzer im Spiel gegen die chinesische Regierungspolitik protestiert haben sollen.

Hochkultur im virtuellen Wohnzimmer

Zuletzt hat mit dem kalifornischen Getty Museum erstmals ein Unternehmen, das nicht aus der Modebranche kommt, ACNH für Marketingzwecke genutzt. Über ein Tool können die Nutzer Kunstwerke aus der Getty-Kollektion in digitaler Version herunterladen und damit ihr Heim in der Animal-Crossing-Welt „dekorieren“. Dass dieses Angebot durchaus angenommen wird, belegt das Ergebnis der Suche nach dem Aktions-Hashtag bei Twitter.

Andere Marken sind augenscheinlich bisher noch nicht bei ACNH aktiv, obwohl das Spiel ein durchaus passendes Umfeld beispielsweise für Möbelmarken und -hersteller sein könnte. Möglicherweise scheuen sich die Unternehmen davor, in Guerilla-Manier auf der Plattform aktiv zu werden und damit gegen Nintendos Nutzungsbedingungen zu verstoßen.

Fortnite weist den Weg

Dass Animal Crossing durchaus das Potenzial zur Plattform hat, hat zuletzt noch einmal Gary Whitta bewiesen: Der Drehbuchautor (u.a. Star Wars Rogue One) hat innerhalb von ACNH eine Art „Late Night Show“ gelauncht, die über Twitch gestreamt wird.

Mega-Game Fortnite hat zuletzt übrigens den waffenfreien „Partymode“ eingeführt, der einige Tage später mit einem Konzert des DJs Diplo Premiere feierte. Erst wenige Tage davor hatte Rap-Superstar Travis Scott mehrere Konzerte innerhalb von Fortnite gegen, bei denen laut Epic Games insgesamt 27,7 Millionen Nutzer zugeschaut haben – in der Spitze 12,5 Millionen Zuschauer gleichzeitig.

Sehen wir irgendwann einmal Konzerte in Animal Crossing?

Von solchen Reichweiten dürfte Animal Crossing weit entfernt sein – und vielleicht ja auch bleiben. Zudem kann man sich eine schweißtreibende, Aggressions- und Testosteron-geladene Show wie von Travis Scott nur schwerlich innerhalb der heilen Kuschelwelt von Animal Crossing vorstellen. Zu Künstlerinnen wie Ariana Grande, Doja Cat oder möglicherweise auch Lady Gaga könnte allerdings Animal Crossing deutlich besser passen als Fortnite.

 

FashionGamingNintendo
Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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