„Voller Schlupflöcher“: Die EU steht vor einer Einigung mit Amazon, aber was ist die wert?

Amazon will sich Selbstverpflichtungen auflegen, aber Interessenvertreter haben Zweifel an deren Wirksamkeit

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(Foto: Vera Jetana, Unsplash)

Gleichberechtigung zwischen Händler*innen auf Amazons Marktplatz und Amazon selbst als Verkäufer: Darauf zielt ein Vergleich ab, den die Europäische Kommission mit dem US-Konzern anstrebt – und der wohl noch vor dem Jahreswechsel über die Bühne gehen soll. Amazon hat aufsehenerregende Änderungen versprochen, wie etwa die Einführung einer so genannten zweiten Buybox. Doch Branchenexperten glauben, dass Amazons sich selbst auferlegte Regeln zu viele Schlupflöcher bereithalten.

„Wenn das so wie von Amazon vorgeschlagen umgesetzt wird, haben wir eine Chance vertan“, sagt Oliver Prothmann, Präsident des Bundesverbands Online-Handel (BVOH). Der Verbandschef bezieht sich auf ein Papier, dass Amazon vor einigen Monaten gegenüber der Europäischen Kommission vorgelegt hatte. Das könnte das Anfang vom Ende eines Verfahrens sein, das die EU bereits vor mehr als drei Jahren gegenüber Amazon eingeleitet hat. Dabei geht es es um mögliche wettbewerbswidrige Verhaltensweisen des E-Commerce-Giganten. Kern des Vorwurfs: Amazon mißbraucht als Händler auf der eigenen Plattform seinen Vorteil gegenüber Dritthändler*innen.

Keine Auswertung von Marktplatz-Daten durch Amazon Retail mehr?

Im Sommer dieses Jahres hat Amazon nun besagtes Papier mit Vorschlägen zu möglichen Änderungen vorgelegt, zu denen sich Amazon für die Dauer von fünf Jahren selbst verpflichten will – wohl, um damit einer stärkeren Regulierung und potenziellen Bußgeldern entgegenzuarbeiten. Eine der zentralen, vorgeschlagenen Selbstverpflichtungen: Amazon Retail (also Amazons eigenes Handelsgeschäft) und Angestellte dieses Unternehmenszweiges werden künftig nicht auf nicht-öffentliche Daten von Marktplatzhändler*innen zugreifen. Dies soll zudem dauerhaft intern überwacht werden.

Das Wall Street Journal im Jahr 2020 hatte auf Basis von internen Dokumenten und Gesprächen mit Ex-Mitarbeiter*innen berichtet, dass Amazon-Mitarbeiter*innen auf Daten von Marktplatzhändler*innen zugegriffen hätten, um dann Konkurrenzprodukte zu den sich gut verkaufenden Artikeln zu entwickeln. Amazon-Gründer Jeff Bezos hatte kurz danach in einer Anhörung vor dem US-Kongress einräumen müssen, dass es zwar eine unternehmensinterne Regel gebe, die ein solches Vorgehen untersage, er aber nicht garantieren könne, dass gegen diese nicht verstoßen worden sei.

Das US-Unternehmen Peak Design erhebt in diesem Viralvideo gegenüber Amazon den Vorwurf, dass der E-Commerce-Gigant die von Peak Design entwickelte Umhängetasche quasi Eins-zu-eins kopiert und unter dem Label „Amazon Basics“ verkauft habe 

Wer die Buybox gewinnt, gewinnt das Amazon-Game

Ein weiteres Versprechen in dem von Amazon vorgelegten Vorschlag: Das Unternehmen werde ein „second displayed offer“ einführen, also eine zweite so genannte Buybox. Die Buybox ist das Einkaufsfeld auf den Produkt-Detail-Seiten von Amazon. Wer als Händler mit seinen Artikeln hier angezeigt wird, der kann im großen Stil Bestellungen über Amazon generieren. Wer die Buybox nicht „gewinnt“, dürfte demgegenüber kaum etwas auf Amazon verkaufen können.  Denn dann nur wenige Kund*innen wählen gezielt alternative Angebote aus. „Die Buybox spielt die wesentliche Rolle auf Amazon“, sagt BVOH-Präsident Prothmann.

Immer wieder klagen Händler*innen, dass Amazon in diesem Zusammenhang nicht fair spiele. Zum einen, um Preisdruck auszuüben, etwa weil Händler*innen die Buybox „verlieren“, wenn sie ihr Produkt an anderer Stelle im Netz günstiger anbieten. Zum anderen, um das eigene Handelsgeschäft zu bevorteilen: So erhalte Amazon immer öfter die Buybox, auch wenn Marktplatzhändler*innen das gleiche, von Amazon verkaufte Produkt günstiger anböten und genauso schnell lieferten, wundert sich beispielsweise die Schmuckhändlerin Lena Kreuzkamp in einer Dokumentation der ARD über Amazons Praktiken.

Verfügt Amazon über ein Monopol im Online-Handel? Inwiefern mißbraucht das Unternehmen seine Marktmacht? Dieser Frage geht diese Dokumentation der ARD nach.

Wer klickt eine zweite Buybox mit negativer Headline an?

Künftig will Amazon nun, so der Vorschlag des Konzerns, auf den Produktseiten immer eine zweite Buybox anzeigen, unabhängig davon, ob die erste Buybox von Amazon oder einem anderen Seller belegt ist. Eine Skizze in dem von Amazon vorgelegten PDF zeigt, in welcher Form diese Einbindung geschehen soll: Unter der Überschrift „Willing to wait?“ („Bereit zu warten?“) wird den Kund*innen das Produkt zu einem möglicherweise leicht günstigeren Preis, aber dafür mit längerer Lieferzeit angeboten. Dabei müssten die Verbraucher*innen (wenn sie sich durch die Frage „Bereit zu warten?“ nicht abschrecken lassen) die zweite Buybox erst durch einen Klick „aktivieren“ und könnten erst dann diesen Artikel in ihren Warenkorb legen bzw. gleich bestellen. „Wir wissen alle, dass jeder zusätzliche Klick die Conversion killt“, sagt Oliver Prothmann. „Also mag das auf den ersten Blick toll aussehen, aber auf den zweiten Blick erkennt man: Das Problem ist damit nicht gelöst.“

Skizze von Amazon zur zweiten Buybox

Eine zweite Buybox, die sich auf Klick öffnet – wenn denn die Kundin oder der Kunde „bereit ist, zu warten“ (Quelle)

Offenbar testet Amazon das Feature bereits seit einiger Zeit: Über Google ist OMR auf dem US- und dem deutschen Marktplatz von Amazon auf Angebote gestoßen, bei denen zeitweise zweite Buyboxen eingebunden waren, unter Überschriften wie „Bereit zu warten?“ und „Schnellere Lieferung“. Ist die Funktion möglicherweise gar nicht neu? „‚Bereit zu warten‘ scheint die Kopie eines Features zu sein, das auf dem amerikanischen Amazon-Marktplatz schon 2019 und 2020 mal aufgetaucht ist und in Seller-Foren diskutiert wurde“, sagt Kathrin Schulz von der Hamburger Agentur Remazing, die Firmen wie Beiersdorf, Henkel und Under Armour bei ihren Aktivitäten auf Amazon unterstützt. „Wenn Amazon das also tatsächlich in Europa als neue Idee für die ‚zweite Buybox‘ verkauft, wäre das eigentlich ein bisschen geschummelt.“

Ein Test einer zweiten Buybox auf Amazon: Das Video zeigt, dass sich das zweite Angebot erst auf Klick öffnet

„Amazon ist auf der eigenen Plattform übermächtig“

Auf Anfrage wollte Amazon weder bestätigen, dass man eine zweite Buybox teste, noch konkrete Fragen beantworten. Eine Amazon-Sprecherin erklärte lediglich, dass man konstruktiv mit der EU-Kommission zusammenarbeite und Lösungen für Unternehmen, die über Amazon verkaufen, anbiete – auch wenn der Konzern sich und einige andere US-Konzerne durch den Digital Markets Act auf unfaire Weise ins Visier genommen sehe. Mit dem Digital Markets Act hat die EU zuletzt ein Regelwerk beschlossen, das die Marktmacht der großen Tech-Konzerne beschränken soll.

„Das Problem ist einfach, dass Amazon als Händler auf der eigenen Plattform übermächtig ist. Uns wäre schon geholfen, wenn die Marktplatzhändler*innen mit Amazon 100-prozentig gleichgestellt wären“, sagt Oliver Prothmann. „Wenn die Produkte von Amazon in ihrer Performance genauso getrackt und bewertet werden würden, dann bräuchten wir auch keine weitere Buybox“, so der BVOH-Präsident.

„Schwach, vage und voller Schlupflöcher“

Der E-Commerce-Verband hatte auf Bitte der EU-Kommission eine Bewertung des Amazon-Vorschlags vorgenommen und diese auch veröffentlicht. Dabei sieht Prothmann Amazons Vorschläge nicht nur kritisch. „Im Großen und Ganzen war das Papier schon nicht schlecht. Aber sie tun damit nur, was sie unserer Meinung nach sowieso tun müssten.“

Auch die Nicht-Regierungs-Organisation Balanced Economy hat sich geäußert. Ihr Fazit: Die Vorschläge seien der Versuch Amazons, wirksame Maßnahmen gegen die missbräuchlichen Aktivitäten und marktbeherrschende Stellung des Unternehmens zu verhindern und zu verzögern. Amazons schiere Größe, die Macht des Unternehmens über Verkäufer sowie seine Kontrolle über ein ganzes Ökosystem zusammenhängender Dienste führten zu grundlegenden Interessenkonflikten, glaubt die Organisation. Amazons Vorschläge seien „schwach, vage und voller Schlupflöcher und lassen zu viel Raum für Umgehung und Missbrauch durch Amazon“, so Balanced Economy.

Einigung noch in diesem Jahr?

Dass ein Tech-Konzern die rechtlichen Rahmenbedingungen, die ihm gesteckt werden, eher „kreativ“ auslegt, wäre kein neuer Vorgang. Suchmaschinen-Gigant Google hat 2018 nach Erhebung eines Rekord-Bußgelds von 2,4 Milliarden Euro durch die EU neue Regelungen rund um den Preisvergleichsdienst Google Shopping eingeführt. Ziel war es eigentlich, dass vergleichbare Preisvergleichsdienste wie beispielsweise Idealo in Deutschland gleichberechtigt in Googles Shopping-Ergebnissen auftauchen. Doch durch eine Art Kickback (eine Rückvergütung) brachte der Tech-Konzern vielmehr Marketing-Agenturen dazu, eigene Alibi-Preisvergleichdienste einzurichten. Die Interessensvereinigung Fairsearch, in der sich einige Preisvergleich-Anbieter zusammengeschlossen haben, sieht darin einen Verstoß gegen die Entscheidung der EU.

Mit Amazon soll die EU kurz vor dem Abschluss eines finalen Vergleichs stehen; dieser werde vermutlich bis Ende des Jahres abgeschlossen, berichteten sowohl Bloomberg als auch Reuters vor Kurzem. „Die Untersuchungen der Kommission sind noch nicht abgeschlossen. Wir prüfen derzeit alle Kommentare der Beteiligten zu den vorgeschlagenen Verpflichtungen. Einen weiteren Kommentar dazu geben wir nicht ab“, so eine Kommissionssprecherin auf Anfrage von OMR.

Weitere Kartelluntersuchungen auf nationaler Ebene

Auch BVOH-Präsident Oliver Prothmann rechnet damit, dass noch bis zum Ende des Jahres eine Einigung erzielt wird. Nach seinen Informationen hat die Kommissionen alle Einwände der beteiligten Stakeholder an Amazon weitergeleitet. Unabhängig davon, ob Amazon noch einmal nachbessern muss: In Zeiten, in denen Amazon in den USA, Deutschland und Großbritannien zunehmend im Visier der Wettbewerbshüter steht, hätte der Konzern durch einen Vergleich mit der EU zumindest einen Brandherd vorerst gelöscht. „Dann wird die EU Amazon erst einmal in Ruhe lassen“, glaubt auch Oliver Prothmann.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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