Dieses Tool macht die Preiskämpfe hinter den Kulissen von Amazon sichtbar

Wie Händler mit algorithmischem Pricing die Buy Box gewinnen wollen

Buy Box
(Animation: Nicola Gastaldi, Gasta.org)

Harter Konkurrenzkampf unter den Händlern, mehrere Preisänderungen an einem Tag und Preisschwankungen von mehreren Hundert Euro innerhalb von wenigen Wochen: Amazons Marktplatz ähnelt durch den immer stärkeren Wettbewerb immer mehr der Börse – inklusive Tageshandel, automatisiertem Pricing und plötzlichen „Kurseinbrüchen“. OMR zeigt, welche kuriosen Blüten die neue Handelswelt treibt, was diese Entwicklung mit dem Marketing zu tun hat und wie auch Außenstehende in dieser Situation mehr Transparenz gewinnen können. 300 Euro Neupreis am 10. August des vergangenen Jahres, 1.900 Euro Neupreis am 8. Oktober: Die Nikon D610 ist sicherlich ein Extrembeispiel für die Preisschwankungen bei Amazon. Alleine in den 72 Stunden rund um den Valentinstag 2015 soll der Preis der Kamera zwischen 700 und 1.686 Euro geschwankt haben.

Preisunterschiede von 300 Prozent

Auch wenn die Spanne in diesem Fall besonders groß ist: Extreme Preisunterschiede sind bei Amazon offenbar keine Seltenheit. So wird eine Druckerpatrone für einen Büro-Drucker von Epson auf dem Marktplatz mal für rund 160 Euro, mal für 590 Euro angeboten. Ein Springseil wird mal für rund 100, mal für 480 Euro gehandelt.

Die Schwankungen haben natürlich auch mit dem internen Wettbewerb der Händler untereinander zu tun: Häufig senken die Händler den Preis, um geringfügig günstiger zu sein als der Mitbewerber und so attraktiver für den Kunden. Manche erhöhen ihre Preise, um Mitbewerber zu locken, es ihnen gleich zu tun.

Die „Buy Box“ gewinnen, den Sale machen

Pricing ist aber auch ein Teil des Marketings der Händler. Denn der Preis ist für die Händler einer der wichtigsten Hebel bei dem Versuch, die „‚Buy Box’ zu gewinnen“. Wem dies gelingt, dessen Artikel legt der Nutzer in den Warenkorb, wenn er auf der Artikelseite „In den Einkaufswagen“ klickt. Für die auf Amazon aktiven Händler ist der Gewinn der Buy Box damit vergleichbar, Platz 1 in Googles Suchmaschine zu belegen – nur dass bei Amazon die folgenden Plätze noch weniger angeklickt werden dürften als die Folge-Ränge bei Google.

Für die Händler geht es dabei um viel Geld: Amazon ist die wichtigste Suchmaschine für den Online-Einkauf geworden. Experten schätzen, dass externe Händler über den Marktplatz des E-Commerce-Giganten im Jahr 2016 Waren im Wert von 200 bis 228 Milliarden US-Dollar verkauft haben.

Repricing bei 90 Prozent des US-Inventars?

Kein Wunder, dass die Händler die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel so gut es geht ausreizen: 2,98 Millionen Preisänderungen hat der Dienstleister Metoda alleine im vergangenen Februar auf Amazon.de registriert. Teilweise ändern Händler ihre Preise offenbar sogar mehrfach pro Tag. Christopher Mims, Journalist beim Wall Street Journal, schildert in einem aktuellen lesenswerten Artikel, wie er auf Amazon Marshmellows kaufen wollte und diese nicht nur doppelt so teuer waren wie im Laden, sondern auch ähnliche Preisschwankungen aufwiesen wie ein Penny Stock.

Bei solchen Volumina und solcher Frequenz ist es wenig erstaunlich, dass viele Händler diese Änderungen nicht mehr händisch durchführen, sondern dies von Software auf Basis von Algorithmen erledigen lassen. Drei Computerwissenschaftler von der Northeast University Boston haben im Jahr 2016 die Preisentwicklung von 1.500 der meistverkauften Artikel auf der US-Plattform von Amazon analysiert. Aufgrund ihrer Beobachtungen schätzen die Studienautoren, dass 2,4 Prozent der untersuchten Amazon.com-Händler, deren Sortiment 60 bis 70 Prozent des Inventars des Marktplatzes ausmachen soll, so genannte Repricer nutzen: Tools, die den Preis eines Artikels bei bestimmten Ereignissen und nach vorgegebenen Regeln ändern. Gegenüber Fusion schätzte Studien-Mitautor Christo Wilson sogar, dass der Anteil der nutzenden Händler eher bei zehn Prozent und der Anteil des betroffenen Inventars bei 90 Prozent liegt — Tendenz steigend.

Amazon bietet eigenen Repricer an

In Deutschland dürfte die Nutzung von Repricern nach rein subjektivem Eindruck noch nicht gleichermaßen verbreitet sein wie in den USA. Wer nach „amazon repricer“ bei Google sucht, dem werden aber auch hierzulande Adwords-Anzeigen von entsprechenden Anbietern ausgespielt, darunter solche vom deutschen Unternehmen Sellerlogic.

Amazon selbst ist der Nutzung von Repricern gegenüber positiv eingestellt. Nicht nur, dass der Konzern selbst „Dynamic Pricing“ nutzt; gegenüber Fusion erklärte eine Unternehmenssprecherin, dass aus Sicht von Amazon der stärkere Wettbewerb in besseren Preisen für die Kunden resultiert. In den USA bietet der Konzern mittlerweile sogar selbst ein eigenes Repricing-Tool (derzeit allerdings offenbar noch im Beta-Test) an.

Algorithmen schaukeln Buchpreis auf 23 Millionen US-Dollar hoch

Price-Tracking-Tools wie Keepa und Camelcamelcamel können Händlern und Kunden dabei helfen, die Preisentwicklung bei Amazon für sich transparent zu machen. Nutzt man die Browser-Erweiterung von Keepa, zeigt einem das Tool sogar direkt beim Besuch auf Amazon die Preis-Historie eines Artikels an. Außerdem können sich Nutzer informieren lassen, wenn der Preis eines bestimmten Artikels einen vorgegebenen Wert erreicht hat. Die Tools lesen die Preise über eine Schnittstelle von Amazon aus. Experten zufolge sind die Anzahl der Preisabfragen für externe Entwickler jedoch begrenzt, so dass die Tools möglicherweise nicht alle Preisänderungen erfassen können.

Teilweise treibt die automatisierte Preissetzung kuriose Blüten: So hat der Biologe Michael Eisen im Jahr 2011 beobachtet, wie ein vergriffenes Buch gebraucht zunächst für 1,7 Millionen US-Dollar auf Amazon.com angeboten wurde, und der Preis in den folgenden Tagen immer weiter auf bis 23 Millionen US-Dollar stieg. Der Grund: Offenbar haben die Software-Tools von zwei Händlern ihre Preise gegenseitig in die Höhe getrieben. Der prozentuale Abstand zwischen beiden Preisen blieb immer gleich.

Repricer senkt Preise fälschlicherweise auf 1 Penny

Möglicherweise hat derjenige der beiden Händler, der den Preis höher angesetzt hatte, das jeweilige Buch gar nicht besessen. Denn dem Hörensagen nach existieren auf Amazon auch so genannte „Phantom Lister“: Marktplatz-Händler, die das jeweilige Produkt gar nicht selbst auf Lager haben, aber – etwa aufgrund der Vielzahl von guten Bewertungen – darauf spekulieren, die „Buy Box“ zu gewinnen. Kauft ein Amazon-Nutzer schließlich bei ihnen den jeweiligen Artikel, bestellen sie diesen einfach beim Mitbewerber, lassen ihn direkt an ihren Kunden ausliefern und sichern sich so eine kleine Marge.

Dass Repricing für die jeweiligen Händler nicht risikofrei ist, zeigt ein Beispiel aus England: An einem Freitagabend im Dezember 2014 sind auf der britischen Plattform Amazon mehreren übereinstimmenden Medienberichten zufolge für eine Stunde viele Artikel für einen britischen Penny verkauft worden. Ursache war ein Fehler in der Software RepricerExpress. Weil viele der betroffenen Händler offenbar Fulfillment bei Amazon nutzten (dabei lagert und verschickt Amazon die Artikel im Händlerauftrag), Amazon an dem Freitagabend nur eingeschränkt erreichbar war und somit der Versand nicht direkt gestoppt werden konnte, soll damals ein Schaden von mehreren 100.000 Pfund zusammengekommen sein.

Update, 29. März, 9 Uhr: In einer vorherigen Version dieses Artikels hieß es, das Price-Tracking-Tool Keepa werde von Amazon selbst angeboten. Dies ist nicht korrekt. Wir haben den Artikel entsprechend geändert.

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Roland Eisenbrand
Autor*In
Roland Eisenbrand

Roland ist seit mehr als zehn Jahren als Journalist in der Digitalbranche aktiv. Seit 2014 verantwortet er als Head of Content (und zweiter Mitarbeiter) alle inhaltlichen Komponenten von OMR, darunter vor allem den OMR Blog und redaktionelle Arbeit rund um das OMR Festival.

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