Fast eine Milliarde Page Impressions pro Monat und trotzdem pleite – Der Aufstieg und Fall von 4chan.org

Torben Lux14.10.2016

Warum es die Seite nie geschafft hat, den gigantischen Traffic zu monetarisieren

4chan.org Marketing
4chan

Es wirkt wie eine Verzweiflungstat: 4chan-Besitzer Hiroyuki Nishimura erklärte der Community vor Kurzem in einem inzwischen wieder gelöschten Post, dass 4chan ohne grundlegende Änderungen keine Zukunft habe. Er könne die Infrastrukturkosten unter anderem für Server nicht mehr bezahlen. Der Traffic-Gigant steht also kurz vor dem Untergang, weil er seine Millionen-Reichweite nicht monetarisieren kann. Wir beleuchten die Gründe und erzählen die Geschichte gescheiterter Marketing-Versuche.

Das Imageboard 4chan.org ist berühmt-berüchtigt – unter anderem als Geburtsstätte für unzählige Internet-Memes, virale Hits und das Internet-Kollektiv Anonymous. Aber auch für rassistische und gewalttätige Inhalte sowie geleakte Nacktbilder von Promis. Zwar ist die Seite, die laut Betreiber kurz vor der Pleite steht, dadurch alles andere als ein Premium-Umfeld für Advertiser. Trotzdem stellt sich aber die Frage, warum die nach eigenen Angaben über 700 Millionen Page Impressions pro Monat nicht gewinnbringenden vermarktet werden können.

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Prägend für die Internet-Kultur

Es gibt nur sehr wenige Webseiten, die die Internet-Kultur ähnlich stark geprägt haben wie 4chan.org. Das 2003 gegründete Image-Board gilt als Ursprung einer nahezu endlosen Liste viraler Memes und Trends: Lolcats (Katzenbilder mit grammatikalisch fehlerhaften, lustigen Sätzen), Pedobear (ein pädophiler Bär), verschiedene Rage-Faces (siehe Titelbild), Rickrolling (Internetnutzer werden unfreiwillig auf das Video „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley geleitet) und viele mehr.

Auch das lose Internet-Kollektiv Anonymous, das immer wieder mit Protestaktionen und Hacks gegen beispielsweise Scientology, Regierungen oder Organisationen vorgeht, ist aus 4chan heraus entstanden. Eigenen Angaben zufolge erreicht die Seite bei 27,7 Millionen Unique Usern über 700 Millionen Page Impressions pro Monat. Zum Vergleich: Bild.de kam laut IVW im September auf rund 540 Millionen PIs, Spiegel Online auf etwa 375 Millionen.

Lustig und pervers zugleich – 4chan.org ist berühmt und berüchtigt

Die enorme Reichweite entsteht allerdings nicht nur durch lustigen Content. 4chan-Nutzer müssen sich, um Beiträge erstellen zu können, weder anmelden noch einen Account erstellen; alle treten als „Anonymous“ auf. Die Folge: Vor allem unter /b/, „4chan’s random image board“, finden sich immer wieder sexistische, rassistische und gewalttätige Beiträge und Bilder. Regeln gibt es zwar abhängig vom Thema des jeweiligen Boards einige, besonders für /b/ gilt aber nahezu Narrenfreiheit. Beleidigungen, Rassismus und Pornographie sind erlaubt. Alles, was gegen US-Gesetze verstößt, ist verboten. Jeder Beitrag wird nach einer gewissen Zeit gelöscht.

Aus einer anderen Zeit: Die Startseite von 4chan.org.

Als Ergebnis der absoluten Freiheit und Anonymität auf 4chan.org kommt es immer wieder zu bedenklichen bis gefährlichen Situationen. Eine Youtuberin, die auf ihrem Kanal Bücher rezensierte, wurde von der 4chan-Community mit Kommentaren so belästigt, dass sie ihren Channel gelöscht hat. Ende 2013 kündigte ein 20-Jähriger an, seinen Selbstmord live für die Community streamen zu wollen. Hunderte schauten zu und feierten ihn als Helden, bis Rettungskräfte eingriffen. Auch am Hashtag #Gamergate waren 4chan-User ab Ende 2014 maßgeblich beteiligt – zwei Spieleentwicklerinnen erhielten im Zuge dessen so viele Morddrohungen, dass sie untertauchen mussten. Kurz zuvor ging 4chan.org noch im Zusammenhang mit „The Fappening“ durch die Medien – Videos und Nacktfotos von zahlreichen Prominenten wurden gehackt und zuerst auf der Seite veröffentlicht.

Trend-Schmiede, Politischer Einfluss und trotzdem kein Geschäftsmodell

Zahlreiche weitere Beispiele zeigen, wie mächtig die 4chan-Community sein kann. So gelang es 2008, durch das gezielte Erhöhen von Suchanfragen ein Hakenkreuz auf den ersten Platz von Googles Trendthemen zu hieven. Aktuell versuchen offenbar zumindest Teile von 4chan.org, Donald Trump beim Plan, US-Präsident zu werden, zu unterstützen.

Trotz dieses unbestreitbaren Einflusses auf die Netzkultur sowie gesellschaftliche Themen und der riesigen Reichweite von fast einer Milliarde Page Impressions pro Monat, hat es 4chan.org aber nie geschafft, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, um zumindest aus der Verlustzone zu kommen. Der aktuelle Besitzer der Seite, Hiroyuki Nishimura, hatte sie erst letztes Jahr vom Gründer Christopher „moot“ Poole für eine unbekannte Summe gekauft. In einem inzwischen wieder gelöschten Post musste er jetzt zugeben, dass 4chan ohne grundlegende Änderungen keine Zukunft habe. Er könne die Infrastrukturkosten unter anderem für Server nicht mehr bezahlen.

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Demnach gebe es aktuell drei Optionen: die Server-Kosten halbieren, in dem die maximale Größe von hochgeladenen Bildern reduziert wird und einige Boards geschlossen werden, „malicious ads“ einsetzen oder viel mehr Premium-Nutzer mit neuen Features generieren.

Die verschiedenen Finanzierungs-Säulen von 4chan.org

Die Premium-Funktion, 4chan-Pass genannt, wurde Ende 2012 eingeführt und beinhaltet bisher nur wenige kleine Features. Für 20 US-Dollar pro Jahr müssen Nutzer vor dem Posten eines Beitrages kein Captcha mehr eingeben, der Zeitraum, der zwischen zwei Posts liegen muss, wird geringer. Wie viele Pässe pro Jahr verkauft werden oder insgesamt bisher wurden, ist nicht bekannt.

Auch mit der klassischen Reichweitenvermarktung durch Werbebanner versucht 4chan.org seit Jahren, laufende Kosten zu decken. Aktuell stehen drei verschiedene Formate zur Verfügung. Die Zielgruppe, die Advertiser auf der Seite erreichen können, ist laut Betreiber 18 bis 34 Jahre alt, zu 70 Prozent männlich und hat in der Mehrheit ein College besucht oder ist noch eingeschrieben. Als Interessen werden japanische Kultur, Animes, Mangas, Videospiele, Comics, Technik, Musik und Filme genannt. 47 Prozent der User kommen den Angaben zufolge aus den Vereinigten Staaten, acht Prozent aus Großbritannien, sechs Prozent aus Kanada und vier Prozent aus Deutschland. Weitere Targeting-Möglichkeiten seien Geo-Targeting, Frequency Capping und das Beschränken auf bestimmte Themen-Boards. Zeitweise war für die Vermarktung der Ad Exchange Adbrite verantwortlich, der 2013 den Betrieb eingestellt hat. Heute wird auf 4chan.org betont, dass man nicht mit Ad Networks zusammenarbeite.

Die Seite zum Self-Booking-Tool von 4chan.org ist inzwischen nicht mehr erreichbar.

Bis vor wenigen Tagen scheint außerdem die Möglichkeit bestanden zu haben, in einem Self-Booking-Tool weitere Formate zu buchen. Die angegebenen Preise beliefen sich von 0,23 bis 0,25 US-Dollar pro 1.000 Ad-Views. Im Footer wurden Logo und Kontakt von der Real-Time-Advertising-Plattform The Rubicon Project angezeigt. Auf Anfrage von Online Marketing Rockstars schien das Unternehmen von der Einbindung überrascht gewesen zu sein. Einnahmen habe es allerdings keine gegeben. Allem Anschein nach war das noch ein Überbleibsel aus Tagen, als der Anbieter für Self-Service-Technologien Shiny Ads auf 4chan.org eingebunden war. Dieser wurde Ende 2014 von The Rubicon Project für eine unbekannte Summe übernommen. Kurz nach unserer Anfrage war das Self-Booking-Tool nicht mehr erreichbar.

Überdurchschnittlich hohe Adblocker-Quote – Donations als Notlösung

Schon der Gründer Christopher Poole musste seit dem 4chan-Start 2003 immer wieder auf vorrübergehende Spendenkampagnen zurückgreifen, um das Projekt finanzieren zu können. Er hatte die Seite mit 15 Jahren von zu Hause aus nach dem Vorbild der japanischen Seite 2channel gestaltet. Gründer des Vorbilds war Hiroyuki Nishimura, der spätere Käufer von 4chan.org. Während Poole Donations nie als dauerhafte Lösung etablieren wollte, ist Nishimura offenbar anderer Ansicht. Angesichts der aktuellen finanziellen Notlage wurde die Spenden-Funktion vor wenigen Tagen wieder aktiviert – obwohl sie nicht Bestandteil der von Nishimura genannten drei Möglichkeiten zur Rettung von 4chan.org war.

Dem naheliegenden Gedanken, dass die Schwierigkeiten, die Seite mit Werbebannern zu vermarkten, mit der mehr als fragwürdigen Community zu tun haben, widerspricht Nishimura. Das Umfeld sei nicht der ausschlaggebende Grund, er hätte keine Probleme, Advertiser zu finden. Viel mehr sorge eine extrem hohe Adblocker-Quote dafür, dass sich Display Advertising nicht mehr lohnt.

Parallelen zu Reddit und Mode Media

Die Geschichte vom Forum mit Millionen von Usern, das trotz häufig kruder Inhalte irgendwie zur Netzkultur gehört, aber starke Probleme mit der Monetarisierung des User Generated Content hat, erinnert stark an Reddit. Auch Reddit ist immer wieder einer der Ursprünge von fragwürdigen Web-Phänomen und bietet damit nicht das optimale Umfeld für Advertiser. Zuletzt setzte das Unternehmen hinter der Seite auf eine neue Strategie und wollte mit Umwandlung jedes Shop-Links in einen Affiliate-Link relevante Umsätze generieren, ohne die so werbefeindliche Community zu verägern.

Über ein ähnliches Problem – wenn auch aus anderen Gründen – ist vor Kurzem Mode Media gestolpert. Die Burda-Beteiligung, die mal mit einer Milliarde US-Dollar bewertet war, stellte im September überraschend den Betrieb ein. Laut dem Analyse-Service Comscore lag Mode Media mit 137 Millionen Besuchern pro Monat auf Platz 10 der größten Digital-Publisher in den USA. Große Reichweiten lassen sich heute einfach nicht mehr so einfach monetarisieren; erst recht nicht mit Display Advertising. Laut Recode hatte Mode Media bis zuletzt versucht, sein Geschäftsmodell auf Video- und Native-Ads umzustellen – ohne durchschlagenden Erfolg.

Erste Kaufinteressenten

Unterdessen hat bereits eine illustre und absurde Runde an 4chan-Fans Interesse am Kauf der Seite bekundet. So erklärte der „meistgehasste Mann im Internet“, Martin Shkreli, auf Twitter, dass er offen sei, dem „Board of Directors“ beizutreten. Der Pharma-Unternehmer Shkreli hatte den Preis für ein wichtiges AIDS-Medikament um 5.000 Prozent erhöht.

Ein weiterer „Internet-Bösewicht“ kündigte kurz darauf sein Interesse an 4chan an. Der konservative Provokations-Künstler Milo Yiannapoulos, dessen Twitter-Account nach Beschimpfungen in Richtung US-Schauspielerin Leslie Jones permanent suspendiert wurde, will mit Hilfe eines anonymen wohlhabenden Unterstützers 4chan vor dem Untergang bewahren.

Auch der Gründer des Videospiels Minecraft, Markus „Notch“ Persson, soll auf Twitter veröffentlicht haben, dass er an einem Kauf von 4chan.org interessiert sei. Kurz darauf löschte er allerdings alle Tweets zum Thema von seinem Profil. Der vierte im Bunde ist Charles C. Johnson, Journalist und Gründer der Website GotNews.com, dem immer wieder starke rechte und rassistische Tendenzen nachgesagt werden. Wer von den Vieren es mit dem Kaufinteresse wirklich ernst meint und wer nur Aufmerksamkeit sucht, bleibt offen.

Das spielt offenbar aber auch kaum eine Rolle. Wie 4chan-Besitzer Hiroyuki Nishimura kürzlich hat verlauten lassen, habe er nicht vor, die Seite zu verkaufen. Er scheint auf ein Monetarisierungs-Wunder zu hoffen; vielleicht ist das Annehmen von Donations schon eine erste Reaktion auf Zuspruch der Community. Eigentlich auch kaum vorstellbar, dass 4chan-User es ohne Weiteres zulassen, dass ihr geliebtes Forum für Absurditäten, Hass und Memes die Pforten schließt.

Torben Lux
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Torben Lux

Torben ist seit Juni 2014 Redakteur bei OMR. Er schreibt Artikel und Newsletter, plant das Bühnenprogramm des OMR Festivals, arbeitet an der "State of the German Internet"-Keynote, betreut den OMR Podcast und vieles mehr.

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